vonutopiensucht 08.06.2020

Utopiensucht

Alltagsbanalität trifft auf sprachliche Vielfalt. Und wie Achtsamkeit der Gegenwart die Socken auszieht.

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Der nützlichste Baum der Welt. Der Baum des Himmels. Oder auch als der legendäre Lebensbaum wurde die Kokospalme schon bezeichnet. Mittlerweile lebt sie weltweit entlang fast aller Küsten, wo die Winter keine Kälte kennen. Beheimatet ist sie wohl in Südostasien und Melanesien, schon Ewigkeiten. In prähistorischen Zeiten noch fand sie getragen von Meeren und Winden ihren Weg nach Indien, Ostafrika und auch auf die tropischen Inseln des indischen Ozeans. Wahrscheinlich.[1]

Ganz sicher ist sich die Wissenschaftsgemeinde da nicht. Mitverantwortlich für die Verbreitung der Kokosnüsse sind auch die Seefahrer der „Südsee“ – seit 3000 Jahren. Die Europäer erst brachten die Palmen im Laufe des 16. Jahrhunderts nach Südamerika, Westafrika und in die Karibik. Vor allem die spanischen Kolonisten, von Kolumbus vorbereitet, sorgten für die Ausbreitung der Kokosnuss, die bis heute anhält.[2] [3]

Man versetze sich also zurück in den Moment, als Kolumbus und Freunde die Bahamas erreichten. Rauschen der Brandung. Feiner Sandstrand. Und was für Bäume sind das? An diesem zauberhaften Ort, der heute das Postkarten-Motiv schlechthin repräsentiert, standen gar keine der heute so sehr die Strände bezeichnenden cocos nucifera – sondern wohl größtenteils Pinien.[4]

Die weltumspannende Geschichte der Verbreitung der ikonischen Kokospalmen ist eng verschlungen mit der der Kolonisten. Auch heute sind sie vor allem an Orten menschlicher Aktivität anzutreffen. Zu Zeiten der Kolonisierung spielten sie eine besonders wichtige Rolle als Nahrungs- sowie Wasserlieferanten.[5]

Die Pflanze selbst bedroht trotz ihrer weiten Verbreitung nie direkt die lokalen Ökosysteme. Ihr invasives Potenzial ist also zu vernachlässigen, ihre Verbreitung kontrollierbar.[6]

Das kann man jedoch längst nicht auf alle tropischen Gehölze übertragen. Auch hier auf la Réunion gibt es zahlreiche, für Land- und Forstwirtschaft eingeführte Arten, die die lokale Flora in die Enge treiben.[7] Der Mensch beim vielleicht gut gemeinten Versuch zu gestalten…

Manchen gefällts aber wohl. Dem Großem Madagaskar-Taggecko liegen besonders menschengemacht zerstörte Habitate. Durch seine hohe Anpassungsfähigkeit und seine Ernährungsgewohnheiten ist er eine Gefahr für die beheimatete Fauna.[8]

Heute habe ich einen Gecko ermordet. Aus Versehen. Beim morgendlichen Toilettengang. Es war glaube ich aber ein kleiner Hausgecko. Als ich die Klotür wieder öffnete, sah ich seinen zerquetschten Körper am äußeren Türrahmen festkleben.

Ich habe lange nicht diese Mischung aus Übelkeit und Trauer gefühlt.

Ich mein, ich kannte den Gecko nicht gut. Aber schon vom Sehen her. Er klebte meist regungslos oben an der Wand und beobachtete mich, während ich zähneputzend auf dem Klo saß und wiederum ihn beobachtete. Und jetzt musste ich ihn in den Kompost schmeißen. Mein Mitbewohner meint, dass sei normal, dass das ab und an passiert.

Ich will aber nicht, dass sowas normal ist!

Bin auch ich ein invasives, also die heimischen Arten bedrohendes Individuum? Heimisch fühle ich mich hier nicht wirklich. Mit der Zeit schwindet aber stetig das Gefühl der Befremdung. Nicht ganz, aber das tut es auch nicht, wenn ich ein paar Tage oder Wochen bei Freunden auf der Couch übernachte.

Ich dringe ständig in neue Habitate vor. Jeder kann überall leben. Theoretisch. Auch wenn das immer schwieriger wird. Migration ist dabei selbstverständlich nicht das gleiche wie Invasion. Das verstehen orange Präsidenten aber nicht.

Doch wir gehören beide schließlich zur Spezies homo sapiens, vom Archäologie-Professor Curtis Marean gekrönt zur „most invasive species of all“.[9]

Vor gut 70.000 Jahren verließ die Menschheit den afrikanischen Kontinent, um den ganzen Globus zu bevölkern. Das war bestimmt so ein Projekt, was anfangs eher unscharf definiert war und sich in seiner Größe erst mit der Zeit abzeichnete. Und überall, wo wir hinzogen, wurden drastische ökologische Veränderungen angestoßen – euphemistisch für große Artensterben.

Vor gut 500 Jahren hatte die kleine Insel la Réunion, damals noch l’île Bourbon, noch nie einen Menschen gesehen. Oder zumindest keinen, der bleiben wollte. Die größten Jäger waren bis dato die Dodos.

Schwangroße, flugunfähige Vögel, die zwar den Tauben nah verwandt gewesen sind, was aber nicht wirklich ins Auge fiel. Als die Menschen dann ankamen, rotteten sie erstmal vollständig innerhalb von 60 Jahren die ganze Art aus – erzählte mir ein Einheimischer, der mich auf der Suche nach einem Haus über eine halbe Stunde begleitete. Schuld daran sei wohl der unersättliche Fleischhunger der Matrosen gewesen, meinte er. So schreibt es auch Errol Fuller in seinem Werk „The Dodo – Extinction in Paradise“. Der Vogel sei vor allem der sagenumwobenste, ausgestorbene Vogel, über den man aber quasi nichts weiß. Hinzu kommt, dass der Dodo wahrscheinlich nur nebenan auf Mauritius gelebt hat.[10]

Er bleibt trotzdem bis heute ein Symbol – auch eines von la Réunion. Und international ist er eines für die Ausrottung einer Art durch den homo sapiens. Aber vor allem kennt hier jeder die Silhouette des Vogelkopfes, weil das verbreitetste, lokale Bier seine Zeichnung und seinen Namen trägt. Praktisch überall liest man auf Häuserwänden: <<La Dodo lé la!>> („Das Dodo ist gut.“). Poésie. Partout.

Wer verbreitet sich noch so drängelnd wie der Mensch und seine süchtig machenden Erzeugnisse? Erst muss ich an Viren denken. Aber das ist ja schon eine etwas sehr andere Kategorie.

Dann fällt mir ein spezieller Vogel ein, der frühlingsgrüne Halsbandsittich, den ich gestern hinter Gitterstäben im hiesigen Staatsgarten gesehen habe. Daheim am Rhein, genauer in Köln, eines seiner ersten Verbreitungsgebiete in Europa, gibt es mittlerweile zwischen 1500 und 2500 eben dieser Papageien. Ursprünglich beheimatet ist er in Afrika südlich der Sahara und Asien.[11] Trotz seiner weiter anhaltenden Ausbreitung ist aber wohl nicht von einer Gefährdung anderer Arten auszugehen.[12] „Kritische Stimmen“ werden trotzdem laut, sie regional ausrotten zu wollen.[13]

Da ist was, was hier nicht hingehört. Zumindest so weit ich zurückdenken kann. Oder vorausdenken will.

Das heißt nicht mal über den Tellerrand der idealisierten Heimat, mit Buchsbaum statt Palme im Garten. Das innere Imperium will sich verteidigen. Die Waffe ist erhoben. Der Feind bleibt unsichtbar. Oder vielleicht war er auch niemals da.

Die Idee von Heimat ist vielleicht anderer Natur als die des Paradieses. Sie wächst tief in uns heran. Und bleibt dort auch, bis man sie an einem Tag ohne Musik und voller neuer Gedanken verlässt, ohne sie bisher gefunden haben. Doch Geschwister sind Heimat und Paradies nicht. Vielleicht wurde Paradies später aus einem fernen Reich adoptiert, verehrt als überidealisierte Exotin und mit Kokospalmen geschmückt. Vielleicht wurde sie aber auch nie gefunden, oder nie gebraucht.

Das Pantherchamäleon – ich erinnere mich noch, wie ich es zum ersten Mal im Zoo gesehen habe – ist wahrscheinlich wirklich heimisch auf la Réunion – so weit das eben geht. Ebenso ist es das auf Madagaskar, aber Genom-Analysen legen nahe, dass der Kolonistenverein Menschheit mal zur Abwechslung nicht für eine unfreiwillige Migration gesorgt hat.[14]

Als ich in meinem ersten Monat hier auf der Insel zum ersten Mal ein Chamäleon außerhalb von einem Gefängnis aus Glasschreiben gesehen habe, war ich trotzdem nur halb von den Socken. Ich habe im Grunde die Socken nur bis über die Ferse bekommen und betrachtete seriös fasziniert, gehalten interessiert das verdammte Alien, das sich bewegte, als würde es Zeit und Bewegung in einer ganz anderen Dimension wahrnehmen.

Nur weil ich das so ähnlich schon häufiger gesehen habe. Im Zoo und in der Flimmerkiste. Aber wie geflasht würde ich bitte sein, so ein Tier zum ersten Mal ohne jeglichen voreinnehmenden Bilder zu sehen? Wieder mit Kinderaugen…

Die hingegen mit Assoziationen bereicherten Momente werden zwar verständlicher und damit irgendwie echter (für meinen Kopf), aber sie sind dadurch auch weniger unfassbar neuartig schön. Wie lange kann ich mir schöne Geschichten, hilfreiche Analogien erzählen, bis jeder Vergleich nur noch Wehmut nach der eigenen Vergangenheit sein wird?

Der Kollaps weltweiter Ökosysteme vollzieht sich gerade in ähnlichem Tempo wie die damalige Auslöschung der Dodos.

Werden meine Haare schon grau sein, wenn ich zurückschwärme:

Damals, als es noch Korallenriffe gab…

 

Quellen:

[1] Chan, E., and C.R. Elevitch. 2006. Cocos nucifera (coconut), ver. 2.1. In: Elevitch, C.R. (ed.). Species Profiles for Pacific Island Agroforestry. Permanent Agriculture Resources (PAR), Hōlualoa, Hawai‘i. <http://www.traditionaltree.org>.

[2] Sauer JD. A re-evaluation of the coconut as an indicator of human dispersal. In: Riley C, editor. Man across the sea. Austin, TX: University of Texas Press; 1971. pp. 309–319.

[3] Zizumbo-Villarreal D. History of coconut (Cocos nucifera L.) in Mexico: 1539–1810. Genet Resour Crop Evol. 1996;43:505–515.

[4] http://kiskeya.life/face-palm/ (abgerufen am 08.06.2020)

[5] Gunn, Bee F.; Baudouin, Luc; Olsen, Kenneth M.; Ingvarsson, Pär K. (June 22, 2011). Independent Origins of Cultivated Coconut (Cocos nucifera L.) in the Old World Tropics”. PLoS ONE. 6 (6): e21143.

[6] Chan, E., and C.R. Elevitch. 2006. Cocos nucifera (coconut), ver. 2.1. In: Elevitch, C.R. (ed.). Species Profiles for Pacific Island Agroforestry. Permanent Agriculture Resources (PAR), Hōlualoa, Hawai‘i. <http://www.traditionaltree.org>.

[7] Tassin, J., Rivière, J. N., Cazanove, M., & Bruzzese, E. (2006). Ranking of invasive woody plant species for management on Réunion Island. Weed research, 46(5), 388-403.

[8] Sanchez, M., & Probst, J. M. (2014). Distribution and habitat of the invasive giant day gecko Phelsuma grandis Gray 1870 (Sauria: Gekkonidae) in Reunion Island, and conservation implication. Phelsuma, 22, 13-28.

[9] Marean, Curtis (2015). The Most Invasive Species of All. Scientific American, 313(2), 33-39. https://doi.org/10.1038/scientificamerican0815-32

[10] Fuller, E. (2004). The Dodo: Extinction in Paradise (Vol. 3). Bunker Hill Publishing, Inc..

[11] Braun, M. (2009). Die Bestandssituation des Halsbandsittichs Psittacula krameri in der Rhein-Neckar-Region (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen), 1962-2008, im Kontext der gesamteuropäischen Verbreitung. Vogelwelt, 130, 77-89.

[12] von DETLEV, F. R. A. N. Z., & KRAUSE, T. Zur Verbreitung und Biologie des Halsbandsittichs Psittacula kvameri am Oberrhein (Rheinland-Pfalz).

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Halsbandsittich (abgerufen am 08.06.2020)

[14] Raxworthy, C. J., Forstner, M. R. J., & Nussbaum, R. A. (2002). Chameleon radiation by oceanic dispersal. Nature, 415(6873), 784-787.

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