Alle reden von mehr Polizei, hartem Durchgreifen des Rechtsstaates und der Verurteilung von Gewalt. Lokale Zeitungen bis hin zur Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten berichten im Minutentakt über irgendwelche Kriminalfälle in der Umgebung. Dafür haben sie sogar eine „Crimemap“ erstellt, als würde ich hier in Gotham City leben. Das ist einfach lächerlich. Es ist zynisch.
Die Politiker sind ratlos und leiern denselben moralischen Unsinn nach einem Drehbuch, der zeigt, dass sie gar keinen Bezug zur Realität haben, wo die soziale Gewalt herrscht und die bürgerliche Moral sie mit Filzstiften verschönert. Die Krawalle in Stuttgart können nur jene überraschen, die auf der schönen Seite des Lebens stehen, die Kinder der Sonne. Ich will nichts rechtfertigen. Wer meine Sachen liest, weiß, dass ich Literatur mache, um der Gewalt Sprache zu geben, vor allem struktureller und Polizeigewalt. Ich finde Gewalt scheiße, aber ich lebe in ihr.
Das ganze Gerede um die Ereignisse in Stuttgart, das im übrigen sehr wirksam von der Tönnies-Schweinerei oder Göttingen usw. ablenkt, klammert eine Tatsache radikal aus: Die meisten, vor allem die jugendlichen und migrantischen Teile der Randale, werden seit Jahrzehnten wie Dreck behandelt – von Lehrern, von Arbeitgebern, von Beamten beim Arbeitsamt, von Polizisten, von Richtern, von Politikern. Entweder sind sie für die Herrschenden unsichtbar oder sie sind für sie latent Kriminelle, Drogendealer, Gewaltbereite, zumindest qua Existenz ein Dorn im Auge, weil die bürgerliche Gesellschaft keinen Platz für sie vorsieht.
Dass die Bürgerlichen, insbesondere die Intellektuellen, so reagieren, mit Entsetzen gegen die Randalierer ohne ein Wort zum System der Ausgrenzung, verwundert mich nicht. Ihr Hass gegen die Armen, Entwürdigten, Unzufriedenen, die Lohnabhängigen, gegen meine Klasse ist gewaltig. Jahre hinweg spricht man nicht mit den jungen Leuten rund um den Schlossplatz, ihren Sorgen und Nöten, und auch jetzt will kein Arsch was von denen wissen. Die Schaufensterwaren an der Königsstraße zählen mehr als das Leben eines Unterdrückten. Sie werden hingestellt wie eine Horde unzivilisierter Subjekte, die außerhalb der Gesellschaft stünden und das geruhsame, makellose Leben der Schwaben überfallen hätten. Ihr urteilt über Leute, die ihr schon verurteilt hattet.
Eure Dekadenz macht euch arrogant und eure Arroganz macht euch blind, ja, man muss blind sein, um nicht zu erkennen, dass die Warenhausstürmerei mit der Bilderstürmerei zusammenhängt. Black Lives Matter hat weltweit das Verdrängte entzündet, ein Kampf um Anerkennung. Die bürgerliche Gesellschaft hat ein Problem: Das Problem dieser Gesellschaft ist diese Gesellschaft.
Lieber Mesut Bayraktar, inszenieren Sie sich nicht ein bisschen selbst in Ihrem Kommentar?
Sie wollen der Gewalt eine Sprache geben und reden die ganze Zeit undifferenziert von den Herrschenden und den Unterdrückten. Vielleicht gucken Sie sich die Videos mal ganz vorurteilsfrei an. Das sind keine armen Proletarier, die die Schaufenster mit den Nike – Turnschuhen einschmeißen, weil sie von der Glanz- und Glamourwelt ausgeschlossen sind. Im Gegenteil. Mit genau diesen Schuhen treten sie den Polizisten ins Kreuz und gefilmt wir das alles mit einem Apple X-Phone. Aufwachen lieber Autor!
Und auch Ihre Inszenierung als gleichfalls Ausgestoßener wirkt unglaubwürdig. Ihre akademische Karriere sieht ziemlich bildungsbürgerlich aus. Und das Leben in Ihrer Heimatstadt Wuppertal kann ich recht gut beurteilen, weil ich selbst von dort komme. Klar, gibt ein paar dunkle Ecken – ist aber definitiv nicht die Bronx. Vielleicht sollten sie den Topos der Unterdrückten und Herrschenden nicht so instrumentalisieren, um sich selbst gefällig ins rechte Licht zu rücken, in der Erwartung dass die Peergroup tüchtig in die Hände klatscht.