vondie verantwortlichen 01.03.2020

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Jetzt stehen sie an der europäischen Grenze. Zehntausend, hunderttausend Menschen, die das Recht haben, sich vor Krieg und Gewalt in Sicherheit zu bringen. Europa könnte sie aufnehmen und müsste sie aufnehmen. Europa könnte dafür sorgen, dass sie wieder in ihr Land zurückkehren, wenn dort der Krieg vorbei ist. Nach der Allgemeinen Erklärung Menschenrechte, der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention wäre Europa dazu verpflichtet. Nur wird Europa das nicht tun, weil die Verantwortlichen fürchten, dass ihre Staaten und ihre politischen Institutionen sich dabei in Luft auflösen könnten.

Also schauen wir in die Gesichter von Kindern, Eltern, Alten, die seit Tagen in Regen und Kälte warten. Die nichts zu essen, zu trinken, keinen Ort zum Schlafen haben. Sie sind ein kleiner Teil derer, die sich  auf der Flucht vor dem Krieg der Russen, Assads, der Türkei, der eigenen Demokraten und Dschihadisten, einem Krieg, den die USA ursprünglich mit angefacht haben, auf den Weg an die Grenze Europas gemacht haben.

Was macht das mit Europäern?

Die Gaulands und Meuthens haben es leicht. Rassistisches Denken entlastet: „Die dort“ jenseits der Grenze sind anders, sie gehören nicht zu „uns“, sie gehen uns nichts an. Und: Wir sind besser, weil es uns besser geht, und es geht uns besser, weil dies unser Land ist. Wir müssen nur die Zäune hoch genug bauen, dann kommt das Elend nicht hindurch, erreicht uns nicht. Ganz gelingt das nicht, etwas Ungemütliches spüren auch Rassisten, wenn sie den Kindern ins Gesicht sehen, die Bilder sind durch Stacheldraht nicht aufzuhalten. Sie behelfen sich mit Aggression, Wut: Die dort sind gefährlich, Verbrecher, ihr Leid ist Lüge.

Aber was ist mit den anderen Europäerinnen und Europäern? Denen, die Empathie gelernt haben und wissen, dass sie es selbst sein könnten, die dort stehen? Und die doch nicht für die Öffnung aller Grenzen eintreten können, weil sie eben auch wissen, dass  sie die Handlungsmöglichkeiten, über sie  in den europäischen Staaten jetzt noch verfügen, dann möglicherweise verlieren würden? Womit niemandem geholfen wäre? Die universalistisch denken und zugleich zwischen drinnen und draußen unterscheiden, die völlig willkürliche Verteilung von Lebenschancen mittragen müssen?

Denn wir tragen sie mit, wir sind als Bürgerinnen und Bürger Teil dieser ungerechten Staatenordnung, in der wir leben. Wir nehmen deren Vorteile in Anspruch. Auch wenn wir sie moralisch unerträglich finden und nicht wissen, wie wir die Blicke der Ausgeschlossenen ertragen sollen.

Es ginge schon besser, wenn wir das tun würden  und getan hätten, was unschwer möglich ist. Die 6000 Kinder von Lesbos hätte Deutschland leicht aufnehmen können, sie wären hier willkommen gewesen und das Gebrüll von rechts wäre ins Leere gelaufen. Es wäre eine Geste gewesen, nicht mehr, aber der Blick in den Spiegel wäre nicht mehr ganz so schmerzhaft. Doch für diesen souveränen Schritt hatte die Regierung, unsere Regierung zu viel Angst (Angst ist ohnehin ihr Leitmotiv, und die ist kein guter Ratgeber).

Noch besser wäre: Wenn Deutschland seine Möglichkeiten wirklich ausschöpfte bei der Flüchtlingshilfe in Griechenland und in der Türkei. Tut es bereits, sagen manche. Wirklich? Viele würden gern mehr gefordert werden.

Aber selbst dann wäre unser Beitrag als Bürgerinnen und Bürger einer der reichsten Regionen der Welt allzu bescheiden. Humanitäre Hilfe ist nur ein letzter Ausweg. Sie steht ganz am Ende, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist, wenn hunderttausende Menschen durch irgendein Niemandsland irren und eine neue Chance für sich und ihre Kinder suchen. Wenn aber viel früher jemand hätte eingreifen müssen , hätten das nur staatliche Institutionen tun können weil Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die viel besungene Zivilgesellschaft eine Entwicklung wie in Syrien nur kommentieren können. Dort im Kriegsgebiet handeln Staaten.

Deutsche sind dabei in einer besonderen Situation, und das nicht nur auf Grund unserer Geschichte. Sondern auch, weil wir diese Geschichte zum Anlass genommen haben, unseren Beitrag zur Staatenordnung auf ein Minimum zu reduzieren. Wir schicken zwar viel Geld, aber mehr bekommen wir nicht hin. Aus guten Gründen – weil wir glaubten, militärisch in der Vergangenheit genug Unheil angerichtet zu haben. Und aus schlechten – weil es bequemer ist, wenn andere, „Verbündete“, die Militärapparate aufbauen und wir vielleicht etwas zuzahlen. Was aber, wenn die Bündnispartner sich dann einfach verabschieden?

Wenn es Europa nicht gelingt, seine direkte Nachbarschaft zu befrieden, wenn es zusehen muss, wie der syrische Diktator mit Hilfe der russischen Militärmaschine und iranischer Milizen weitere Millionen vertreibt, wenn der türkische Herrscher, der „kranke Mann am Bosporus“ (so heißt die inzwischen wieder aktuelle Bezeichnung der westlichen Diplomatie für das osmanische Reich am Beginn des letzten Jahrhunderts) in einen Krieg zieht, in dem nichts zu gewinnen ist, wenn das Bürgerkriegschaos eine ganze Region zerstört, dann hängt das auch mit der deutschen Haltung zusammen. Und es sind wahrlich nicht grüne Pazifisten, die diese Haltung geprägt haben. Dafür, dass die Bundeswehr nicht nur im Inland zum Gespött geworden ist, sind die Regierungen der letzten 30 Jahre verantwortlich. Mit  „grüner“ Außen- und Sicherheitspolitik hat das wenig zu tun.

Umso wichtiger wäre es, bei uns selbst anzufangen.  Die zivilen, militärischen, diplomatischen Ressourcen Europas sind, wenn man sie nicht nur addiert sondern zusammenführt, beachtlich, sie könnten, zumal in der europäischen Nachbarschaft, hoch wirksam sein. Nur haben bisher in unserem „nahen Osten“ die fernen USA über die „westliche“ Strategie entschieden, weil sie, wenn es ernst wurde, auch die Kartoffeln aus dem Feuer geholt haben (das sie häufig selbst gelegt hatten). Das ist vorbei. Die Menschen, die jetzt an den Grenzen stehen, bezahlen für das Scheitern der westlichen Strategien und den Rückzug der Amerikaner, die so bald niemand ersetzen wird.

Jetzt ginge es darum, Europa, dieser trägen Landmasse im Zentrum der globalen Reichtumsproduktion, an der so viele geopolitische und wirtschaftliche Interessen zerren, ein eigenes politisches Leben einzuhauchen. Damit es handeln kann, auch gegen den Wunsch der Amerikaner. Und damit es endlich zu der Hoffnung wird, die es für so viele Menschen war und ist: Ein europäischer Staat, der die von ihm verkündeten Menschenrechte Wirklichkeit werden ließe, anstatt sie in zivilreligiöses Gewölke umzuwandeln.

Dafür muss sich vor allem die deutsche Politik bewegen. Humanitär, gewiss, aber noch viel mehr politisch. Der französische Präsident drängt seit Jahren darauf.  Diese Verantwortung kann kein transatlantisches Bündnis den Europäern abnehmen. Dass es teuer, wahrscheinlich sehr teuer wird, und dass es lange, wahrscheinlich sehr lange dauern wird, darf kein Argument sein. Und ob es gelingt, weiß heute niemand. Was an der griechisch-türkischen Grenze geschieht, ist auch ein Vorgeschmack auf die langfristigen Folgen eines europäischen Scheiterns.

Einstweilen schauen wir den Menschen ins Gesicht, die über die Grenze zu uns kommen möchten. Sie haben ein Recht darauf. Wegsehen hilft nicht.

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