vonMesut Bayraktar 01.07.2021

Stil-Bruch

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Eine Romanadaption für das Theater gelingt, wenn man zu ihrem Verständnis nicht den Roman gelesen haben muss, weil die Adaption ein selbständiges Ganzes darstellt. So verhält es sich mit der Bühnenfassung der Regisseurin Anna-Sophie Mahler des Romans »Mittagsstunde« von Dörte Hansen. Die Uraufführung am 12. Juni 2021 abend war ein demütiger, spielfreudiger und würdevoller Auftakt für die Wiederöffnung des Thalia-Theaters nach dem Shutdown. Zu sehen gab es ein musikalisches Familiendrama, das die Flurbereinigung in den 1960er Jahren thematisiert.

Baumstümpfe, Heuballen, ein ­Tresen mit einem Ochsenschädel und ein stumpfer Spiegel. Der mondäne Ingwer Feddersen konfrontiert sich mit seiner Dorfvergangenheit. Dabei dreht er jeden Stein um, stellt sich seiner Scham und den Verlogenheiten seiner Kindheit. Ingwer kehrt zurück in das fiktive norddeutsche Brinkebüll, wo nach getaner Arbeit der Landvermesser aus kleinen Feldern große Ackerflächen und aus Sandwegen Asphaltstraßen geworden sind. Hier pflegt er seine Großeltern, die bald sterben werden, und sortiert sein Leben neu. Verspätet übernimmt er mit bald 50 Jahren den Dorfkrug seines Großvaters, der auf Ingwers intellektuelle Laufbahn spuckt. Brillant spielt Thomas Niehaus diesen melancholischen, zur Depression neigenden Akademiker, der sich trotz Doktortitels und Hochschuldozentur als Schwindler fühlt. Doch er erhält sich einen emphatischen Humor. Mal mit Gitarre, mal mit Akkordeon, dann wieder mit Mundharmonika und Trompete zeigt er seine Zerrissenheit durch Neil-Young-Songs. Das ist gleichermaßen berührend und erkenntnisstiftend. Das lange Warten geht zu Ende.

Überhaupt spielt die Musik in Mahlers Inszenierung eine zentrale ­Rolle. Sie gibt der Aufführung Schwung, bleibt jedoch unaufdringlich. Und sie spiegelt soziale Praktiken wider: ­Jede Figur hat ihren Sound. Während der Dorfschullehrer Christian Steensen (Tilo Werner) mit seinen Schülern deutsche Volkslieder einübt, neigt Ingwers Großvater, dessen Hass und Liebe Bernd Grawert großartig verkörpert, zur Marschmusik. Heiko Ketelsen (Björn Meyer), der eine örtliche Line-Dance-Gruppe gründet, singt hingegen leidenschaftlich Country­songs. Doch sie alle übertönen die Schlager von Ingwers närrischer Mutter: Marret Feddersen, die seinerzeit nach dem Abgang der Landvermesser schwanger geworden war. Tradierte Konventionen entlarvend, singt Cathérine Seifert die frechen Schlager von Marrets Leben. Sie ist die tragische Hauptfigur, verkörpert gewissermaßen die Aura des Dorflebens, wo das Grauenhafte diskret bleibt und gerade deshalb allgegenwärtig ist.

Gegensätze wie Einsamkeit und Gemeinschaft, Trauer und Freude, Melancholie und Humor derart eng zusammenzuführen ist das bemerkenswerte Kunststück des Ensembles. Nichts kippt in den Kitsch. Im Gegenteil, der Abend schafft soziale Intimität, die hinterfragbar bleibt. Wie gute Schlager halt.


Hinweis: Der Text erschien erstmals in der Tageszeitung »junge Welt« in der Ausgabe vom 15.06.2021. Mit freundlichem Einverständnis ist der Text auf taz.stil-bruch zu lesen.

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