Die Hamburger Morgenpost meldete heute morgen „Durchsuchungen in mehreren Thüringer Städten und in anderen Bundesländern“. Außerdem sprach sie allgemeiner von „Ermittlungen“ (also: nicht unbedingt Durchsuchungen) „in Thüringen, Sachsen, Baden-Württemberg, Hamburg und in Niedersachsen.“ Betroffen sei die „linke Szene“; auch die Zeit spricht von „Ermittlungen in der linken Szene“.
Die Staatsanwaltschaft Gera bestätigte mir auf Anfrage Durchsuchungen von „über 20 Objekte[n]“ – „im Schwerpunkt […] in Thüringen und in Sachsen, darüber hinaus vereinzelt auch in anderen Bundesländern; ein Durchsuchungsobjekt befindet sich in Hamburg.“ Durchsuchungen in Baden-Württemberg und Niedersachsen wurden also nicht ausdrücklich bestätigt, können aber mit „vereinzelt auch in anderen Bundesländern“ gemeint sein. Mit der bloßen und vagen Angabe „über 20 Objekte“ wich die Staatsanwaltschaft der konkreten Frage nach Anzahl der Durchsuchungs-Betroffenen und Anzahl der durchsuchten Objekt pro jeweiliger Person aus.
Immerhin teilte die Staatsanwaltschaft unter anderem noch mit:
„Gegenstand der Ermittlungen sind Vorfälle bei einem Demonstrationsgeschehen am 1. Mai 2023 in der Innenstadt von Gera. Es wird in diesem Zusammenhang im Schwerpunkt wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs, aber auch wegen anderer Delikte wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte sowie Straftaten nach dem Versammlungsgesetz – Verstoß gegen das Vermummungs- und das Uniformverbot – ermittelt.“ (Hyperlinks hinzugefügt)
Das Vorgehen der Polizei bei dem fraglichen „Demonstrationsgeschehen“ war – laut einem Bericht des Mitteldeutschen Rundfunks vom 3. Mai – bei Abgeordneten der Thüringer Regierungsparteien Die Linke, SPD und Grüne auf Kritik gestoßen.
Bei dem „Demonstrationsgeschehen“ handelte es sich um einen „Kampftag der Patrioten“, dessen Anmelder – ebenfalls laut MDR – Verbindungen zur Kameradschaft „Thüringer Heimatschutz“ unterhalten haben soll, der auch die NSU-Mitglieder Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos entstammten, sowie eine antifaschistische Gegendemonstration. Am 3. Oktober 2022 schwadronierte der Anmelder des späteren „Kampftages“ bei einer anderen Veranstaltung, „Massenmigration, Klimawandel, Corona, Impfung oder Ukraine-Krieg“ – alles diene „einem großen Plan“. Ob der Kampftags-Anmelder meinte, beispielsweise der Klimawandel werde absichtlich herbeigeführt („dient einem großen Plan“), geht aus dem MDR-Bericht nicht klar hervor.
Polizeiknüppel und Tränengas, um Rechten den Vortritt zu gewähren?
Die Grüne Landtagsabgeordnete, Madeleine Henfling, informierte am 1. Mai diesen Jahres mittels eines posts bei dem Kurznachrichtendienst, der unter der Adresse twitter.com erreichbar ist: „Weil Versammlungsbehörde in #Gera die Nazidemo bevorzugt behandelt und antifaschistische Demo warten sollte, wurde die Route jetzt geändert.“
Es soll dann – laut MDR – zu dem Versuch gekommen sein, den Vortritt der Rechten nicht zu dulden und eine „Polizeikette den Angaben [der Polizei] zufolge auch mit dem Zünden von Rauchbomben durch[zu]brechen. Die Polizei setzte Tränengas und Schlagstöcke ein, um dies zu verhindern.“ „Nachdem einige linke Demonstranten versucht hätten eine Polizeikette zu durchbrechen, sei der Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas angemessen gewesen,“ so Innenminister Georg Maier (SPD), ebenfalls laut MDR.
Dagegen kritisierte seine Parteifreundin Diana Lehmann (MdL): „Meine Wahrnehmung ist, dass es aufgrund der immer wieder veränderten Zusagen zu dem Gefühl kam, es wird völlig willkürlich gehandelt“ (ebenfalls lt. MDR vom 03.05.2023).
Nun also Haussuchungen – nicht bei den rechten „Kampftags“-TeilnehmerInnen, sondern „gegen die linke Szene“ (MoPo).
Worin besteht der Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft?
Die Staatsanwaltschaft teilte des weiteren noch mit: „Die Maßnahmen richteten sich ausschließlich gegen Beschuldigte.“ „Durchsuchung bei Beschuldigten“, so der Titel dieses Paragraphen, sind in § 102 Strafprozeßordnung geregelt. Dieser lautet: „Bei dem, welcher als Täter oder Teilnehmer einer Straftat […] verdächtig ist, kann eine Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sachen sowohl zum Zweck seiner Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde.“
Voraussetzung dafür, daß es eine „Durchsuchung bei Beschuldigten“ geben kann, ist, daß es Beschuldigte gibt. Voraussetzung dafür, daß es Beschuldigte gibt, ist, daß es Ermittlungsverfahren gegen diese Personen gibt. Die Voraussetzungen dafür wiederum sind in § 152 Absatz 2 Strafprozeßordnung geregelt; dieser lautet: „Sie [Die Staatsanwaltschaft] ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“
Ich fragte die Staatsanwaltschaft Gera daher um 14:06 Uhr unter anderem auch noch:
„Sollten und wurden einige von den Durchsuchungs-Betroffenen ‚ergriffen‘1 (werden) und falls ja: Wieviele? Und hatten Sie diesbezüglich Erfolg?
„Welche Art von Beweismitteln meinen Sie, ein halbes Jahr nach dem Geschehen (fernab des Geschehens) noch auffinden zu können?“
„Durch welche Art von Handlungen (oder Unterlassungen) sollen die von Ihnen genannten Straftatbestände verwirklicht worden sein? Auf welche ‚zureichenden tatsächliche Anhaltspunkte‘ (§ 152 II StPO) stützen Sie Ihren Verdacht, daß gerade die Beschuldigten die in Rede stehenden Handlung ausgeführt (bzw. unterlassen) haben?“
Auf diese Fragen hat die Staatsanwaltschaft Gera bis Fertigstellung dieses Berichtes (Mittwoch, 18:03 Uhr) nicht geantwortet; weitere Berichterstattung folgt. Immerhin erwähnte die Staatsanwaltschaft noch: „Unter den Beschuldigten, gegen die wegen der genannten Vorwürfe Ermittlungen geführt werden, befinden sich auch solche, bei denen heute nicht durchsucht wurde.“ Weitere Durchsuchungen können also noch folgen.
1 Siehe noch einmal § 102 Strafprozeßordnung: „kann eine Durchsuchung […] sowohl zum Zweck seiner [des Beschuldigten] Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde.“
Bericht der ver.di-Zeitung menschen machen medien vom 19.12.2023 über einen (vorläufigen) Erfolg meines Versuchs weitere Informationen zu dem Fall zu erhalten:
Journalistin erstreitet Aktenzugang
https://mmm.verdi.de/beruf/journalistin-erstreitet-aktenzugang-93791.