Wie ist ein „richtiges Leben“ heute möglich? Gedanken von Adorno bis zum Wolkenatlas.
Die Zeit der großen utopischen Gesellschaftsentwürfe scheint vorbei zu sein. Von Francis Bacons Nova Atlantis (1627) bis zu Edward Bellamys Rückblick aus dem Jahre 2000 (1887) sehnten sich Menschen nach einer wertschätzenden Form des Zusammenlebens, die für jeden Einzelnen die Möglichkeit auf ein glückliches Leben bereithält. Was dies ausmacht, darüber gehen die Meinungen freilich auseinander.
Wie der Soziologe Karl Mannheim zeigte, orientiert sich das konservative Denken stets an einer imaginierten, idealen Vergangenheit, in der Menschen harmonisch und als natürliche Gemeinschaft zusammenlebten. Aus dieser Sicht fand jeder Mann und jede Frau im organisch verstandenen Volk, in der Nation und der Familie Sinn und Orientierung. Das aktuelle Handeln ist im Konservatismus auf die Bewahrung oder Wiederherstellung dieser imaginierten Gemeinschaft vergangener Zeiten ausgerichtet. Wird dies nicht mehr als realistische Option wahrgenommen, so agieren das konservative Denken und sichtbarer noch jede Form des Rechtspopulismus hilflos gegenüber den Herausforderungen der Zukunft. Schön abzulesen ist dies in Michel Houellebecqs vollkommen trostloser Gesellschaftsanalyse Elementarteilchen (1998). Es gibt keine lebbare Utopie mehr für die beiden in der Moderne gestrandeten Hauptfiguren. Der zum Leben und Lieben unfähige Molekularbiologe propagiert schließlich die Abschaffung des bisherigen Menschen, seiner Sexualität und Individualität zugunsten einer unsterblichen Rasse von gleichförmigen Klonen.
Der Geist der Utopie – wie ihn v.a. Ernst Bloch charakterisierte – richtet seinen Blick nach vorne. Der Blick auf die Vergangenheit ist nüchtern und abgeklärt. Nicht beschönigend. Dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts jenseits der revolutionären Gesellschaftsentwürfe leben, mag so manchen enttäuschen. Ich vermute – für eine sichere Aussage fehlen mir wohl noch 20 Jahre soziologischer Einsichten – dies ist eher der Vielfalt und Komplexität unserer Lebenswelten geschuldet als der politischen Phantasielosigkeit und Unentschlossenheit unserer Zeitgenossen. Die soziale Welt als Ganzes lässt sich nicht mehr in einer Formel begreifen (so stark unsere Sehnsüchte danach auch sein mögen).
Umso wertvoller sind daher reflektierte Denkanstöße, die trotz dieser Pluralität menschlichen Lebens und seiner Deutungen versuchen, Faktoren des „guten“ Zusammenlebens zu erörtern. Ausgehend vom vielzitierten Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ hat die amerikanische Philosophin Judith Butler jüngst die Frage, die mit dieser Aussage verbunden ist, für unsere Gegenwartslage aufgegriffen.
Wie können wir ein „richtiges Leben“ (im Engl. good life) in einer Welt führen, die durch Ungleichheit, Ausbeutung und Auslöschung geprägt ist – in einer Welt, in der die meisten Menschen von einem „richtigen Leben“ ausgeschlossen sind? Wir kommen nach Ansicht Butlers nicht umhin, bei der Frage nach unserem eigenen „richtigen Leben“ die Bedingungen für ein allgemeines „richtiges Leben“, das allen Menschen zugänglich ist, zu bewerten.
Für Butler ist menschliches Leben dadurch definiert, dass wir als Menschen für unser eigenes Überleben voneinander abhängig sind. Je fortschrittlicher sich unsere Gesellschaften entwickeln, desto umfangreicher wird sogar unsere Abhängigkeit voneinander: Sind wir ganz offensichtlich für unsere Ernährung, für sauberes Trinkwasser, unsere Unterkunft und die medizinische Versorgung von den Leistungen anderer abhängig, so gilt dies in besonderem Maße für die uns umgebenden Medien- und Transporttechnologien, die auf ein globales Netz des technologischen Wissens, der Rohstoffgewinnung und Fertigung angewiesen sind.
Ein „richtiges Leben“ setzt laut Butler voraus, dass wir diese gegenseitige Abhängigkeit anerkennen. Jede Abhängigkeit beinhaltet jedoch zwangsläufig ein Verhältnis von Macht und damit auch Verletzlichkeit (vulnerability). Dieser Begriff ist für Butlers Denken zentral und nicht bloß metaphorisch zu verstehen. Eine Verletzung bspw. der Arbeitnehmerrechte (oder deren vollständige Abwesenheit) ist immer auch eine Verletzung des Körpers – seiner Gesundheit, seiner Lebensdauer, seiner Möglichkeit einer erfüllten Sexualität und Fortpflanzung etc.
Eine von Butler wohl unterschätzte Schwierigkeit liegt in der Anerkennung und dem bloßen Wissen um diese Abhängigkeiten. Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, der früh den Begriff des global village prägte, behauptete zwar: „In the electric age we wear all mankind as our skin.” (1994: 47). Aber tun wir das? Nur dem Prinzip nach können wir über global vernetzte Medien „die ganze Welt auf unserer Haut tragen.“ Allerdings sind Medien und ihre Weltvermittlung auch wiederum ein Ergebnis sozialer, ökonomischer und politischer Machtverhältnisse. Wessen Leben zählt überhaupt – „Whose lives matter?“ – fragt auch Butler.
Problematischer als diese Gewichtungen ist jedoch die vorherrschende Aufmerksamkeitsökonomie der Medieninstitutionen. Diese ist ereignisorientiert, lechzt nach Drama und scheut sich, komplexe Ursachenforschung und aufwendige Differenzierungen zu betreiben. Sie vermittelt eher Emotionen als Einsichten. Der Durchschnittsdeutsche verbringt ca. dreieinhalb Stunden täglich vor der Flimmerkiste. Nur wie werden diese genutzt? Wer verfolgt die ausgezeichneten Dokus im Fernsehen und Features in den Radioprogrammen? Natürlich gibt es hervorragende Alternativen in unserer heutigen Medienwelt. Die von Horkheimer und Adorno inspirierte Verachtung gegenüber der unterhaltungsorientierten „Kulturindustrie“ ist jedoch wenig hilfreich, wenn man ein Bewusstsein für die von Butler benannten Abhängigkeiten schaffen will.
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Menschen lieben Geschichten. Kunst, Literatur und Film sind durchaus fähig, ein kritisches Bewusstsein für die Probleme unserer Zeit zu generieren. Ein herausragendes Beispiel ist der Roman Cloud Atlas von David Mitchell (2004) und dessen Verfilmung durch Tom Tykwer und die Wachowski-Geschwister von 2012 (das Buch übertrifft den Film natürlich bei weitem). In sechs miteinander verschachtelten Episoden erzählt Mitchell berührende Geschichten von Abhängigkeiten, die in vergangenen und künftigen Zeiten angesiedelt sind. Die Klammer bildet das Reisetagebuch des Adam Ewing, eines amerikanischen Anwaltes Mitte des 19. Jahrhunderts, der sich auf einer Pazifikreise mit den Fragen der Sklaverei und des Rassismus auseinandersetzt. Das Tagebuch schreibt er als Vermächtnis für seinen Sohn.
Am Ende seiner Reise scheint es, als ob Ewing exakt die Frage von Adorno und Butler nach dem richtigen Leben im falschen aufgreift. Ewing fragt, warum wir Privilegierten die Herrschaft unserer Rasse, unserer Gewalt über die Erde und die anderen Völker aufgeben sollten, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben? Dass diese Übereinstimmung zwischen Adorno, Butler und Ewing kein Zufall ist, zeigt Mitchell mit seiner zeitübergreifenden Collage. Im 22. Jahrhundert siedelt der Autor die ergreifende Geschichte von Somni 451 an, einer geklonten Serviererin eines Restaurants, deren Bewusstsein als autonomes Wesen erwacht. Die grundsätzlichen Fragen der Menschen bleiben persistent. Warum also sollten wir laut Ewing die „natürliche Ordnung der Dinge“ hinter uns lassen?
„Why? Because of this: – one fine day, a purely predatory world shall consume itself. Yes, the Devil shall take the hindmost until the foremost is the hindmost. In an individual, selfishness uglifies the soul; for the human species, selfishness is extinction.“ (508)
Für Judith Butler geht es darum, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Verletzlichkeit und Abhängigkeit der Menschen untereinander lebbar werden. Dies setzt über das individuelle, moralische Handeln und Verweigern hinaus die reale Versammlung der Menschen voraus. Nur im gemeinsamen Reden, Schweigen und Miteinander im Angesicht des Anderen könne die Abhängigkeit und Verletzlichkeit in ihrer körperlichen Dimension erfahrbar werden.
Am Ende wird die Frage Adornos ganz einfach. Susan Bro, die Mutter der am 12.08.2017 in Charlottesville von einem Neonazi ermordeten Heather Heyer spricht es auf der Trauerfeier für ihre Tochter aus: „What is there what I can do to make the world a better place? … You find a way to make a difference in the world.“
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Literatur:
Theodor W. Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften 4, Frankfurt a.M. 1997, S. 43)
Judith Butler: Notes toward a performative theory of assembly. Cambridge 2015 (dt.: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin 2016)
Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Frankfurt 1984
Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man. Cambridge 1994 (dt.: Die magischen Kanäle – Understanding Media. Dresden/Basel 1994)
David Mitchell: Cloud Atlas. New York 2012 (dt.: Der Wolkenatlas. Reinbek 2006)
Bildnachweise
Butler: Wikimedia Common,
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bf/JudithButler2013.jpg
Adorno: https://www.musicologie.org/Biographies/adorno_theodor.html
Fünffache Kritik
1. Das Fernsehen als hervorragende Alternative zu unserer Medienwelt? Es ist Teil unserer Medienwelt, da kann es doch keine Alternative sein.
2. „Die von Horkheimer und Adorno inspirierte Verachtung gegenüber der unterhaltungsorientierten Kulturindustrie ist jedoch wenig hilfreich, wenn man ein Bewusstsein für die von Butler benannten Abhängigkeiten schaffen will.“ Warum? Abgesehen vom im Text fehlenden Pro-Argument hier gleich mal meine Kritik: Ich denke, eine gewisse „Verachtung gegenüber der unterhaltungsorientierten Kulturindustrie“ schadet nicht dem Erkennen von Abhängigkeiten, sondern ist sogar zwingend notwendig! Denn komplexte Abhängigkeitsmechanismen werden nicht in einem Tatort aufgedeckt, sondern in dicken Büchern. Oder zum Beispiel dem „Manifest der Kommunistischen Partei“.
3. „Kunst, Literatur und Film sind durchaus fähig, ein kritisches Bewusstsein für die Probleme unserer Zeit zu generieren“. Klar, das stimmt teilweise. Aber wir brauchen nicht nur ein kritisches Bewusstsein (das wir unbedingt brauchen), sondern auch Lösungsvorschläge. Ich verstehe nicht, warum der Autor im Text Bestehendes so gut heißt. Wo ist deine Kritik an der Reallität? Nur diese bringt uns weiter.
4. Abgesehen von den vorrangegangenen Kritiken interpretiere ich auch Adornos Frage völlig anders und zwar so: Im einem moralisch falschen System kann man nicht moralisch einwandfrei handeln. Denn man ist Teil des Systems. So kann das Streben nach einem moralisch richtigen Leben nur das Streben nach einem moralisch richtigen System sein.
Durch die „Beantwortung“ von Adornos Frage mit einem Zitat von Heyer Hethers Mutter verliert diese sehr viel Radikalität. Denn „What is there what I can do to make the world a better place? … You find a way to make a difference in the world.“ ist einfach sehr viel ungenauer. Viel mehr ist es andersrum. Denn auf dieses Zitat der Mutter stellt sich dann noch die Frage: Reformation oder Revolution?, die dann von Adorno beantwortet wird.
5. Die Frage „Warum sollten wir Privilegierten die Herrschaft unserer Rasse, unserer Gewalt über die Erde und die anderen Völker aufgeben, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben?“ mit der Frage Adornos zu vergleichen, empfinde ich als Beleidigung Adornos. Sie lässt sich nämlich einfach übersetzten mit: „Warum ist es falsch, falsch zu Leben, wenn unsere Vorfahren auch schon falsch gelebt haben?“. Wärend Adornos Frage revolutionären Charakter hat, hat diese vorallem den eines plumpen Rassisten.
Ich hoffe du antwortest, lieber Autor Oliver Krüger, und warte auf dein Contra:)
(Nur die Auseinandersetzung bringt uns weiter)