vonMesut Bayraktar 24.06.2020

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

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Alle reden von mehr Polizei, hartem Durchgreifen des Rechtsstaates und der Verurteilung von Gewalt. Lokale Zeitungen bis hin zur Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten berichten im Minutentakt über irgendwelche Kriminalfälle in der Umgebung. Dafür haben sie sogar eine „Crimemap“ erstellt, als würde ich hier in Gotham City leben. Das ist einfach lächerlich. Es ist zynisch.

Die Politiker sind ratlos und leiern denselben moralischen Unsinn nach einem Drehbuch, der zeigt, dass sie gar keinen Bezug zur Realität haben, wo die soziale Gewalt herrscht und die bürgerliche Moral sie mit Filzstiften verschönert. Die Krawalle in Stuttgart können nur jene überraschen, die auf der schönen Seite des Lebens stehen, die Kinder der Sonne. Ich will nichts rechtfertigen. Wer meine Sachen liest, weiß, dass ich Literatur mache, um der Gewalt Sprache zu geben, vor allem struktureller und Polizeigewalt. Ich finde Gewalt scheiße, aber ich lebe in ihr.

Das ganze Gerede um die Ereignisse in Stuttgart, das im übrigen sehr wirksam von der Tönnies-Schweinerei oder Göttingen usw. ablenkt, klammert eine Tatsache radikal aus: Die meisten, vor allem die jugendlichen und migrantischen Teile der Randale, werden seit Jahrzehnten wie Dreck behandelt – von Lehrern, von Arbeitgebern, von Beamten beim Arbeitsamt, von Polizisten, von Richtern, von Politikern. Entweder sind sie für die Herrschenden unsichtbar oder sie sind für sie latent Kriminelle, Drogendealer, Gewaltbereite, zumindest qua Existenz ein Dorn im Auge, weil die bürgerliche Gesellschaft keinen Platz für sie vorsieht.

Dass die Bürgerlichen, insbesondere die Intellektuellen, so reagieren, mit Entsetzen gegen die Randalierer ohne ein Wort zum System der Ausgrenzung, verwundert mich nicht. Ihr Hass gegen die Armen, Entwürdigten, Unzufriedenen, die Lohnabhängigen, gegen meine Klasse ist gewaltig. Jahre hinweg spricht man nicht mit den jungen Leuten rund um den Schlossplatz, ihren Sorgen und Nöten, und auch jetzt will kein Arsch was von denen wissen. Die Schaufensterwaren an der Königsstraße zählen mehr als das Leben eines Unterdrückten. Sie werden hingestellt wie eine Horde unzivilisierter Subjekte, die außerhalb der Gesellschaft stünden und das geruhsame, makellose Leben der Schwaben überfallen hätten. Ihr urteilt über Leute, die ihr schon verurteilt hattet.

Eure Dekadenz macht euch arrogant und eure Arroganz macht euch blind, ja, man muss blind sein, um nicht zu erkennen, dass die Warenhausstürmerei mit der Bilderstürmerei zusammenhängt. Black Lives Matter hat weltweit das Verdrängte entzündet, ein Kampf um Anerkennung. Die bürgerliche Gesellschaft hat ein Problem: Das Problem dieser Gesellschaft ist diese Gesellschaft.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2020/06/24/ich-finde-gewalt-scheisse-aber-ich-lebe-in-ihr/

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kommentare

  • Lieber Mesut Bayraktar, inszenieren Sie sich nicht ein bisschen selbst in Ihrem Kommentar?
    Sie wollen der Gewalt eine Sprache geben und reden die ganze Zeit undifferenziert von den Herrschenden und den Unterdrückten. Vielleicht gucken Sie sich die Videos mal ganz vorurteilsfrei an. Das sind keine armen Proletarier, die die Schaufenster mit den Nike – Turnschuhen einschmeißen, weil sie von der Glanz- und Glamourwelt ausgeschlossen sind. Im Gegenteil. Mit genau diesen Schuhen treten sie den Polizisten ins Kreuz und gefilmt wir das alles mit einem Apple X-Phone. Aufwachen lieber Autor!
    Und auch Ihre Inszenierung als gleichfalls Ausgestoßener wirkt unglaubwürdig. Ihre akademische Karriere sieht ziemlich bildungsbürgerlich aus. Und das Leben in Ihrer Heimatstadt Wuppertal kann ich recht gut beurteilen, weil ich selbst von dort komme. Klar, gibt ein paar dunkle Ecken – ist aber definitiv nicht die Bronx. Vielleicht sollten sie den Topos der Unterdrückten und Herrschenden nicht so instrumentalisieren, um sich selbst gefällig ins rechte Licht zu rücken, in der Erwartung dass die Peergroup tüchtig in die Hände klatscht.

  • Ziemlich genau so habe ich es auch empfunden, als Protest gegen Ausgrenzung. In den Siebzigern sind wir für Selbstbestimmung und für eine offenere Politik auf die Straße gegangen, das ging auch nicht gerade gewaltfrei ab. Ich beobachte seit etwa 20 Jahren, wie sich alle unter zunehmendem Druck geradezu stromlinienförmig anzupassen versuchen und von einem durchökonomisierten Mantra vereinnahmen lassen. Das führt zu massiven inneren Konflikten, kaputten Seelen, dysfunktionalen Psychen und am Ende zur Entmenschlichung. Was soll das schon mit den Kindern machen? Ich wünsche mir, dass die berechtigte Angst und der anschließende Zorn sich einen anderen Weg suchen würde als Gewalt. Nachzudenken und Forderungen zu formulieren macht Widerstand zu einer Kraft, die etwas verändern kann. Gewalt als Dauerantwort kann die zu beanstandenden Verhältnisse nur bestärken, das geht bei aller Berechtigung nach hinten los.

  • Sehr einseitige Stellungnahme. Schuld ist die Gesellschaft. Gewalt gegen diese zwar scheiße, aber letztlich gerechtfertigt.

    Ich empfehle die folgenden beiden Artikel, aus denen ich in Auszügen zitiere:

    1. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus210468271/Fluechtlinge-machen-Abitur-Deutschland-ist-mein-Land.html

    FLÜCHTLINGE MACHEN ABITUR „Deutschland ist kein rassistisches Land. Ich sehe das doch“ Stand: 27.06.2020

    Sie flohen vor Krieg und kamen nach Deutschland. Fünf Jahre später haben sie ihr Abitur am Berliner Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln gemacht. Bester Notendurchschnitt: 1,1. Vier Gespräche über Demokratie und Goethe, deutsche Küche und Billie Eilish.

    2. https://de.wikipedia.org/wiki/Tania_Kambouri

    Tania Kambouri wuchs als Tochter griechischer Eltern im Bochumer Stadtteil Hamme auf und wurde Polizistin.

    Nachdem Kambouri im Dienst wiederholt von Personen mit Migrationshintergrund beschimpft und beleidigt worden war, schrieb sie Ende 2013 einen Leserbrief an die Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei (GdP), um den Artikel einer Berliner Sozialwissenschaftlerin um Erfahrungen aus ihrem eigenen Berufsalltag zu ergänzen. Sie berichtete aus ihren zehn Jahren im Streifendienst, dass sie und ihre Kollegen täglich mit straffälligen Migranten konfrontiert würden, darunter größtenteils Muslime, die der Polizei keinerlei Respekt entgegenbrächten. Die Respektlosigkeit fange schon im Kindesalter an.

  • Was läßt die Menschheitsgeschichte erkennen?

    Pred. 8:9: „Der Mensch [hat] über den Menschen zu seinem Schaden geherrscht.“ (Das trifft selbst auf Regierungen und Herrscher zu, die anfangs hohe Ideale hatten.)

  • der mensch hat in jedem wort recht. die stuttgarter wissen alle seit jahren wie es den ausgegrenzten geht und haben nichts getan. streetwork wurde abgelehnt. die jungen, schon ab 14,. leben zu lange in zukunftsangst und es hat sich über jahre ein hass auf die millionäre und ihre handlanger angestaut. der anführer der bürgerlichen: “ das hat uns gerade noch gefehlt“ ist der lügner von ministerpräsident, die schande der grünen und der anführer der schwarzen. der kann nur eins: den leuten nach dem mund reden und spass mit den bürgerlichen über 70 jahre machen. warum wählen die blöden ???? ihn immer wieder??

    • Solche eskalierte Gewalt bedarf keiner Entschuldigung. Erklärendes Entschuldigen hilft niemanden weiter. Weder wenn#s sich um die sogenannte Partygeneration handelt,noch um Unglückliche , die anscheinend nur so Ihren Haß ausdrücken können, den wer verursacht?
      #black lives matters brauchen wir andere Strategien als Gewalt auf Schaufenster und Waren. Wenn Galli Kuhn zu so Etwas aufruft, ist der grüne Salat ungenießbar.
      In Koeln konnte ich durch eine stille Demo mit Anderen auf dem Domplatz Gewalt verhindern. Die Kreuzblume der anderen Art…
      Während Galli ganz heiss auf Randale war. Nur so.. #ne woche vor den Stgter Eskalationen.Paramilitärisch führt Kuhn seine Unglücklichen und die sind dann auch ganz heiss. Jedenfalls heiligt für mich Gewalt nicht das Unglück und auch nicht die Party.
      Ich gebe ab und frage mich immer wieder was Reichtum heisst.

    • Wer wäre dann der Richtige, den man wählen soll, oder lassen Sie sich vielleicht aufstellen, haben Sie einen Plan, wie man es richten kann?

  • Ich geb zu, daß ich bislang keinen Gedanken dran verschwendet habe, aus welchem Lebensumfeld die Menschen stammen, die in Stuttgart so „durchgedreht“ sind. Ich verstehe den Zugang, daß das beschriebene Gefühl von Ausgestoßenheit nicht gerade „Systemkonformität“ produziert. Dennoch erscheint mir der Ausgangspunkt einer polizeilichen Drogenkontrolle (hab ich wenigstens gelesen) als Anlaß für die Eskalation doch etwas zu nichtig.

    Schaufenster sind mehr wert als die nicht wertgeschätzten Jugendlichen vom Schloßplatz? Nein bestimmt nicht, ich frag mich nur: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Vielleicht habe ich eine zu spießbürgerliche Weltsicht, wenn ich sage, daß ich wegen einer Strafe fürs Kiffen, doch keine Schaufenster und Autos kapputthaue. Ich machs einfach prinzipiell nicht. Genauso wie ich meine leere Bier-/RedBulldose oder das McDonald’s-Sackerl einfach garantiert immer in den Mülleimer/Gelbe Tonne, etc. schmeiß und nie in die Landschaft. Aus Prinzip. Oder auf spießbürgerlich: Weil es sich so gehört!

    Dinge zerstören , die einem nicht gehören und Menschen angreifen (ja, ich denke auch Polizisten sind Menschen, auch wenn da leider bestimmt auch manche Arschlöcher dabei sind), ohne dabei auch nur ein vernünftiges Ziel zu haben, gehört sich nicht.

  • Der Kommentar ist ziemlich geschichtsvergessen, – wenn nicht etwa die Schwabinger Krawalle, die schon studentisch geprägt und bereits deutlich politisch aufgeladen waren (Andreas Baader ist da eingenordet worden), so sind doch die sogenannten Halbstarkenkrawalle (z.B. Dortmund 56, nach einem Bill Haley Konzert) mit dem Stuttgarter Geschehen zu vergleichen. Jugendliche Prolls, die auf den Putz hauen wollten, um dann später brav auf dem Pütt oder bei Opel zu knechten, letztlich spießige Teddy-Boy-Darsteller, heute hört man halt Kollegah, Bang und Bushido, macht auf Gangsta und hofft auf einen Job in der Automobilzulieferindustrie. Umsturz woll(t)en die – wie praktisch alle Proletarier – nicht, es ging und geht ums Saufen (Kiffen), Zündapp fahren (Autoposen) und Schwächeren die Fresse polieren. Als später die Studenten bei VW und Opel agitieren wollten, hat man die bestenfalls ausgelacht, manchmal auch verdroschen. Hier redet man von „Warenhausstürmerei“ als „Bilderstürmerei“, das ist ähnlich aussichtsloses Wunschdenken und lachhaft. Den Migrantenanteil bei den aktuellen Krawallen könnte man vor diesem Hintergrund durchaus als gelungene Assimilation begrüßen.
    By the way, wie weit es mit dem Klassenbewusstsein bestellt ist, sieht man ganz anschaulich ‚auf‘ Schalke, die haben da seit Jahrzehnten einen der übelsten Arbeiterschinder als Präsi. Aber beim Proletenclub wurde der Mann immer als einer aus dem eigenen Stall gefeiert.

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