vonDetlef Georgia Schulze 09.10.2023

Theorie als Praxis

Hier bloggt Detlef Georgia Schulze über theoretische Aspekte des Politischen.

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Wie die „Letzte Generation vor den Kipppunkten“ heute mitteilte, informierte die zuständige Staatsanwaltin der Staatsanwaltschaft Neuruppin einen Anwalt der Beschuldigten eines Ermittlungsverfahrens wegen Verdachts auf Bildung einer Kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB), daß sie beabsichtige, „bis Ende 2023 Anklage […] zu erheben“. „Im Oktober solle den Beschuldigten die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden, dann werde man den Prozess eröffnen“, so heißt es weiter in der Pressemitteilung der Gruppierung.

Zur historischen Einordnung und Beurteilung der beabsichtigten Anklage erklärt die „Letzte Generation“: „Während der sogenannte ‚Schnüffel-Paragraph‘ [1] in der Vergangenheit bei sozialen Bewegungen in der Regel als reines Ermittlungsinstrument eingesetzt wurde […], geht es nun um die Einschüchterung der Zivilgesellschaft.“

Es kam schon zu Hunderten von Anklagen – und auch Verurteilungen

Dazu ist zweierlei anzumerken:

  • Auch frühere Schnuffeleien in § 129-Verfahren (und ähnlich in Verfahren wegen § 129a [Bildung terroristischer Vereinigungen] und § 129b [Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland1]) hatten Einschüchterungseffekte – oder solche zumindest beabsichtigt.
  • Aber auch in der Vergangenheit blieb es durchaus nicht nur bei Schnüffelei und Einschüchterung, sondern kam es auch zu Anklagen und sogar Haftstrafen.

Die Bezeichnung „kriminelle Vereinigung“ ist seit 1951 im Zusammenhang mit § 129 Strafgesetzbuch gebräuchlich geworden. Seine damalige – seitdem nicht grundlegend geänderte – Fassung bekam der Paragraph damals im Rahmen des ersten Strafrechtsänderungsgesetze der BRD, mit dem die strafrechtliche KommunistInnen-Verfolgung in der BRD in den 1950er und 60er Jahren – noch vor dem KPD-Verbots-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – eingeleitet wurde.

Verurteilungszahlen speziell zu § 129 StGB scheinen für die damalige Zeit nicht überliefert zu sein, aber nach § 129 StGB und den ähnlichen damaligen §§ 128 (Geheimbündelei) und 129a (Fortsetzung einer verbotenen Vereinigung) StGB insgesamt kam es in den Jahren 1951 sowie 1954 bis 1957 zu über 700 Verurteilungen.


Schaubild 1: Alexander von Brünneck. Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978

Der Geheimbündelei-Paragraph wurde 1968 abgeschafft und ist vom heutigen § 128 StGB (Bildung bewaffneter Gruppen) zu unterscheiden; der damalige § 129a StGB wurde 1964 zusammen mit dem bis dahin geltenden § 90a StGB zum neuen § 90b (StGB)2 und hatte (außer der §-Nummer und dem Wort „Vereinigung“) nichts mit dem seit 1976 bestehenden § 129a StGB über Terroristische Vereinigungen zu tun.

Zu letzterem sind unter folgende Zahlen bekannt:

„Etwa 3.300 Strafermittlungsverfahren nach Paragraf 129a wurden in den 1980er Jahren eingeleitet, in die fast 10.000 angebliche Terroristen, Unterstützer und sogenannte Sympathisanten involviert waren. […]. Auffallend viele der Ermittlungsverfahren bleiben bereits im Ermittlungsstadium hängen, werden also nach langwierigen Ermittlungen mangels Substanz eingestellt. Nur in durchschnittlich sechs Prozent aller Fälle kommt es überhaupt zu einem Urteil.“
(Rolf Gössner, Das Antiterrorsystem, in:

„Nur […] sechs Prozent“ mag sich nach wenig anhören, aber 6 Prozent von 3.300 sind immerhin rund 200 Anklagen in zehn Jahren – wegen eines Organisationsdeliktes. Unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs des liberalen Strafrechts, Taten3 und nicht Gesinnungen4 zu bestrafen, ist das grundlegende Problem an Organisationsdelikten: Es wird die mitgliedschaftliche Beteiligung5 an einer Organisation oder auch deren bloße Unterstützung6 (also letztlich: eine Gesinnung / eine Identifikation mit deren Zielen) bestraft.

Dieses Problem wird entschärft, wenn zusammen mit dem Organisationsdelikt auch eine oder mehrere konkrete Taten angeklagt werden; aber das Problem besteht auch dann noch – in etwas verschobene Form – trotzdem fort, wenn der Strafrahmen für das Organisationsdelikt höher ist als für die konkreten Taten. Dann gibt das Organisationsdelikte nicht nur zusätzliche Ermittlungskompetenzen vor der Anklage, sondern wirkt auch noch strafverschärfend.

§ 129 StGB – ein Instrument der politischen Verfolgung, aber ungeeignet zur Erfassung organisierter Wirtschaftskriminalität

Auch seit Einführung des § 129a StGB über Terroristische Vereinigungen blieb der § 129 StGB ein Instrument der politischen Verfolgung. Im Strafprozeßrecht wird er ausdrücklich dem „Gebiet des Staatsschutzes“ zugeordnet (§ 110a StPO7 mit Verweis auf § 74a GVG8, wo wiederum der § 129 StGB genannt ist).

Jörg Kinzig kam noch 2003 in seiner Untersuchung über Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität9 nach Analyse der Rechtsprechung zum § 129 StGB zu Ergebnis, daß die Bedeutung des Paragraphen „bei Deliktsfeldern, die landläufig der organisierten Kriminalität zugerechnet werden, gegen Null tendiert“ (S. 169):

„Mit Blick […] auf die historisch gewachsene, von der Rechtsprechung unterstützte Anwendungspraxis im politischen Strafrecht ist derzeit nicht zu erwarten, dass der Tatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen in absehbarer Zeit [außerhalb dieses historisch gewachsenen Bereichs, d. Vf.In] eine Konjunktur […] erleben wird.“ (S. 171)

Ich selbst zeigte 200810 – anhand von Zitaten aus Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur – auf, daß „die Gerichte – trotz des Diskurses über „organisierte Kriminalität“ – Schwierigkeiten haben, den – ‚auf ‚Vereine’ und parteiähnliche Gruppierungen‘ zugeschnittenen11 – Vereinigungs-Begriff dieser Norm auf unpolitische Personenzusammenhänge anzuwenden“.

So fiel an der Kommentierung von Miebach/Schäfer12 ein „Unterschied zwischen

  • den strikten Formulierungen ‚ist nicht gegeben“, ‚werden nicht erfaßt’, ‚ist jedoch zu beachten’ etc. bei den einen Vereinigungscharakter [unpolitischer Gruppierungen] verneinenden Sätzen
  • und

  • den vagen ‚kann durchaus’ bei den bejahenden Sätzen“

auf:

  • RN 39 zu Rauschgifthändlerringen: „ist [das vorausgesetzte strukturelle Mindestmaß] noch nicht gegeben, wenn …“ vs. „kann […] im Übrigen aber durchaus zu bejahen sein.“
  • RN 40 zu organisiertem Glücksspiel: „Wenn …, werden Personenzusammenschlüsse zum Betrieb organisierten illegalen Glücksspiels nicht […] erfaßt.“ vs. „Entspricht das kriminelle Zusammenwirken jedoch den verbandsmäßigen Gestaltungsanforderungen, kommt eine Strafbarkeit […] durchaus in Betracht.“ (alle Hv. hinzugefügt).
  • Ähnlich RN 41 (illegale Arbeitnehmerüberlassung), RN 53 f. (Parteispendenwaschanlagen; organisierter Diebstahl).

Gleichfalls zu keinem eindeutigen Ergebnis kam die Rechtsprechungsanalyse von Leonhard Walischweski13. Er selbst wollte explizit an der klassischen Stoßrichtung des § 129 StGB gegen „politisch motiviert[e]“ Vereinigungen festhalten (S. 585).

Bei Lenckner/Sternberg-Lieben14 hieß es damals:

„Immer aber müssen sie [die kriminellen Aktionen] die Zielsetzung und die innere Struktur der Vereinigung jedenfalls mitprägen […]. Diese Voraussetzungen können auch bei einem Wirtschaftsunternehmen gegeben sein (vgl. dazu BGH 31 206, wo dies jedoch – ebenso wie bei einem ‚Umsatzsteuerkarusell’ [BGH NStZ 04, 574] – mangels Unterordnung unter den Willen der Gesamtheit verneint wurde, […] BGH 48 250 […]); von den inzwischen bekannt gewordenen ‚Parteispendenwaschanlagen’ werden sie dagegen nicht erfüllt […].“ (Hv. hinzugefügt; an den Stellen der Auslassungszeichen finden sich im Original Literaturhinweise).15

Ich selbst setzt in meinem Text von 200816 wie folgt fort:

„Selbst im Bereich des Drogenhandels, in dem der Gesetzgeber selbst den § 129 StGB durchaus für anwendbar hält (wie sich daran zeigt, daß er in diesem Bereich den § 129 StGB – durch § 30b Betäubungsmittelgesetz – schon vor Einführung des § 129b StGB auf ausländische kriminelle Vereinigungen erstreckte) konnte Kinzig nur zwei veröffentlichte BGH-Entscheidungen feststellen, bei denen der BGH einen Vereinigungscharakter (i.S.d. § 129 StGB) bei Drogenhandelsorganisationen bejahte.17
Dabei sind es vor allem zwei Faktoren, die – gemessen an der Gesetzgebungsgeschichte außerhalb des Drogenbereichs: [juristisch] zurecht – die politische Funktion des § 129 StGB konservieren:
a) Schon für den Verbindungs-Begriffs des Reichsstrafgesetzbuches, und daran änderte sich mit dem Vereinigungs-Begriff des Nachkriegs-StGB nichts, war eine ‚Unterordnung des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit‘ der Verbindung (bzw. der Vereinigung), die auf Dauer angelegt sein muß, Definitionsmerkmal. Damit impliziert der Vereinigungsbegriff eine doppelte Abgrenzung: Zum einen eine Abgrenzung zu Personenzusammenhängen, bei denen der Einzelwillen ausschlaggebend bleibt; also das individuelle Nutzenkalkül immer wieder neu Art, Umfang und Grenzen der Kooperation bestimmt (in den Genuß dieser Abgrenzung können durchaus auch politische Zusammenhängen kommen, wenn sie – wie in der Regel HausbesetzerInnengruppen – nur lose organisiert sind); zum anderen eine Abgrenzung zu Fällen, wo eine Person allen anderen sagt, was sie zu tun haben, und letztere sich individuell unterordnen, also ebenfalls kein auf Dauer angelegter Verband mit Gruppenmeinung zustande kommt.18
Was der Staat – und sicherlich nicht zu unrecht – als gefährlich ansieht, ist das ‚Mehr an personeller Geschlossenheit und an instrumenteller Vorplanung‘19, das eine Vereinigung auszeichnet.
b) Zum anderen wird von der Rechtsprechung verlangt, daß die Taten, auf deren Begehung die Vereinigung gerichtet ist, von Bedeutung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sein müssen. Begründung und Reichweite dieser Einschränkung sind v.a. im Einzelnen (z.T. aber auch im Grundsatz) umstritten20; jedenfalls wirkt auch sie einschränkend auf die Einbeziehung von Vereinigungen, die auf Wirtschaftsstraftaten gerichtet sind.21

Allerdings wurde der Vereinigungs-Begriff im § 129 StGB 2017 leicht geändert; bis dahin wurde er im Gesetz gar nicht und vom BGH folgendermaßen definiert22:

„Unter einer Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB ist der auf Dauer angelegte organisatorische Zusammenschluß von mindestens drei Personen zu verstehen, die bei Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen (BGHSt 10, 16, 17; BGH NJW 1966, 310, 312; BGH NJW 1978, 433 [BGH 21.12.1977 – 3 StR 427/77 S], insoweit in BGHSt 27, 325 nicht abgedruckt; BGHSt 28, 147 [BGH 11.10.1978 – 3 StR 105/78 S]).“
(Urteil vom 13.01.1983 zum Aktenzeichen 4 StR 578/82 https://research.wolterskluwer-online.de/document/4028d38f-2f81-49fa-9bd6-b951213a22b5, Textziffer 623; Hv. sowie Verlinkung der Quellenangaben innerhalb des Zitates hinzugefügt)

Seit 2017 steht folgende Definition in § 129 Strafgesetzbuch:

„Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.“
(Gesetzesfassung 2017: https://web.archive.org/web/20230522152603/https://lexetius.de/StGB/129,5 [linke Spalte] – Hv. hinzugefügt; BGBl. I 2017, 2440 – 2441 [2440: Artikel 1, Nr. 1]; aktuelle Gesetzesfassung: https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129.html)

Der Vereinigungs-Begriff im § 129 StGB

Alte Rechtsprechungs-Definition

Neue gesetzgeberische Definition

  • auf Dauer angelegte
  • auf längere Dauer angelegter
  • organisatorische Zusammenschluß
  • organisierter Zusammenschluss
  • von mindestens drei Personen
  • von mehr als zwei Personen
  • bei Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit
  • gemeinsame Zwecke verfolgen
  • zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses
  • derart in Beziehung stehen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen

Vorderhand ist die neue Definition etwas weiter; aber ob

  • derart in Beziehung stehen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen“ wirklich gegenüber „organisatorische[r] Zusammenschluß“und
  • Willen der Gesamtheit“ gegenüber „gemeinsame Zwecke“

viel hinzufügte, kann bezweifelt werden. Vielleicht wurde die alte Formulierung auch nur mit tautologischen Formulierungen aufgebläht, um dem Vereinigungs-Tatbestand zumindest den Anschein einer tatbestandsmäßigen Umgrenzung zu geben. 1955 sprach der BGH seinerseits sogar von „Unterordnung des einzelnen unter den Willen einer Gesamtheit, also ein organisatorischen Zusammenschluss“24 – die „Unterordnung des einzelnen unter den Willen einer Gesamtheit“ wurde also bloß als nähere Umschreibung des Ausdruck „organisatorische[r] Zusammenschluss“ angesehen.

In diesem seinem Urteil vom 9. Oktober 1964 zum Aktenzeichen 3 StR 34/64 sagte der BGH zunächst, daß der Begriff „Verbindung“ (wie er damals in § 128 StGB verwendet wurde) „im wesentlichen mit dem der Vereinigung überein[stimmt] (vgl. BGHSt 10, 17; RGSt 13, 273)“. Sodann sagte der BGH dort: Eine „Verbindung“ (also – jedenfalls Pi mal Daumen [„im wesentlichen“] – auch eine Vereinigung) bestehe, „wenn sich ihre Mitglieder auf längere Zeit zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen haben (BGHSt 10, 17; RG JW 1931, 3667; vgl. § 2 Abs. 1 VereinsG)“ (BGHSt 20, 45 – 61 [60]).

Der Hinweis „vgl. § 2 Abs. 1 VereinsG“ deutet darauf hin, daß der BGH jedenfalls keinen großen Unterschied zwischen dem Begriff der Vereinigung z.B. in § 129 StGB und dem Begriff „Verein“ in § 2 Vereinsgesetz sah, obwohl dort die Floskel „derart in Beziehung stehen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen“ nicht vorkam und kommt. Diese Floskel in der BGH-Vereinigungs-Definition von 1983 dürfte also von ziemlich geringer Bedeutung sein. Daran, daß der strafrechtliche Vereinigungs-Begriff vor allem auf ‚Vereine’ und parteiähnliche Gruppierungen zugeschnitten ist, scheint sich also auch 2017 wenig geändert zu haben; zu recherchieren, ob der § 129 StGB seitdem trotzdem vermehrt im unpolitischen Bereich angewendet wird, hatte ich noch keine Gelegenheit.

Auch die SPD-Vorläuferin SAPD waren schon betroffen

Bis zur Gesetzesänderung von 1951 war dem § 129 StGB seine staatsschützerische Funktion deutlich am Wortlaut anzusehen; von Inkrafttreten des Strafgesetzbuches des Deutschen Reiches bis 1951 lautete dieser unverändert (nicht einmal die Nazis scheinen Verschärfungsbedarf gesehen zu haben…):

„(1) Die Theilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, ist an den Mitgliedern mit Gefängniß bis zu einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu bestrafen.
(2) Gegen Beamte kann auf Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter auf die Dauer von einem bis zu fünf Jahren erkannt werden.“
(https://web.archive.org/web/20230705092123/https://lexetius.de/StGB/129,13)

Unter anderem wegen der Formulierung „Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen […] zu verhindern oder zu entkräften“ trug der § 129 StGB damals den inoffiziellen Titel „staatsgefährliche“ bzw. „staatsfeindlichen Verbindung“25.

Der Begriff „Verbindung“ wurde mit dem der Vereinigung und dem des Vereins als synonym angesehen26, und vom Reichsgericht zumindest nahegelegt, daß auf dem Kopenhagener Kongreß der der SAPD27 (der Vorläuferin der SPD)28 eine solche „staatsgefährliche Verbindung“ (also nach heutigem Sprachgebrauch: Kriminelle Vereinigung) gegründet worden sei oder daß er eine Mitgliederversammlung einer solchen Verbindung darstellte. Konkret hatte das Reichsgericht aber zunächst einmal ‚nur‘ ein freisprechendes Urteil des Landgerichts Chemnitz aufgehoben.

Die Staatsgefährlichkeit, um die es ging, bestand (eventuell29) in dem Zweck der in Rede stehenden „Verbindung“ das Sozialistengesetz30 (1878 – 1890) zu „entkräften“ – nämlich durch – sozialistengesetzwidriger – Verbreitung der Parteizeitung Sozialdemokrat.

Zum Unterschied zwischen den damaligen Begriffen „Zwecken“ und „Beschäftigungen“ (heute: „Zweck oder Tätigkeit“) führte das Reichsgericht zunächst aus:

„Soviel […] die gesetzwidrigen ‚Zwecke‘ (§. 129 St.G.B‘s) betrifft, so stellt das Gesetz dieselben neben das Merkmal der gesetzwidrigen ‚Beschäftigung‘; hieraus und aus dem Worte ‚Zweck‘ ergiebt sich, daß der §. 129 a.a.O. schon dann anwendbar ist, wenn es zur Ausführung des gesetzwidrigen Zweckes seitens der Verbindung oder ihrer Mitglieder noch nicht gekommen ist.“
(RGSt 13, 273 – 285 [284]; Hv. i.O.)

So dann kritisierte das Reichsgericht, daß die Vorinstanz allein geprüft habe, ob die Tätigkeit der in Rede stehenden „Verbindung“ (bereits) darin bestand hat, den Sozialdemokrat zu verbreiten. Es komme aber alternativ auch in Betracht und müsse daher noch geprüft werden, ob der (wenn auch noch nicht realisierte) Zweck der in Rede stehenden Verbindung vielleicht darin bestanden habe, den Sozialdemokrat zu verbreiten:

„der Zweck der – supponierten – Verbindung kann […] auf diese Verbreitung gegangen sein;“

das landgerichtliche Urteil identifiziere fälschlicherweise „Zweck“ und „Beschäftigung“ (RGSt 13, 273 – 285 [285]).

Die in diesem Reichsgerichts-Urteil (genauer gesagt schon in einer Entscheidung des Preußischen Ober-Tribunals aus dem Jahre 1869) gegebene Verbindungs-Definition ist im übrigen die Blaupause der – oben zitierten – BGH-Vereinigungs-Definition aus dem Jahre 1983 und auch der noch heute geltenden vereinsgesetzlichen Definition des Vereins-Begriffs:

„Die preußische Rechtsprechung hat unter ‚Verein’ im Sinne der Verordnung immer jede dauernde Vereinigung mehrerer zur Verfolgung bestimmter gemeinschaftlicher Zwecke verstanden, vgl. Oppenhoff, Rechtsprechung Bd. 10 S. 27931
(RGSt 13, 273 – 285 [277]; Hv. und Verlinkung hinzugefügt)

Mehrere, dauernd, gemeinsame Zwecke – Klappe zu, politischer Aktivismus mit einem Bein im Knast.

Für Staatsfeindlichkeit statt Pickelhaube!32

§§ 129 bis 129b StGB abschaffen!33


1 Die §§ 129 und 129a StGB beziehen sich dagegen auf Kriminelle und Terroristische Organisationen im Inland ohne dies explizit aus den jeweiligen Überschriften hervorgeht.

2 Bundesgesetzblatt 1964 I, 593 – 601 (597, 598):
„1. § 90a in der Fassung des Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. August 1951 (Bundesgesetzbl. I, S. 739) wird aufgehoben.
2. […]
3. Nach § 90a wird folgender § 90b eingefügt: ‚[…].‘
4. […]
6. § 129a wird aufgehoben.“

3 Vgl. Artikel 103 Absatz 2 Strafgesetzbuch: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_103.html; Hv. hinzugefügt)

4 Vgl.

  • Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_4.html; Grundrechtsschranken zu diesem Absatz gibt es nicht)

  • Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz: „Niemand darf wegen […] seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html; auch zu diesem Diskriminierungsverbot sind keine Schranken bzw. Ausnahmen beigegeben)

5 Die einzelnen Beteiligungs-Akte (Betätigungen) müssen – unabhängig von der Organisationsmitgliedschaft – keineswegs strafbar sein, um für eine Bestrafung wegen des Organisationsdelikts zu genügen.

6 Zeitweilig war sogar die bloße Sympathiewerbung durch Außenstehende strafbar.

7 Absatz 1 Nr. 2: „auf dem Gebiet des Staatsschutzes (§§ 74a, 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes)“.

8 Absatz 1 Nr. 4: „in den Fällen des § 129, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches“.

9 Duncker & Humblot: Berlin, 2004 (= Habil. Uni Freiburg, 2003).

11 „Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Beck: München, 200855, 932, § 129a, RN 4, wo diese ‚einseitig[e]‘ Konzentration auf ‚politisch motivierte kriminelle Vereinigungen‘ kritisiert wird.“ (Fußnote aus meinem Text von 2008)

12 Klaus Miebach / Jürgen Schäfer, [Kommentierung zu] § 129 Bildung krimineller Vereinigungen, in: nchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. Bd. 2/2, Beck: München, 2005, 467 – 499 (477 f., 478 f.; jeweils mit weiteren Nachweisen).

13 § 129 StGB – Die kriminelle Vereinigung, Wunderwaffe der Strafverfolgung?, in: Strafverteidiger 2000, 583 – 586 (584 f.): obiter dicta; Kaleidoskop; gegenläufige Beschlüsse.

14 Theodor Lenckner / Detlev Sternberg-Lieben, [Kommentierung zu] § 129 Bildung krimineller Vereinigungen, in: Adolf Schönke et al., Strafgesetzbuch. Kommentar, Beck: München, 200627, 1276 – 1289 (1280, RN 7).

15 Die Entscheidung BGH 48 250 ist im internet zugänglich: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/02/5-423-02.php3. Dort wurde in einem Fall von Zigarettenschmuggel ein Tatverdacht auf Existenz einer kriminellen Vereinigung bejaht. Auch die Entscheidung BGH NStZ 04, 574 ist online zugänglich: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/03/5-364-03.php3.

17 a.a.O. (FN 9), 169.

18 Zum ganzen Absatz: Kinzig, a.a.O., (FN 9), 165 bei FN 6, 168 f.; speziell zu HausbesetzInnen-Gruppen: S. 167, FN 23.

19 Urs Kindhäuser, Strafgesetzbuch. Lehr- und Praxiskommentar, Baden-Baden, 20063, 494, § 129, RN 7.

20 S. bspw. Hans-Joachim Rudolphi / Ulrich Stein, [Kommentierung zu] § 129 Bildung krimineller Vereinigungen, in: Hans-Joachim Rudolphi [Gesamtredaktion], Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Luchterhand: München/Unterschleiß, 1976 ff., hier: März 2005, 63. Lfg., § 129, RN 20 und die dortigen Verweise.

21 Walischewski, (a.a.O. [FN 13]), 584, 585; Kinzig, a.a.O., (FN 9), 168 bei FN 37.

22 Diese Definition des Vereinigungs-Begriffs im § 129 StGB entsprach im übrigen ziemlich genau der Definition des Vereins-Begriffs, die auch heute noch im Vereinsgesetz steht: „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__2.html; Hv. hinzugefügt)

23 Anschließend heißt es dort dort zum Unterschied zwischen dem Begriff der Vereinigung einerseits und den Begriffen der MittäterInnenschaft und der Bande andererseits:
Damit unterscheidet sich die kriminelle Vereinigung von der bloßen Mittäterschaft im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB, die lediglich die gemeinschaftliche Tatbegehung, also ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken der Tatgenossen mit Täterwillen voraussetzt. Der Unterschied zur weiteren Form kriminellen Zusammenwirkens mehrerer, nämlich der Bande (vgl. § 244 Abs. 1 Nr. 3, § 250 Abs. 1 Nr. 4 StGB, § 30 Abs. 1 Nr. 1 BtMG 1981) liegt darin, daß bei dieser mindestens zwei Mitglieder (BGHSt 23, 239) ein kriminelles Gemeinschaftsinteresse verfolgen müssen, wobei zwar ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl gefordert wird, jedoch eine lose Zusammenfügung ohne besondere Organisationform ausreicht (BGH NStZ 1982, 68; BGH bei Holtz MDR 1977, 282). Eine gegenseitige Verpflichtung der Mitglieder wird ebensowenig vorausgesetzt (BGH GA 1974, 308) wie eine abschließende Rollenverteilung (BGH, Urteil vom 1. September 1977 – 2 StR 276/77). Demgegenüber verlangt die kriminelle Vereinigung ein gewisses Mindestmaß an fester Organisation; verbindet drei Täter nur der Wille, vorübergehend gemeinsam Straftaten wie Diebstähle, Betrügereien oder Urkundenfälschungen zu begehen, so reicht auch der Umstand, daß einer der Anführer ist, der die größere Übersicht hat und dem daher im wesentlichen die Planung als Aufgabe zufällt, nicht aus, um eine solche feste Organisation annehmen zu können (BGH NStZ 1982, 68; BGH bei Holtz MDR 1977, 282).“

24 Beschluss vom 07.11.1956 zum Aktenzeichen 6 StR 137/55 (BGHSt 10, 16 [17]; https://www.prinz.law/static/urteile/web/viewer.html?file=https://www.prinz.law/static/urteile/pdf//bgh/6_StR_137-55.pdf, S. 6): „Das Landgericht geht dabei zutreffend davon aus, dass der Begriff der Verbindung oder Vereinigung einmal die Unterordnung des einzelnen unter den Willen einer Gesamtheit, also einen organisatorischen Zusammenschluss, zum anderen einen auf längere Dauer angelegten Zusammenschluß dieser Art voraussetzt.“

Nebenbei lernen wir also auch noch: Bei „Verbindung“ und „Vereinigung“ handelte es sich nach insoweitigem damaligen juristischen Sprachgebrauch um zwei Wörter mit ein- und derselben Bedeutung.

25 z.B.

  • Friedrich Oskar Schwarze, Commentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Fues: Leipzig, 18733, [urn:nbn:de:bvb:12-bsb11439274-9] 853 (Sach- und Wortregister: „Verbindungen, staatsgefährliche“)

  • Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, Mohr: Tübingen, 19085-7, 231 / 193118 , 321: „staatsfeindliche Verbindung“:

  • Otto Schwarz, Strafgesetzbuch mit den wichtigsten Nebengesetzen des Reiches und Preußen, Liebmann: Berlin, 19331 (Stand vom 15. November 1932) / ders., Strafgesetzbuch mit allen wichtigen Nebengesetzen und Verordnungen, Beck: München/Berlin, 19397, § 129 (jew. die Überschrift).

26 „die Worterklärung [giebt] keinen Anlaß, unter Verbindung etwas anderes als unter Verein, Vereinigung, Gesellschaft zu verstehen; auch wurde in den Vorstadien des preußischen Strafgesetzbuches, dessen §§. 98, 99 in den hierher gehörigen Teilen den §§ 128, 129 des jetzigen Strafgesetzbuches genau übereinstimmen (vgl. Motive zu §§. 125 – 127 des Entwurfes zum jetzigen Strafgesetzbuche), jene Ausdrücke sämtlich und der eine für den anderen gebraucht.“ (RGSt 13, 273 – 285 [273])

27 in der Reichsgerichts-Entscheidung „sozialdemokratische Partei“ (ebd., 278).

28 Der Kopenhagener Kongreß scheint eine Art Exil-Parteitag oder andere Tagung von SDAP-Mitgliedern gewesen zu sein – vielleicht auch nur eine Parteivorstands-Sitzung: das Reichsgericht sprach von einem Kreis, der „die Partei führt“ (ebd., 279). Ob dies konkret auf den Kopenhagener Kongreß gemünzt oder nur eine theoretische Erwägung war, ist aber nicht ganz klar: „Daß es innerhalb einer politischen Partei eine Verbindung geben kann, die den Kern der Verbindung ausmacht und die Partei führt, unterliegt keinem Zweifel“.

29 Wie gesagt: Das Reichsgericht hob erst einmal nur ein freisprechendes Landgerichts-Urteil auf.

30 § 11: „[1] Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdende Weise zu Tage treten, sind zu verbieten. [2] Bei periodischen Druckschriften kann das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen erstrecken, sobald auf Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer erfolgt.“
§ 19: „Wer eine verbotene Druckschrift (§§. 11, 12), oder wer eine von der vorläufigen Beschlagnahme betroffene Druckschrift (§. 15) verbreitet, fortsetzt oder wieder abdruckt, wird mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.“
Vgl. heute § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) und meine Artikel zum Fall „Radio Dreyeckland“ (Kriminalisierung der Verlinkung des Archiv von linksunten.indymedia).

31 „da das [preußische Vereins]Gesetz den Begriff eines Vereins nicht näher definirt, [kann] nur der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend sein […], nach welchem man unter einem Vereine jede dauernde Vereinigung Mehrerer zur Verfolgung bestimmter gemeinschaftlicher Zwecke versteht“ (Friedrich Christian Oppenhoff [Hg.], Die Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals und des Königlichen Ober-Appellations-Gerichts in Strafsachen. Bd. 10, Reimer: Berlin, 1869, 279 – 282 [279 f.])

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