vonMesut Bayraktar 05.06.2021

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

Mehr über diesen Blog

Die Sperrung der Freitreppe am Schloßplatz in #Stuttgart-Mitte ist ein Akt bürgerlicher Ausgrenzungspraxis. Sie ist Teil der Gentrifiezierungsstrategie, wie sie seit dem Beginn der milliardenschweren und von Korruption wie von ökonomischer Dummheit durchsetzten Bauarbeiten 2010 am Stuttgarter Hauptbahnhof (“Stuttgart21”) im Stadtkern verfolgt wird. Die Sperrung der Treppen hat nur einen Sinn, einen symbolischen: Wer sich nicht unterwirft, der wird unterdrückt – dem wird Lebensraum entzogen, der soll sich verziehen.

Was erwarten eigentlich Politik, Polizei, schwäbische Bürgerliche oder empörte Lokaljournalisten, nach denen man sich auftuende “Risse” in der Stadt “dringend kitten” müsse (Jan Sellner, Stuttgarter Zeitung), obwohl diese Risse den gesellschaftlichen Zusammenhang im Kapitalismus überhaupt erst ausmachen; was erwarten genau die, wenn sie von betroffenen Jugendlichen, meist aus den unteren Klassen kommend, auf der einen Seite höchste Corona-Disziplin fordern und auf der anderen Seite in keiner Hinsicht Absicherungen sowie Unterstützung für die Jugend bereithalten, die seit über einem Jahr an einer sozialplanlosen und profitorientierten Corona-Politik leidet. An diese Jugendlichen treten die Satten und Zufriedenen immer nur dann ran, vor allem in Stuttgart, um ihnen behelfs Polizei und Behörden zu zeigen, dass sie Fehl am Platz seien. Nie aber geben sie ihnen Platz, nie aber ermöglichen sie politische Teilhabe für die Jugend, etwa in der Stadtgestaltung. Dass dann auf die Ansage eines Polizeilautsprechers, man solle den Platz wegen verletzter Corona-Auflagen räumen, mit Pfiffen reagiert wird, wundert mich nicht. Ich hätte auch gepfiffen. In solchen Augenblicken hat die monatelang angesammelte Wut im Körper Recht gegen den rationalen Inhalt eines Abstandsgebots, das Alleingelassensein Recht gegen das Alleinseinmüssen.

Ansonsten habe ich im Laufe der Woche immer dasselbe über den Vorfall gelesen: Alle Bürgerlichen sprachen von “Attacken auf die Polizei aus der Menge”. Keiner unter diesen Intellektuellen mit Universitätsabschluss in Soziologie oder sonst was fragt, ob der Dammbruch am Abend die Folge eines Staudamms ist. Keine Zeitung lässt mal die Jugendlichen zu Wort kommen – nur Parlamentspolitiker, Polizisten, Beamte, nur Herrschende sprechen über die Jugendlichen. So spiegelt die bürgerliche Presse exakt in ihren Medien wider, was die tägliche Praxis der Bürgerlichen auf der Strasse beweist: die Nichtexistenz und Gesichtslosigkeit der in verengten Verhältnisses strangulierten Jugendlichen, denen nur dann eine Existenz und ein Gesicht gegeben wird, wenn es um Pfiffe, Böller, Alkohol, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Verletzung von Verordnungen geht.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/stilbruch/2021/06/05/ich-haette-auch-gepfiffen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert