vonMesut Bayraktar 20.12.2021

Stil-Bruch

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Über Dostojewski kann man vieles schreiben. Das liegt nicht nur an der Mannigfaltigkeit der Themen, die er mit seinen Romanen und zahllosen Figuren verhandelt. Auch sein Leben ist von radikalen Widersprüchen gekennzeichnet. Nicht selten gibt das Anlass, Dostojewski selbst wie eine literarische Figur zu behandeln – als Spieler, als Doppelgänger, als Mörder, als Jüngling, als Dämon, als Idiot, als Verbrecher oder als Aufzeichner aus dem Kellerloch.

Entscheidend jedoch für die Größe seiner Werke und für seine Überzeugungen war die Katorga: die Verurteilung zur vierjährigen Verbannung nach Sibirien, verbunden mit Zwangsarbeit von 1850 bis 1854 und anschließend sechsjähriger Militärpflicht als Soldat. Das war ein Einschnitt in seinem Leben.

Als utopischer Sozialist und Mitglied einer unbedeutend kleinen Gruppe hatten er und seine Gefährten im Schatten der Europäischen Revolutionen von 1848/1849 den Entschluss gefasst, ein Attentat auf den Zaren auszuüben. Sie wurden gefasst. Dostojewski, schon damals mit seinen Romanen wie »Arme Leute« oder »Weiße Nächte« bekannt, wurde zur Todesstrafe durch standrechtliche Erschießung verurteilt. Kurz vor der Exekution ereilte die Henker der Begnadigungsakt des Zar Nikolaus I. Möglicherweise, wie die Forschung heute sagt, handelte es sich um eines von vielen Schauprozessen, um die junge Intelligenzija, die von den revolutionären Umtrieben in Europa begeistert war, abzuschrecken und an das Zarenreich zu binden. Bei Dostojewski war das Kalkül mehr oder weniger aufgegangen. Nach zehn Jahren im brutalen Strafsystem und die 1861 gefolgte „Bauernbefreiung“ per Dekret durch Alexander II., womit der Kapitalismus in Russland sich enthemmter zu entfalten begann, brach Dostojewski mit der Revolution, dem utopischen Sozialismus und dem Kampf der Massen gegen ihre Unterdrückung. Von da an gab es für ihn drei neue Bezugspunkte, die er im »Tagebuch eines Schriftstellers« ausführt: Zar Peter I., als Erneuerer der russischen Monarchie, Puschkin, als Prophet des russischen Volksgeistes, und die oströmisch-christliche Orthodoxie als geschichtliches Fatum des russischen Volkes. 1881 starb Dostojewski im Alter von 59 in Sankt Petersburg als Weltstar der Literatur und treuer Untertan des Zaren.

Die »Aufzeichnungen aus dem Totenhaus« – 1860 nach der Katorga veröffentlicht – markieren diese Bruchstelle seines Schaffens. Das Buch ist ein literarisch-protokollarischer Roman, ein autobiographischer Querschnitt in Romanform, der literarisch verklärend nicht von Dostojewski spricht, um von Dostojewski zu sprechen und die Erfahrungen sowie Eindrücke aus der Katorga beschreibt. Schon 1854 schreibt er im Brief an seinen Bruder: „Wie viele Typen, Charaktere aus unserem Volk habe ich aus der Katorga mitgenommen! … Wie viele Geschichten von Vagabunden und Räubern und überhaupt vom dunklen, bitteren Alltag. Das reicht für ganze Bücher.“ All seine Werke, insbesondere die späten, handeln genau in diesem Sinn von der Katorga, die das Fleisch seiner Gedanken wurde. Durch sie lässt sich nicht nur das vorrevolutionäre Russland in all seinen Phänomenen und Elementen besser verstehen. Seine Romane handeln von der Gewalt, die die Begierde nach Freiheit in den Willen zum Gehorsam bricht, davon, wie die Gewalt aus Menschen Sklaven macht. Ob Myschkin, Roggochin, Ippolit, Raskolnikov, Stawrogin oder Ivan Karamasow und viele mehr – sie alle sind hervorgegangene Typen aus dieser Praxis der Erniedrigung, des Umbrechens von innen.

In dieser Hinsicht blieb Dostojewski auch nach der Katorga immer mit der Revolution und den unterdrückten Massen verbunden. Seine Literatur verrät ihn. Deshalb fasziniert sie noch heute, wo die Katorga mit unterschiedlichen Formen und Mitteln die Unterdrückten heimsucht. Seine Literatur wurde revolutionärer als er selbst.


Der vorliegende Text erschien erstmals in der deutsch-türkischen Wochenzeitung »Yeni Hayat/Neues Leben« vom 26.11.2021. Mit freundlichem Einverständnis der Redaktion ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.

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