vonDetlef Georgia Schulze 15.05.2024

Theorie als Praxis

Hier bloggt Detlef Georgia Schulze über theoretische Aspekte des Politischen.

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Am Dienstag foppte1 die Staatsanwaltschaft Karlsruhe in dem Prozeß gegen den Radio Dreyeckland-Journalisten, Fabian Kieniert, mit der These, das Archiv von linksunten.indy­media sei erst am 01.02.2020 – und nicht schon am 16.01.2020 – veröffentlicht worden. Warum könnte der Unterschied von rund zwei Wochen überhaupt relevant sein?

Fabian Kienert soll – wie hier schon ausgiebig berichtet – einen verbotenen angeblichen „Verein“ unterstützt haben – und zwar dadurch, daß er im Sommer 2022 das Archiv der der Webseite des 2017 des – angeblich unterstützten – verbotenen „Vereins“ in einem Artikel auf der Webseite seines Radiosenders verlinkte. Der BetreiberInnenkreis der Web­seite war 2017 unter der Falschbezeichnung „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ verboten wor­den (in Wirklichkeit hieß der BetreiberInnenkreis „IMC Linksunten“ und daß dieser vereins­förmig organisiert war, kann auch bei Kenntnis des § 2 Vereinsgesetz bezweifelt werden).

Eine der juristisch entscheidenden Fragen ist nun: Konnte der „Verein“ im Sommer 2022 als Kienert seinen Artikel veröffentlichte, überhaupt noch unterstützt werden – das heißt2: existierte der Verein – verbotswidrig – immer noch?

Die Veröffentlichung des Archivs der Webseite Anfang 2020 könnte dafür sprechen, daß der „Verein“ zumindest damals noch existierte – nämlich falls der Verein (und nicht irgend­welche anderen Leute oder eine Einzelperson, z.B. icke) das Archiv veröffentlicht hat. Welche Person/en das Archiv tatsächlich veröffentlicht hat/ben, ist der Öffentlichkeit und auch der Staatsanwaltschaft Karlsruhe unbekannt – aber letztere scheint nun der Ansicht zu sein, daß ein Archiv-Veröffentlichungsdatum „01.02.2020“ eher dafür spricht, daß es der alte BetreiberInnenkreis war, als ein Archiv-Veröffentlichungsdatum „16.01.2020“ (und damit hat sie durchaus nicht Unrecht – warum, wird am Ende dieses Artikels erklärt).

Die tagesschau und Die Zeit – für die Staatsanwaltschaft Teil der „Lügenpresse“?

Pferdefuß an dem neusten Versuch der Staatsanwaltschaft Karlsruhe, ihre zusammenbrechende Anklage zu retten: Die tagesschau und Die Zeit kannten das Archiv schon am 29.01. – also vor dem 01.02.2020.

„Seit dem 16. Januar ist ein Archiv der verbotenen Seite ‚linksunten.indymedia‘ wieder auf meh­reren Seiten im Netz einsehbar. Ob die erneute Abrufbarkeit des ‚linksunten‘-Archivs auch unter das Verbot von 2017 fällt, ist unklar.“
(https://www.tagesschau.de/inland/indymedia-verbot-101.html)

„Die Texte von linksunten sind seit ein paar Wochen, trotz Verbot, wieder verfügbar. Auf mehre­ren Websites wurde ein fast hundert Gigabyte umfassendes Archiv hochgeladen. Es wird in komprimierter Form auch zum Download angeboten. Linke Gruppen feiern das als Erfolg – ein großer Teil der Geschichte ihrer Bewegung sei damit wieder abrufbar.“
(https://www.zeit.de/digital/internet/2020-01/indymedia-linksunten-verbot-bundesverwaltungsgericht-website/komplettansicht)

Wie kam die tagesschau auf das Datum „16. Januar“? Vermutlich aufgrund eines Artikels, der an diesem Tag bei de.indymedia.org (eine weitere – chronologisch: die erste – deut­sche Subdomain der Domain indymedia.org, der Startseite von zahlreichen Nachrichten- und Diskussionsseiten der bewegungs-orientierten globalen Linken) erschienen war. In dem besagten Artikel vom 16.01.2020 es hieß unter anderem:

„Wir haben heute das vollständige Archiv von linksunten.indymedia.org unter der Adresse https://linksunten.archive.indymedia.org/ veröffentlicht. Aus dem Tor-Netzwerk erreicht ihr das Archiv direkt über folgende Onion-Adresse: http://xrlvebokxn22g6x5gmq3cp7rsv3ar5zpirzyqlc4kshwpfnpl2zucdqd.onion/

Was soll das Motiv gewesen sein, eine solche Behauptung aufzustellen, wenn sie nicht wahr wäre? Und warum sollten die tagesschau und Die Zeit eine solche vermeintliche Ente einfach nachquatschen? (Die KollegInnen dieser beiden Medien werden doch wohl hoffentlich zumindest so gut bezahlt werden, daß sie genug Zeit haben, die beiden Links mal anzuklicken und zu gucken, was es da tatsächlich gibt.)

Meine Spiegelung des Archivs – auch schon vor dem 1. Februar 2020

Ich hatte mir jedenfalls angesehen, was es unter den beiden Adressen gibt – und hatte auch die Gelegenheit genutzt, mir die kompletten Archiv-Daten (ob ich sie vielleicht auch vorher schon besaß, sei auch an dieser Stelle offengelassen) in „komprimierter Form“ her­unterzuladen, sie zu entpacken und anschließend in eigenem Webspace wieder hochzuladen. Das hatte ich am 23.04.2024 auch schon in der mündlichen Verhandlung gegen den Kollegen Kienert vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Karlsruhe aus­gesagt. – Ich kann jetzt noch zusätzlich mitteilen (falls ich es nicht schon vor drei Wochen beiläufig erwähnt hatte): Ich tat dies auch schon vor dem 01.02.2020 und sogar schon vor der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht über das linksunten-Ver­bot, die am 29.01.2020 stattfand.


Schaubild 1: Spätestens (bzw. unter anderem) am 21. und 22.01.2020 lud ich die .zip-Dateien auf eine für diesen Zweck angeschaffte Festplatte herunter. – Wie kommt die Staatsanwaltschaft Karlsruhe auf die Idee, die Archivseite, von der die .zip-Dateien stammen, sei erst am 01.02.2020 veröffentlicht worden?


Am 26.01.2020 berichtete Peter Nowak bei Telepolis über meine Archivspiegelung:

„Schon vor einer Woche wurde das Archiv von Indymedia Linksunten von Unbekannten wieder online gestellt. Die Anwälte der Kläger sprechen von einem Glücksfall für das Verfahren. Denn dadurch könnte nun bewiesen werden, dass sich die überwiegende Mehrheit der Beiträge nicht um militante, sondern um legale Aktionen dreht. Es sind relativ wenige und auch die werden durch andere Nutzer der Plattform inhaltlich kritisiert. Die Bloggerin Detlef Georgia Schulze hat jetzt das Archiv gespiegelt und namentlich mit einem eigenen Impressum gezeichnet.“
(https://www.telepolis.de/features/Tag-i-in-Leipzig-4646008.html)

Am 28.01.2020 informierte ich außerdem die Medienanstalt Berlin-Brandenburg – in Form eines Offenen Brief, der in der Ausgabe 2/2020 von „trend. onlinezeitung“ veröffentlicht wurde – über meine Spiegelung:


Schaubild 2: Seite 3 eines Offenen Briefes, den ich am 28.01.2020 an die Medienanstalt Berlin-Brandenburg sandte(ob meine Halbsatz, „nur standen mir die Daten bisher nicht zur Verfügung“, vielleicht gelogen war, sei offen gelassen).


Ein mögliches Motiv für die staatsanwaltliche Fehldatierung der Veröffentlichung des linksunten-Archivs

Warum mag die Staatsanwaltschaft Karlsruhe nun – trotz dieser eindeutigen Sachlage – die Behauptung von einer Archivveröffentlichung erst am 01.02.2020 aufgestellt haben?

Meine Vermutung ist: Weil eine Archiv-Veröffentlichung bereits am 16.01.2020 jedenfalls dagegen spricht, daß die Archiv-Veröffentlichung durch die Leute erfolgte,

  • die der Staat für Mitglieder des alten BetreiberInnenkreis hält,

  • denen er 2017 die linksunten-Verbotsverfügung in die Hände drücken ließ

    und

  • die gegen dieses Verbot erfolglos vor dem Bundesverwaltungsgericht klagten (weil sie es individuell und nicht als der verbotene „Verein“ kollektiv machten).

Es wäre geradezu widersinnig, erst rund 2 ½ Jahre (vom Verbot im August 2017 bis zur Archiv-Veröffentlichung im Januar 2020) stillzuhalten und dann unmittelbar vor der mündli­chen Verhandlung des Gerichts über die eigene Klage die Gerichtsentscheidung nicht wei­ter abzuwarten, sondern nun auf eigene Faust zu handeln (und damit – im Falle des Erwischtwerdens – eine Strafe in Kauf zu nehmen).

Selbst wenn gesagt würde, die fünf damaligen KlägerInnen seien um die Jahreswende 2019/2020 zur Überzeugung der Aussichtslosigkeit ihres juristischen Vergehens gelangt, würde sich die Frage stellen, warum sie dann nicht konsequenterweise – kostenreduzie­rend – ihre Klagen zurückgezogen haben, sondern nach dem Mißerfolg vor dem Bundes­verwaltungsgericht auch noch Verfassungsbeschwerde erhoben, und damit weitere Hono­rarrechnungen ihrer AnwältInnen provozierten.

PS.:

Falls es hier immer noch Leute gibt, die die Adresse des Archivs von linksunten.indymedia nicht kennen – sie lautet:

linksunten.indymedia.org.


1foppen Vb. ‘necken, veralbern’ (17. Jh.), zuerst (15. Jh.) belegt in der Bedeutung ‘schwindeln, lügen’. Frü­her bezeugt sind die Nomina agentis fopperin (14. Jh.) und fopper (Mitte 15. Jh.).“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/foppen)

2 „eine nichtexistente Vereinigung [kann] nicht unterstützt werden“ (OLG Stuttgart, Beschluß vom 12.06.2023 zum Aktenzeichen 2 Ws 2/23, Tz. 47).

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