vonMesut Bayraktar 06.12.2019

Stil-Bruch

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Karl Marx schreibt, dass Leid, wenn es bewusst wird, zur Leidenschaft wird. Erst dann wird man sich gegen das Leid auflehnen, das der Tauschwert, die Ware, das Kapital dem eigenen Körper und Geist zufügt. Die Leidenschaft protestiert gegen das Leid. Sie ist nicht nur ein Klagen. Sie ist revolutionär. Das Ziel jeder Leidenschaft ist, das Leid zu überwinden. In dieser Achse bewegt sich die Literatur des 26-jährigen französischen Schriftstellers Édouard Louis.

In seinem 2018 auf deutsch erschienenen, schmalen Buch geht er der Frage nach: »Wer hat meinen Vater umgebracht«. Und er kommt zu einer Antwort: „Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac. Für deine Leidensgeschichte gibt es Namen.“ Es sind die Namen der herrschenden Klasse, deren Verbündete in jeder Klassengesellschaft, weltweit, ebenso Namen haben, die ohne Wenn und Aber genannt werden müssen und genannt werden können. In klaren und präzisen Sätzen folgt er den Spuren der Ausbeutung, die sich in Gesetzespaketen und Reformen, etwa im Gesundheitssektor, verhüllen. Sein Schluss: „Die anderen, die Welt, die Justiz, alle wollen uns unaufhörlich rächen, ohne sich klar zu sein, dass diese Rache uns nicht hilft, sondern uns zerstört. Sie denken, sie würden uns retten, aber sie zerstören uns.“ Diese Erfahrung kenn ich seit Kindesbeinen. Die Befreiung kann nur das Werk der Ausgebeuteten selbst sein.

Im Vater-Sohn-Gespräch entfaltet sich keine Erzählung. Vielmehr tritt eine Tatsache allmählich hervor, der Klassenkampf von oben nach unten. Aus diesem Büchlein ist die Wut der Gelbwesten zu vernehmen. Es ist kein Roman, keine Erzählung, vielmehr Attacke oder Notwehr, mindestens jedoch eine polemische Selbstverständigung, die die Frische der Konfrontation besitzt.

16,- EUR für 80 Buchseiten bei einem großzügigen Zeilenabstand ist üppig. Inzwischen kann man es jedoch auch für 9,- EUR als Taschenbuch im S.Fischer Verlag erwerben. Jedenfalls lohnt sich der Inhalt, nicht nur um den Ursachen für den Aufruhr in Frankreich nachzuspüren, sondern um eine Sensibilität für das Leben in Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung in Europa zu entwickeln. Der Band von Louis gehört zu solchen, in denen Erfahrung erfahren wird, die statt das Jammern einzustimmen, Selbstbewusstsein herstellt.

 

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