dgs deckt in seinen/ihren hiesigen Artikeln aus letzter Zeit eine ganze Reihe von juristischen Schwachpunkten des staatlichen Vorgehens sowohl gegen Radio Dreyeckland als auch gegen die „Letzte Generation“ auf. Insbesondere an dem jüngsten Artikel stört mich allerdings die rein immanente (juristische) Kritik.
Auch wenn ich es nicht falsch ist, auch staatlichen Behörden inkompetentes oder schlampiges Verhalten nachzuweisen, so kann und sollte das meines Erachtens nicht die Hauptaufgabe einer linken Kritik sein. Denn das linke (und wohl auch liberale) Interesse ist ja wohl kaum darauf gerichtet, dass die staatliche Repression besser begründet wird, sondern darauf, dass sie zurückgedrängt wird.
Denn diese scheint mir – insbesondere im Falle „Letzte Generation“ schon ein außergewöhnliches – um nicht zu sagen: „unverhältnismäßiges“ – Ausmaß zu haben:
„Gegen die Gruppe Letzte Generation werden jetzt alle Register staatlicher Einschüchterung und Terrorisierung aufgefahren, wobei abgeklärte Journalisten gleich erkennen, dass hier mit ungewöhnlicher Robustheit und einer Strapazierung rechtsstaatlicher Regeln ein Exempel statuiert werden soll: ‚Es ist eine Ermittlungsaktion, die so brachial ist, dass ihre Unverhältnismässigkeit ins Auge sticht.‘ (Steinke, SZ) Da fragt sich doch glatt, in welchem Verhältnis denn staatliche Gewalt im Umgang mit Kritikern stehen darf, so dass auch Vertreter der Mainstream-Medien aus der Abteilung liberale Bedenkenträger zufrieden sind.“
(https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/politik/deutschland/letzte-generation-ein-lehrstueck-zum-umgang-mit-kritikern-7724.html)
Mir scheint dgs berücksichtigt nicht, dass eine juristische Position nicht schon dadurch zurückgedrängt wird, dass sie widerlegt wird.
Kritik an staatlicher Repression sollte meines Erachtens im Zusammenhang mit dem ‚linken‘ Ziel der Systemtranszendierung verbunden werden. Dieser Begriff ist im 21. Jahrhundert erklärungsbedürftig, denn der politische (und wirtschaftliche) Bankrott des Stalinismus im Osten und der Stadtguerilla in den westlichen Metropolen hat die Systemkonkurrenz scheinbar obsolet gemacht. Trotzdem halten Linke daran fest, dass der Kapitalismus, unter welcher politischen Form auch immer, nicht die beste aller Welten ist. Dass dies zur Zeit eine marginale Mindermeinung in der Gesamtgesellschaft ist, ist mir durchaus bewusst. Deshalb bin ich der Auffassung, dass linke Kritik an staatlicher Repression kein bloßer Reparaturbetrieb für staatliche Behörden zu sein hat.
Letzteres ist vermutlich auch nicht das Ziel von dgs. Vielmehr verstehe ich den Artikel vom 8. Juni dahingehend, dass dgs auf die besondere Schikane hinweisen will, die darin liege, dass das juristische Verfahren gegen den RDL-Kollegen Fabian Kienert dadurch in die Länge zu ziehen, dass die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts, das Hauptverfahren gegen Kienert nicht zu eröffnen, einlegt – aber sich nicht einmal mit den Argumenten des Landgerichts auseinandersetzt.
Dieses Anliegen ist auch vollkommen berechtigt; und zwar nicht nur juristisch, sondern auch politisch. Es bleibt aber auf der Ebene der rein immanenten Kritik und zieht nicht die Verbindung zur Bedeutung der Staatsfrage. Eine solche Verbindung ist meines Erachtens aber gerade in Bezug auf Antirepressions-Arbeit im Falle „Die Letzte Generation“ geboten. Denn deren Aktionen setzen durchaus nicht nur auf Habermas‘ zwanglosem Zwang des besseren Arguments (auch wenn sie als ziviler Ungehorsam mit offenem Visier durchgeführt werden – und nicht als Widerstand, dessen AkteurInnen zu vermeiden versuchen, vom Staat identifiziert zu werden):
„Im Gegensatz zu den Fridays for Future, die mit ihren Schulstreiks auf das Problem der Klimaveränderung hinweisen und die Menschen aufrütteln wollten, um dahin zu kommen, dass sich alle in ihrem Konsumverhalten ändern (so zumindest der Mainstream dieses Protestes und sein Verständnis von ‚system change‘), macht die Letzte Generation einen Unterschied zwischen den Machern der Politik, die alles Wesentliche bestimmen, und den Bürgern, die dazu aufgefordert sind, die Machthaber zur Einhaltung ihrer Versprechen zu zwingen. […]
Mit der Störung des Strassenverkehrs und den Farbaktionen geben sie sich im Gegensatz zu üblichen Demonstrationen nicht damit zufrieden, bloss ihre Unzufriedenheit mit der Politik kundzutun und dann wieder nach Hause zu gehen. Die Störungen sollen über eine unverbindliche Meinungsäusserung hinausgehen, indem sie zur Störung des Alltags werden, auf die die Politik reagieren muss.“
(untergrund-blättle, aaO.)
Genauso scheint mir wenig wahrscheinlich, dass die Staatsanwaltschaft ihre Beschwerde gegen die landgerichtliche Nicht-Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Fabian Kienert (Radio Dreyeckland) nur deshalb macht, weil sie gerade Langeweile hat.
Die Zeiten der friedlichen bürgerliche Demokratie, in der sich die Lager die Waage halten (in Deutschland war die Linke immer schwach und das rechte, autoritäre Lager immer mehr mainstream als die bürgerliche Demokratie), sind wohl schon länger vorbei – auch wenn ich im Moment noch nicht so weit gehe, zu sagen, dass der Staatsapparat generell eine AfD-isierung von Staat und Gesellschaft anstrebe.1 Die linken Bewegungen (der Plural ist nicht willkürlich gewählt) sollten sich also überlegen, wie sie auf diese veränderte Situation reagieren wollen.
Meines Erachtens kann uns nur eine breitere Organisierung davor schützen, der Repression hilflos (und demoralisiert2) gegenüber zu stehen. Die Propagierung von Organisierung mag in Zeiten der Unverbindlichkeit und sicherlich auch berechtigter Angst vor Repression und Kriminalisierung kontraintuitiv sein (denn es geht ja sowohl in dem Dresdner Lina-Verfahren als auch in dem Münchener Verfahren u.a. um den Vorwurf der Bildung einer Kriminellen Vereinigung, und das linksunten-Verbot erfolgte unter Berufung auf das Vereinsrecht), aber Organisierung ist die einzige Möglichkeit, Kräfte zu bündeln, die sonst relativ einzeln umherfluktuieren. Durch Letzteres mag die persönliche Unabhängigkeit gewahrt werden, aber was zählt die persönliche Unabhängigkeit, wenn wir ansonsten zu politischer Ohnmacht verurteilt sind?
Deshalb möchte ich dafür plädieren, – der aktuellen Schwäche der linken Bewegungen
Rechnung tragend – die juristische Kritik an staatlicher Repression und den Kampf für eine liberale (in westeuropäisch-nordamerikanischer Tradition3) – statt deutsch-„freiheitliche“ – Demokratie4 (die ihre ‚unschönheitliche‘ unfreie repressive Seite als ‚Freiheitlichkeit‘ bemäntelt) mit einem strategischen Kampf für eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verbinden. Dass dies in der Epoche der linken Dauerkrise und Dauerschwäche nicht einfach ist, liegt auf Hand.
1 Siehe meinen Text: Repression und Staatsapparat – Überlegungen zu einem weiteren ‚linken Dilemma‘; https://de.indymedia.org/node/283282.
2 https://kappaleipzig.noblogs.org/.
3 Dass auch westeuropäisch-nordamerikanischen Demokratien keine „reine Demokratie“ im Sinne Karl Kautskys (dessen Idee an dem – von ihm ignorierten – Zusammenhang von Staatlichkeit und gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen bricht), sondern Demokratien mit kapitalistischer, rassistischer (post-kolonialer) und patriarchaler bias sind, steht auf einem anderen Blatt – ändert aber nichts daran, dass es dort eine bis heute prägende Tradition erfolgreicher bürgerlicher (und insbesondere in Frankreich und den USA auch: republikanisch-antimonarchistischer) Revolutionen gibt, die in Deutschland fehlt.
4 Siehe zum Unterschied zwischen deutscher „freiheitlicher“ und angelsächsischer „liberaler“ Demokratie das Ende meines EmRaWi-Artikels vom 20.05.2023: https://emrawi.org/?BRD-Pleite-fur-die-Karlsruher-Staatsanwaltschaft-vor-dem-dortigen-Landgericht-2647.
Achims Gastkommentar und meine Antwort – beides zusammen 7 Seiten:
http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2023/06/Achim_Gastkommentar_FIN_plus_Antwort.pdf.