vonMesut Bayraktar 22.04.2022

Stil-Bruch

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Am 5. April 2022 sagte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk in einem Interview mit der FAZ: „Alle Russen sind gerade unsere Feinde“, wohlgemerkt alle, und fügte hinzu: „Uns kann es jetzt nicht darum gehen, zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden.“ Dabei geht er davon aus, dass der Krieg geführt werde, „um die Ukrainer zu vernichten.“ Um seine Rhetorik komplett zu machen, erklärt er, „nie russische Freunde“ gehabt zu haben, „weil das, was wir heute erleben, schon seit vielen Jahrzehnten geplant war.“ Es handelt sich um denselben Melnyk, der über soziale Medien Nazi-Kollaborateur und Faschist Stepan Bandera als „Helden“ verehrt.

Als Diplomat genießt Melnyk nicht nur Immunität vor dem Gesetz, sondern hat aktuell auch einen Freifahrtschein für die Verbreitung von Dummheit und Hetze. Entgegen der Wiener Konventionen über den Status von Diplomaten, die unter anderem untersagen, sich in die inneren Angelegenheiten der Gastländer einzumischen, tritt er inzwischen offen als Botschafter des profaschistischen Nationalismus ukrainischer Führungscliquen auf und hat dabei nur eine Aufgabe: Waffenlieferungen zu organisieren und Sanktionen gegen Russland anzustacheln.

Unterscheidungen werden verwischt

Seine Propaganda trägt Früchte. Ein Tag nach dem Interview wurde in der Nacht das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin mit Schmierereien wie „Death to all Russians“ oder „Russians = Rapists“ geschändet, alles ausschließlich in englischer Sprache, und an mehrere Stellen wurden Hakenkreuze gesprüht. Das sowjetische Ehrenmal ist ein Begräbnisort für etwa 7.000 Rotarmisten, die im April und Mai 1945 bei den Kämpfen gegen die deutschen Nazis getötet wurden.

Eine Kausalität zwischen den Worten Melnyks und den Taten am Treptower Park zu behaupten, wäre eine unsachgemäße Spekulation. Dass aber eine geistige Verwandtschaft zwischen beidem vorliegt, ist kaum von der Hand zu weisen. Das sind weitere Anhaltspunkte dafür, dass die Atmosphäre in der Bundesrepublik inzwischen geprägt ist durch kriegstreiberische Glaubenssätze von „Frieren für die Freiheit“ (Joachim Gauck) bis zur Forderung nach einer NATO-Flugverbotszone und Waffenlieferungen auf „Friedens-Demos“, vom Geschwätz eines „heldenhaften Kampfs“ in kommerziellen Zeitungen, von der Teilung der Welt in Gut und Böse durch die bürgerlichen Medien und von der sorglosen Wiedergabe des faschistischen Grußes „Ruhm der Ukraine“ selbst in kulturellen Einrichtungen. Der Gruß, nebenbei bemerkt, geht auf die „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) zurück, die im Zweiten Weltkrieg SS-Freiwilligenbataillone stellte und Juden, Polen, Roma und Sinti, Russen und Angehörige der Roten Armee verfolgte und ermordete. 2018 hat die Rada, das ukrainische Parlament, den Gruß per Gesetz offiziell eingeführt.

Die Dummheit des Nationalismus besteht darin, grundlegende Unterscheidungen zwischen der Bevölkerung und der politischen Führung, zwischen Nationalität und Staat, zwischen den sozialen Klassen und der Staatsräson der Bürgerlichen, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern zu verwischen, um die Welt in „alle Russen“, „alle Ukrainer“, „alle Deutschen“ usw. zu teilen. Wer solche Unterscheidungen nicht vornimmt, plappert den ukrainischen, russischen, deutschen usw. dummen Nationalismus nach. Letztendlich werden dann Vernichtungs-Rhetoriken wie die des Botschafters Melnyk bedient. Mit Frieden, Brot, Ächtung von Gräueltaten und Anti-Kriegshaltung hat das nichts zu tun.

In der Pressemitteilung der VVN-BdA hat die Vorsitzende, Cornelia Kerth, ganz richtig aus dem Anlass der Schmierereien im Treptower Park klargestellt: „Den aktuellen Krieg und die Gräueltaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung verurteilen wir aufs Schärfste und fordern seit dessen Beginn den Rückzug russischer Truppen aus dem ukrainischen Staatsgebiet. Für diesen Krieg sind aber nicht die sowjetischen Soldat*innen verantwortlich, welche gegen den deutschen Faschismus gekämpft und ihn, zusammen mit den anderen alliierten Mächten, besiegt haben.“ Hinzufügen ließe sich noch, dass unter den sowjetischen Soldaten auch Ukrainer waren, ebenso wie viele andere aus den Völkern der UdSSR. Daher liegen an der Gedenkstätte neben sowjetischen weitere Soldaten aus 15 Nationen.

Klassensolidarität ist die Perspektive

Egal wo und wer, die Dummheit des Nationalismus ist in Wahrheit Weichensteller für nationale Kapitalinteressen, insbesondere im Kontext eines imperialistischen Konflikts. Auf Schritt und Tritt folgt der ideologischen Mobilmachung auch hierzulande eine Hochrüstung von Bundeswehr und Militärapparat – wenn möglich per Grundgesetz. Ein Gesetzesentwurf ist schon auf dem Weg, was suggerieren soll, dass eine hochgerüstete Bundeswehr den Krieg beenden könnte. Das ist die Spitze nationalistischer Dummheit und fügt sich reibungslos in das Weltbild eines Melnyks, das mit Kategorien von Vernichtung und nationaler Feindschaft die Widersprüche von Klassengesellschaften und Imperialismus glatt streicht.

Wenn die Dummheit des Nationalismus sich in diesem rasanten Tempo weiter verbreitet, werden sich die widerlichen und geschichtsrevisionistischen Schändungen nicht nur am Treptower Park und weiteren Orten wiederholen, weitere Feindbilder werden erdichtet und der Rassismus im Inland verschärft sich. Dann werden noch mehr junge Menschen aus den unteren Klassen an der Front für die Klasseninteressen der Herrschenden verheizt. Nichts ist daran heldenhaft.

Nicht alle Russen sind Feinde. Vielmehr hat jede Bevölkerung ihre Feinde, die gerade den Blutzoll zugunsten ihrer ökonomischen und geostrategischen Interessen ins Vielfache erhöhen, daheim. Wer sich darunter etwas vorstellen will, möge sich von der Kraft und der klassensolidarischen Weitsicht griechischer Eisenbahner, italienischer Flughafenarbeiter oder belarussischer Eisenbahner inspirieren. Aus Liebe zu ihrem Land sind sie internationalistisch.


Der vorliegende Text erschien erstmals in der deutsch-türkischen Wochenzeitung »Yeni Hayat/Neues Leben« vom 16.04.2022. Mit freundlichem Einverständnis der Redaktion ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2022/04/22/zur-dummheit-des-nationalismus/

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kommentare

  • Einen solchen Beitrag hätte ich in der TAZ nicht erwartet.

    Die Schändung des Ehrenmals in Treptow ist empörend, kein Zweifel. Wer die Schlachten der Gegenwart in der Vergangenheit austragen will, liegt immer falsch. Diese Soldaten haben ihr Leben für die Befreiung Europas gegeben und verdienen unseren Schmuck.

    Die Verantwortung dem ukrainischen Botschafter unterzuschieben, ist erbärmlich.

    Melnyk muss in der immer noch teilweise benebelt im fröhlichen Nachkriegsdeutschland verharrenden Teilöffentlichkeit Deutschlands offenbar manchmal harte Nüsse hinwerfen, damit sie es kapieren.

    Er hat auch sehr differenziert von JETZT gesprochen, als er seine Provokation aussprach. Und die war durch die weichspülende, im JETZT total falsche falsche Geste des Bundespräsidenten verursacht, ein Friedenskonzert mit gemischter Besetzung zu veranstalten. Wischi waschi. Leute! Es ist Krieg! Brutalster Krieg!!! Gleichzeitig sprach Melnyk von seiner Liebe zur russischen Kultur usw. aber für die ist nach seinen Worten JETZT kein Platz, wenn gerade mitten in Europa von Russland ein Angriffskrieg vom Zaun gebrochen wurde, der Zeichen eines Vernichtungskriegs und Merkmale eines Genozids an den Ukrainern trägt – auch rhetorisch auf der russischen Seite. Das war kurz nach Entdeckung des Massakers von Butscha und dieses wiederum war kein Unfall, sondern hatte System. In Mariupol rauchen derweil die mobilen Krematorien. Wie gruselig ist das denn? Schon vergessen?

    Der BP hat wenigstens etwas Zerknirschung gezeigt im Nachhinein.

    Nochmal nachlesen:

    https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukrainischer-botschafter-andrij-melnyk-im-gespraech-ueber-butscha-17937279.html

    Warum überpointiert der Autor Herrn Melnyks drastische Darstellung, die aber durchaus differenziert bleibt?

    Warum muss der Autor russische Desinformation verbreiten, die übrigens synchron mit Putins „Nazi“-Rhetorik läuft. Slava Ukrainij ist KEIN genuin faschistischer Gruß, sondern wird insbesondere auf die Ereignisse des Maidan bezogen.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Ruhm_der_Ukraine

    Die Ukraine verteidigt jetzt gerade die Freiheit Europas gegen die Barbarei eines faschistoiden russischen Imperialismus. Da kann ich auf solche Blogs doppelt verzichten.

    Slava Ukrainji!

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