vonDetlef Georgia Schulze 25.05.2024

Theorie als Praxis

Hier bloggt Detlef Georgia Schulze über theoretische Aspekte des Politischen.

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In Karlsruhe steht zur Zeit der Redakteur von Radio Dreyeckland (RDL), Fabian Kie­nert, vor Gericht. Er soll einen verbotenen „Verein“ – den früheren BetreiberInnen­kreis von linksunten.indymedia – unterstützt haben. Dies soll dadurch geschehen sein, daß er in einem Artikel auf der RDL-Webseite das Archiv von linksunten.indy­media verlinkte.

Eines der vielen Merkwürdigkeiten an dem Verfahren ist: Jahrelang (von Januar 2020 bis Juli/August 2023) schien sich der Staat nicht sonderlich für das Archiv zu interessieren – ich versuchte in den letzten Wochen herauszufinden, warum nicht. Dies interessierte mich aus zwei Gründen:

  • Das, was bis zum Sommer 2023 dazuführte, daß kein Ermittlungsverfahren wegen der Archiv-Veröffentlichung eingeleitet wurde (so jedenfalls der bisheri­ge Informationsstand), könnte auch dagegen sprechen, daß dann im Sommer 2023 doch eines eingeleitet wurde; und erst recht dagegen sprechen, daß Fa­bian Kienert angeklagt wurde – denn: Wenn die Veröffentlichung des Archivs keine Straftat war, wie soll dann die Verlinkung des Archivs eine Straftat dar­stellen, Staatsanwaltschaft Graulich?

  • Selbst, falls sich ein derartiger unmittelbarer pragmatischer Nutzen für das Kienert-Verfahren nicht ergeben sollte, wäre interessant, herauszufinden, nach welchen Kriterien Strafverfolgungsbehörden Sachverhalte, die grund­sätzlich für Strafverfahren in Betracht kommen, tatsächlich verfolgen oder ignorieren.

Eine von der tagesschau diagnostizierte Unklarheit

Eines liegt jedenfalls auf der Hand: Die Veröffentlichung des linksunten-Archivs kam für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in Betracht; und wenn das Archiv durch den alten linksunten-BetreiberInnenkreis erfolgt wäre, hätte die Einleitung ei­nes Ermittlungsverfahrens – zumindest gegen „unbekannt“ – (oder zumindest die Prüfung der Einleitung eines solchen Ermittlungsverfahrens) nahegelegen.

Die tagesschau schrieb aus Anlaß der Archiv-Veröffentlichung:

„Seit dem 16. Januar ist ein Archiv der verbotenen Seite ‚linksunten.indymedia‘ wieder auf mehreren Seiten im Netz einsehbar. Ob die erneute Abrufbarkeit des ‚linksunten‘-Archivs auch unter das Verbot von 2017 fällt, ist unklar.“
(https://www.tagesschau.de/inland/indymedia-verbot-101.html)

Ein durchschnittlich engagierter Staatsanwaltschaft, der von der Archiv-Veröffentli­chung erfährt, und zumal ein Staatsanwalt, der – wie der Karlsruher Staatsschutz-Staatsanwalt Graulich – als besonders bissig gegen links gilt, hätte meines Erach­tens ein eminentes Interesse haben müssen, die von der tagesschau angesproche­ne ‚Unklarheit‘ in Klarheit zu verwandeln.

§ 152 Absatz 2 Strafprozeßordnung:

„Sie ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgba­ren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“

§ 160 Absatz 1 Strafprozeßordnung:

„Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Ver­dacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen.“


Der komplette Artikel als .pdf-Datei:


Die von der tagesschau angesprochene ‚Unklarheit‘ in Klarheit zu verwandeln, hätte erfordert, herausfinden, welche Person/en das Archiv veröffentlicht hat/haben. Denn jedenfalls dann, wenn die Veröffentlichung des Archivs nicht durch Mitglieder des al­ten BetreiberInnenkreises und auch nicht im Auftrag des alten BetreiberInnenkreis erfolgte, ist klar, daß die Veröffentlichung des Archivs jedenfalls keine Straftaten nach §§ 85, 86 StGB und § 20 Vereinsgesetz1 darstellt.2

Eine notwendige Zwischen-Erläuterung:

Warum die Veröffentlichung des linksunten-Archivs jedenfalls dann keine Straftat darstellte, wenn sie nicht durch den verbotenen „Verein“ erfolgte

In Bezug auf §§ 85, 86 StGB (Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot / Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) kam und kommt eine Strafbarkeit durch die Archiv-Veröffentlichung deshalb nicht in Be­tracht, weil diese Paragraphen einen „unanfechtbar verbotenen“ Verein (oder eine Vereinigung, die auf der EU-Terrorliste steht) voraussetzen. Auf der EU-Terrorliste steht der angebliche „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ selbstverständlich nicht; und „unanfechtbar“ wurde das linksunten-Verbot erst dadurch, daß das Bundesverwal­tungsgericht am 29.01.2020 die fristgemäß vorgenommene Anfechtung des Verbots (durch Klageerhebung) negativ beschied.

Die Archiv-Veröffentlichung erfolgte aber bereits rund 2 Wochen vorher – laut tages­schau am 16.01.2020 (wofür auch der entsprechende de.indymedia-Artikel vom 16.01.2020 spricht, der am 17.01.2020 von archive.org erstmals gespeichert wurde).

Für § 20 Vereinsgesetz (Zuwiderhandlungen gegen Verbote) genügt ein ‚vollziehbar verbotener‘ Verein; vollziehbar war das linksunten-Verbot von Anfang an.

  • Dort kommt aber, wenn das Archiv nicht durch den verbotenen „Verein“ veröf­fentlicht wurde, ausschließlich die Tatbestandsvariante der Unterstützung ei­nes vollziehbar verbotenen Vereins (durch Außenstehende) in Betracht.

  • Ein Äquivalent zu § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungs­widriger und terroristischer Organisationen) gibt es dagegen in § 20 Vereins­gesetz nicht.

  • Stellt die Archiv-Veröffentlichung eine Unterstützung des verbotenen Vereins dar? Meines Erachtens: Nein – und zwar aus vier von einander unabhängi­gen Gründen:

    • Einen „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ gab es nie. Der alte BetreiberInnen­kreis von linksunten.indymedia hieß vielmehr IMC linksunten, wobei „IMC“ für „Independent Media Centre“ stand.

    • Selbst wenn wir die Falschbezeichnung des gemeinten Verbotsobjekts ignorieren: Nichts deutet darauf hin, daß der alte BetreiberInnenkreis Mitte Januar 2020 noch existierte; die alten linksunten-Artikel wurde bereits am 25.08.2017 brav aus dem Netz genommen; es gab nicht einmal eine politi­sche Stellungnahme zum Verbot.

      Folglich konnte der verbotene Verein schon damals nicht mehr unterstützt werden.

    • Der in § 85 StGB und § 20 Vereinsgesetz identische Unterstützungs-Be­griff muß so interpretiert werden, daß er weder sogenannte (Sympathie)Werbung erfaßt; noch Progandamittelverbreitung erfaßt. War­um?

      • Weil es Propagandamittelverbreitung als eigenen – spezielleren3 – Straftatbestand gibt, aber ausschließlich in Bezug auf bereits „unan­fechtbar“ verbotene Vereine (BTag-Drs. V/2860, S. 9: Unzulässigkeit, „in § 86 StGB i. d. AF beschlossenen Einschränkungen“ zu umgehen). Daraus kann geschlossen werden, daß die Verbreitung von Pro­pagandamitteln bloß vollziehbar verbotener Vereine nicht strafbar ist.

      • Und den Straftatbestand der Werbung für vereinsrechtlich verbotene Vereine gab es zwar bis 1968, aber er wurde von den Gesetzgebungs­organen 1968 bewußt nicht ins neue, etwas liberalisierte Politische Strafrecht übernommen (BTag-Drs. V/2860, S. 6).

    • Ohnehin ist das Archiv, wenn es nicht durch den verbotenen Verein oder in dessen Auftrag veröffentlicht wurde, kein Propagandamittel des verbote­nen Vereins, sondern derjenigen Person oder Personen, die das Archiv veröffentlicht und das dazugehörige Vorwort geschrieben hat oder haben (siehe unten S. 5).

    • Und das Vorwort ist nicht identifikatorisch in Bezug auf die dokumentierten alten linksunten-Artikel, sondern historisierend („Geschichte erzählen“; vgl. auch: „10 Jahre Bewegungsgeschichte“).

      Also: Nicht einmal sog. Sympathiewerbung; und selbst wenn das Archiv-Vorwort + Dokumentation der alten Texte Sympathiewerbung wäre, wäre sie nicht strafbar (siehe oben: BTag-Drs. V/2860, S. 6).

Aus diesen Gründen hängt die Strafbarkeit der Archiv-Veröffentlichung also daran, ob sie durch den verbotenen Verein erfolgte.

  • Dagegen spricht aber wiederum, daß es auch schon vor dem Verbot einen „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ nie gab – das Verbot wäre also ausgegangen wie das Hornberger Schießen, wenn sich die linksradikale Szene ihm nicht gebeugt hätte.

  • Aber selbst, wenn die Falschbezeichnung für unschädlich gehalten wird (wie es des Karlsruher Staatsanwalts Graulich Auffassung jedenfalls mittlerweile zu sein scheint), bleibt für Herrn Graulich das Problem, daß der verbotene Verein / der alte BetreiberInnenkreis jedenfalls als solcher nicht mehr in Er­scheinung tritt: Es gab

    eine Erklärung des alten BetreiberInnenkreis zu dem Verbot und dazu, wie er mit dem Verbot umgeht.

    Auch nach Veröffentlichung des Archivs (mit neuem Vorwort und neuen Re­cherchetools) wurde der laufende Betrieb der Plattform nicht wieder aufge­nommen.

    Schließlich: Nicht einmal die Archiv-Veröffentlichung erfolgte im Namen des verbotenen Vereins.4

Sollte das Archiv dagegen doch von dem verbotenen Verein / alten BetreiberInnen­kreis veröffentlicht worden sein, so würde es sich aber wahrscheinlich schon um eine Straftat handeln.5 Denn ein verbotener Verein darf weder weiterhin organisatori­schen Zusammenhalt haben noch sich betätigen – folglich auch nicht in Form der Veröffentlichung eines ‚digitalen Reprints‘ seiner alten Publikation. Andere (natürli­che Personen und nicht-verbotene Vereine) dürften solche digitalen Reprints aber – wie oben dargelegt – sehr wohl herausgeben. Denn solchen Dritten ist ja weder Existenz noch Betätigung verboten. Auch sind ‚(digitale) Reprints‘ durch Dritte (mit neuem Vorwort) – wie schon gesagt – deren Propagandamittel und kein Propagan­damittel der verbotenen Organisation:

„Im vorliegenden Fall handelt es sich um die – mit einer Vorbemerkung versehene – Heraus­gabe fremder Texte. Deshalb stellt sich die Frage, worauf die Prüfung zu beziehen ist. Nach Ansicht des Senats kann es nur darauf ankommen, ob der Publizierende selbst (eindeutig) wirbt oder unterstützt, nicht auf die werbende oder unterstützende Wirkung der veröffentlich­ten fremden Texte als solcher (vgl. Rebmann, NStZ 1981, 461 f.; und Giehring, StV 1983, 309). Das folgt ohne weiteres daraus, daß Werben und Unterstützen zielgerichtete Tätigkei­ten sind.“
(Oberlandesgerichts Schleswig, Beschluß vom 30.10.1987 zum Az. 2 OJs 11/87; NStE Nr. 3 zu § 129a StGB6Neue Juristische Wochenschrift 1988, 352 – 353 [352])

Des Pudels Kern:

Warum hat die Karlsruher Staatsanwaltschaft nach Veröffentlichung des links­unten-Archivs zunächst kein Ermittlungsverfahren eingeleitet?

In Betracht kommen mehrere hypothetische Gründe:

  • Die Staatsanwaltschaft hatte die Archiv-Veröffentlichung zunächst gar nicht mitbekommen. Das mag sein – aber spätestens bei Einleitung des Ermitt­lungsverfahren gegen Kienert wegen dessen Archiv-Verlinkung wußte sie ja von der Archiv-Veröffentlichung. – Weshalb damals also nicht auch gleich ein Ermittlungsverfahren wegen der Archiv-Veröffentlichung selbst?

  • Vielleicht weil die Staatsanwaltschaft – richtigerweise – keine tatsächlichen Anhaltspunkt dafür sah, daß die Archiv-Veröffentlichung durch den verbote­nen „Verein“ erfolgte. – Aber warum dann überhaupt das Ermittlungsverfahren und die Anklage gegen Kienert? Ich weiß es nicht (eine entsprechende Anfra­ge an die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wurde mir von dieser nicht beantwor­tet) – aber vermutlich, weil der zuständige Staatsanwalt zunächst schlicht übersehen hatte, daß nur existierende Vereine unterstützt werden können.

  • Oder die Staatsanwaltschaft hielt die Archiv-Veröffentlichung nicht einmal dann für eine Straftat, falls das Archiv durch den verbotenen „Verein“ / alten BetreiberInnenkreis erfolgt sein sollte. Das wäre dann freilich nahezu linksra­dikales Wunschdenken.

  • Oder die Staatsanwaltschaft hielt sich schlicht für örtlich nicht zuständig. Aber warum nicht, wenn das Archiv durch den verbotenen Verein / alten Betreibe­rInnenkreis erfolgt sein sollte? – Die Staatsschutz-Abteilung der Karlsruher Staatsanwaltschaft ist für ganz Baden-Württemberg den ganzen OLG-Bezirk Karlsruhe [Korrektur vom 02.06.2024] zuständig. Freiburg liegt in Baden-Württemberg im OLG-Bezirk Karlsruhe [Korrektur vom 02.06.2024], und es war niemals behauptet worden, der verbotene „Verein“ / alte BetreiberInnenkreis habe Mitglieder und/oder organisatorische Strukturen außerhalb Freiburgs.

    Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe
    Auskunft der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 28.05.2024: „Staatsschutz-Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg sind die Staatsanwaltschaften Stuttgart und Karlsruhe sowie die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart.“

    Bei Annahme, die Veröffentlichung des linksunten-Archivs sei durch den alten BetreiberInnenkreis erfolgt, wäre die örtliche Zuständigkeit der Karlsruher Staatsanwaltschaft unmittelbar gegeben. – Warum also zunächst keine Ein­leitung eines Ermittlungsverfahrens nach Archiv-Veröffentlichung?

Ein Aal, der sich windet

Auf mein beharrliches Nachfragen, das dazuführte, daß sich der Pressesprecher der Karlsruher Staatsanwaltschaft schon über die Überstunden beklagte, die er wegen meiner ganzen Fragen machen müsse, kam in inhaltlicher Hinsicht aber nur ein Winden nach dem anderen (vielleicht um zu vermeiden, zuzugeben, daß auch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe zunächst nicht davon ausging, daß das Archiv durch den alten Verein veröffentlicht wurde; weiß ich aber nicht, da sich die Staatsanwalt­schaft windet, wie ein Aal). Außerdem kam dabei am vorläufigen Ende heraus, daß es doch ein weiteres – der Öffentlichkeit bisher unbekanntes – Ermittlungsverfahren wegen linksunten gab. Auch dieses wurde allerdings eingestellt oder versandete an­derweitig – der zuständige Staatsanwalt erinnert sich angeblich an nichts Genaues mehr…

Rekonstruktion einer Recherche

Im .pdf-Anhang (ab S. 10) zu diesem Artikel findet sich mein kompletter mail-Wechsel mit der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Karlsruhe vom 19.12.2023 bis zum 16.05.2024 zum Komplex ‚Anfangsverdacht auf Fortbestehen des ›Vereins ‚linksun­ten.indymeida’‹‘; hier sei zunächst einmal nur die Antwort-mail der Pressestelle vom 16.05.2024 (= Donnerstag der vergangen Woche) zitiert:

„Das Archiv selbst war bereits vorher [vor Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen den RDL-Journalisten Fabian Kienert] bekannt. Der exakte erstmalige Zeitpunkt lässt sich aber nicht mehr feststellen. Nach Erinnerung des zuständigen Dezernenten gab es in diesem Zu­sammenhang einmal ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe gegen Unbekannt. Diese wurde entweder nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt oder (wohl eher) an eine andere Staatsanwaltschaft abgegeben. Dies war dem Dezernenten nicht mehr erinnerlich, ebenso wenig das Aktenzeichen o.ä. (mit dessen Hilfe ich die Frage Einstellung vs. Abgabe hätte klären können). Zeitlich war dies aber vor dem RDL-Verfahren.
Wie bereits ausgeführt, wird ein Ermittlungsverfahren bei Vorliegen eines Anfangsverdachts eines in die hiesige Zuständigkeit fallenden Straftat eingeleitet. Nachdem diese Vorausset­zungen nach Beurteilung des Dezernenten (Stichwort: ‚kritische Masse‘) erfüllt waren, hat er mit Verfügung vom 19.06.2023 ein neues Ermittlungsverfahren gegen mehrere in den hiesi­gen Zuständigkeitsbereich fallende Beschuldigte (d.h. Js-Verfahren) eingeleitet.“

Am Ende (S. 22) des Anhangs findet sich ein „Resümee des mail-Wechsels mit der Staatsanwaltschaft Karlsruhe“.

Die zentrale Leerstelle der Antworten der Staatsanwaltschaften ist jedenfalls: Worin soll die angebliche „kritische Masse“ für die Einleitung des neuen Ermittlungsverfah­rens bestanden haben? Was hatte sich – angeblich – gegenüber vorher geändert, als keine bzw. nur versandete Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren? Sto­chert die Staatsanwaltschaft einfach nur im Nebel?

Liste der nunmehr öffentlich bekannten Strafverfahren im Zusammenhang mit dem linksunten-Verbot

  • Das eingestellte7 § 129 StGB-Ermittlungsverfahren (Aktenzeichen der Staats­anwaltschaft Karlsruhe: Az. 540 Js 35605/17) gegen vermeintliche Mitglieder des alten linksunten-BetreiberInnenkreises.

  • Das – nach Anklageerhebung, aber vor Eröffnung des strafrechtlichen Haupt­verfahrens verjährte8 – Strafverfahren [Aktenzeichen des Landgerichts Berlin: (502 KLs) 231 Js 3168/18 (5/19)9] gegen Peter Nowak, Achim Schill und mich selbst wegen unserer Protesterklärung gegen das linksunten-Verbot10, die wir weiterhin für politisch richtig halten und die jedenfalls ich weiterhin für legal hal­te.

  • Die Verurteilung eines – vor Gericht anscheinend anwaltlich nicht vertretenen – Augsburger Arbeitslosen wegen Verwendung des angeblichen Kennzei­chens des verbotenen Vereins.11

  • Ein eingestelltes Ermittlungsverfahren wegen Verwendung einer farblichen Abwandlung des linksunten-Logos durch die Rote Hilfe Kiel.12

  • Das laufende Strafverfahren gegen Fabian Kienert (Radio Dreyeckland) we­gen seiner Verlinkung des Archivs von linksunten (Aktenzeichen des Landge­richts Karlsruhe: 5 KLs 540 Js 44796/22).

  • Das neue § 85 StGB-Ermittlungsverfahren (Aktenzeichen der Staatsanwalt­schaft Karlsruhe: 540 Js 26024/23) gegen vermeintliche Mitglieder des alten linksunten-BetreiberInnenkreises, in dessen Rahmen es am 02.08.2023 in Freiburg zu Durchsuchungen kam und das ebenfalls noch läuft.

  • Und schließlich das jetzt bekannt gewordene versandte Ermittlungsverfahren, zu dem die Staatsanwaltschaft Karlsruhe angeblich nicht einmal das Akten­zeichen weiß.


1 Die eventuelle Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt eines eventuellen – meines Erachtens nicht gege­benen – Zueigenmachens von alten linksunten-Artikeln, die eventuell Äußerungsdelikte darstellten, sei an dieser Stelle (im Interesse der Komplexitäts-Reduktion) vernachlässigt.

2 Diese These wird im folgenden nur knapp begründet. Für ausführlichere Begründungen siehe vor allem:

3 Vgl.: lex specialis derogat legi generali – das speziellere Gesetz verdrängt die allgemeineren Gesetze.

4 „Indymedia hieß immer, selbst zu entscheiden ob etwas veröffentlicht wird oder auch nicht. Darum ent­scheiden WIR uns jetzt, diese 10 Jahre Bewegunsgeschichte wieder zugänglich zu machen. […]. Wir ha­ben keinerlei Verbindung zu den Menschen, die linksunten.indymedia.org ursprünglich betrieben haben. Wir sind einfach ein paar Aktivist*innen, denen es wichtig ist, diese Seite als Archiv zugänglich zu ma­chen.“ (https://web.archive.org/web/20200117153301/https://de.indymedia.org/node/59795)

5 Allerdings könnte eingewandt werden, nicht nur für Außenstehende, sondern auch für Mitglieder beste­he ein Spezialitäts-Vorrang von § 86 StGB (Propagandamittelverbreitung) gegenüber § 85 StGB (mit­gliedschaftliche Betätitung usw.); vgl. BTag-Drs. V/2860, S. 9 (Unzulässigkeit, „in § 86 StGB i. d. AF be­schlossenen Einschränkungen“ zu umgehen).
Dann müßte auch in Bezug auf Mitglieder und nicht nur in Bezug auf Außenstehende das Archiv unter den Gesichtspunkten des § 86 Absatz 3 und 4 StGB geprüft werden:
(3) Propagandamittel im Sinne des Absatzes 1 ist nur ein solcher Inhalt (§ 11 Absatz 3), der gegen die freiheitli­che demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist. Propagandamittel im Sinne des Absatzes 2 ist nur ein solcher Inhalt (§ 11 Absatz 3), der gegen den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation oder gegen die Verfassungsgrundsätze der Bundesrepu­blik Deutschland gerichtet ist.
(4) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfas­sungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichter­stattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“
(https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__86.html)

Der BGH entschied aber bereits einmal in den 1970er Jahren – dort in Bezug auf die verbotene KPD –, daß sich verbotene Organisationen selbst nicht auf die Einschränkungen in § 86 StGB berufen dürften – u.a. da sie schon gar nicht mehr existieren dürfen (vgl. https://research.wolterskluwer-online.de/document/8054a460-efed-411b-aa31-e12b4230f1db, Textziffer 6 und 17; vgl. https://www.freie-radios.net/120448 und https://www.freitag.de/autoren/dgsch/politische-justiz-mitte-februar-vor-55-jahren).

6 Die Entscheidung reicht von der Vorderseite von Blatt 34 bis zur Rückseite von Blatt 35; das angeführte Zitat befindet sich auf der Rückseite von Blatt 34. Die Zitate von Rebmann und Giehring sind dort: https://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2024/05/Stand_d_RDL-Verfahens.pdf auf S. 15 f. in Endnote i und ii angeführt.

7 https://blogs.taz.de/theorie-praxis/auf-die-gefahr-hin-autonome-eitelkeit-zu-kraenken/.

8 https://de.indymedia.org/sites/default/files/2023/02/Verjaehrung__kurz.pdf.

9 Vgl. anschließend: Kammergericht Berlin, Beschluß vom 24.05.2022 zum Aktenzeichen 1 Ws 29/22 – 171 AR 46/22.

10 https://web.archive.org/web/20220307223100/http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/2017/08/31/linksunten-solidarisch-zu-sein-heisst-sich-dem-verbot-zu-widersetzen/.

11 Siehe dazu:

12 „Der erste Zeuge war derjenige Beamte beim LKA Baden-Württemberg, der für nahezu alle Verfahren mit möglichem linksunten-Bezug zuständig war. Seine Zusammenfassung der seit dem Verbot begonne­nen Ermittlungen ergab: Hinweise auf eine aktive Fortführung des ‚Vereins‘ gibt es nicht. Die Rote Hilfe Kiel habe ein ähnliches Logo in anderer Farbe auf einem Flyer verwendet und es habe vereinzelte Aufru­fe zur Erstellung eines Archivs der verbotenen Plattform gegeben.“ (https://rdlsoli.noblogs.org/post/2024/04/28/prozessbericht-tag-3/ vom 28.04.2024)

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https://blogs.taz.de/theorie-praxis/ein-bisher-unbekanntes-versandetes-ermittlungsverfahren-im-linksunten-kontext/

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kommentare

  • Bei Fußnote 11 des Artikel hieß es:

    „Die Verurteilung eines – vor Gericht anscheinend anwaltlich nicht vertretenen – Augsburger Arbeitslosen wegen Verwendung des angeblichen Kennzeichens des verbotenen Vereins.“

    Dies beruhte auf dem seinerzeitigen – in Fußnote 11 genannten – Bericht der Augsburger Allgemeinen („er [der Anklagte ist] zu einer Geldstrafe von 900 Euro verurteilt worden“). Inzwischen hat mir das Amtsgericht Augsburg mitgeteilt:

    „Das Aktenzeichen lautet 14 Cs 101 Js 137561/17. Der Einspruch gegen den Strafbefehl vom 10.11.2017 wurde in der Hauptverhandlung vom 15.01.2018 zurückgenommen. Der Strafbefehl wegen Zuwiderhandlung gegen Verbote gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 5 VereinsG und einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 15 Euro ist damit rechtskräftig geworden. Ein Urteil ist deshalb nicht ergangen. Ob der ‚Verein ›linksunten.indymedia‹‘ verbotswidrig fortbestand, war nicht Gegenstand der Prüfung.“

  • Der Artikel enthielt in der ursprünglichen Fassung einen Fehler:

    „Die Staatsschutz-Abteilung der Karlsruher Staatsanwaltschaft ist für ganz Baden-Württemberg zuständig. Freiburg liegt in Baden-Württemberg, […].“

    Zwar liegt Freiburg in der Tat in Baden-Württemberg; aber die baden-württembergische Staatsschutz-Zuständigkeit liegt nur, soweit es den OLG-Bezirk Karlsruhe betrifft, aber nicht darüber hinaus, bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe. Freiburg liegt allerdings nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch im OLG-Bezirk Karlsruhe.

    Im OLG-Bezirk-Stuttgart liegt die Staatsschutz-Zuständigkeit bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Siehe auch die Korrektur im obigen Artikel. –

    Der Irrtum in Bezug auf den örtlichen Umfang der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Karlsruhe in Staatsschutz-Sachen findet sich vermutlichen auch in anderen Artikeln von mir zum Fall „Radio Dreyeckland“. Ich hatte die Information irgendwann von irgendwoher ungeprüft übernommen und wurde jetzt von der Staatsanwaltschaft Stuttgart auf meinen Irrtum aufmerksam gemacht.

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