vonDarius Hamidzadeh Hamudi 31.05.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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In einem Wäldchen saß ein Mann auf einem Baumstumpf an einer Zufahrt. Sein Gesicht war stark gepudert, unter der Nase klebte ein schmaler Bart. Ein Stück weiter hinten lag ein Parkplatz. Wer einen zwanzigminütigen Spaziergang in die Stadt in Kauf nahm, konnte frei parken. Dort waren zuletzt wieder überall die Gebühren erhöht worden; schließlich musste man die Verkehrswende irgendwie angehen.

Es war längst kein Geheimnis mehr, dass es nicht mehr ewig so weitergehen könnte. Trotzdem machten wir einfach weiter, manche aus Ignoranz  oder Bequemlichkeit, andere aus Mangel an Alternativen oder, weil es auch keine Lösung war, sich dauernd den Kopf zu zerbrechen.

Kein gewöhnlicher Horrorfilm

Um vier war auf dem Parkplatz noch kein Auto zu sehen. Der Pantomime war allein und wähnte sich unbeobachtet. Im kleinen Taschenspiegel kontrollierte er seine Maske und zupfte eine schwarze Haarsträhne zurecht. Wenn diese Geschichte ein gewöhnlicher Horrorfilm wäre, würde gleich eine junge Frau an ihm vorbeifahren und nichtsahnend auf dem verlassenen Parkplatz den Motor abstellen. Er würde sein Springmesser aufschnappen lassen und wie ein Horrorclown in die Kamera grinsen. Tatsächlich stand er auf und rückte seine Melone zurecht. Dann griff er nach seinem Eimerchen und watschelte zur großen Straße, die vor ein paar Jahren um zwei Spuren erweitert worden war; dabei ließ er kunstfertig seinen dünnen Spazierstock kreisen. Auf dem Baumstumpf blieb ein weißer, eckiger Gegenstand zurück. Ich konnte aus der Ferne nicht erkennen, was es war.

Als 2015 noch nicht in der Vergangenheit lag

Ich habe in meinem Leben drei Charlie Chaplins getroffen. Der erste sah noch echter aus als das Original. Das war in den frühen 1990er-Jahren, ich war 16 und zu Besuch bei meinen Onkel in Los Angeles. Flugscham war damals noch kein Thema. In Nevada hatte ich zum ersten Mal meilenweit verbranntes, trockenes Land gesehen. An einem Sonntag fuhren wir in die Universal Studios. Ich erinnere mich an den Marktplatz von Hill Valley, von hier aus war Marty McFly in die Vergangenheit gereist, damals lag 2015 noch in der Zukunft. Fast überall mussten wir Schlange stehen. Eine Ampel regelte den Zugang zu einem besonderen Highlight: Sobald sie grün wurde, liefen wir um die Ecke über einen Holzsteg, direkt an einem Wasserbecken vorbei. Plötzlich tauchte für einen kurzen Moment der weiße Hai auf und bleckte seine spitzen Zähne. Obwohl wir damit gerechnet hatten, erschraken wir und bekamen sogar ein paar Tropfen Wasser ab. Das war Teil der Attraktion.

Charlie Chaplin spazierte vergnügt zwischen den Filmkulissen herum. Ab und zu machte er kleine Kunststücke mit seiner Melone. Der Tramp wirkte keineswegs verloren, sondern bewegte sich mit großer Selbstverständlichkeit durch sein angestammtes Habitat. Ich fand ihn beeindruckender als den weißen Hai. Damals hatte ich die Idee, irgendwann auch mal in einem Freizeitpark zu arbeiten.

Limelight

Charlies Rampenlicht war rot. Sobald die Ampel umschaltete, spazierte er zwischen den wartenden Fahrzeugen umher und umkurvte die Autos wie ein Slalomläufer. Manche Menschen schienen genervt von seinen Eskapaden zu sein. Andere lächelten kurz, wandten sich aber ab, sobald er dezent die Hand mit dem Eimerchen hob. Seine größten Fans hatte er auf der Rückbank. Wenn er Kindern zuwinkte, erwiderten sie zuverlässig seinen Gruß. Gelegentlich senkte sich eine der vielen hundert Scheiben, an denen er vorbeitänzelte. Eine Hand mit einer Münze kam zum Vorschein, die er mit seinem Eimerchen aberntete. Der Tramp gab auf dem grauen Asphalt eine gute Figur ab und verströmte Leichtigkeit und Ruhe, zumindest bis die Ampel grün wurde. Falls dann noch nicht alle Geldstücke eingesammelt waren, beendete ein Hupkonzert die Vorstellung. Zeit ist Geld.

Mutabor!

Gegen Ende meines Studiums hatte ich zwei Monate in einem Freizeitpark gearbeitet. Ich räumte ein Barbie-und-Ken-Traumschloss auf und brachte Kindern im Mitmach-Zirkus Jonglieren und Tellerdrehen bei. Alle zwei Stunden musste ich in ein Kostüm schlüpfen, in dem ich aussah wie das Schokoladen-Maskottchen, das von Sarotti inzwischen »Magier der Sinne« genannt wird. In einem kleinen Extra-Zelt durfte ich Märchen erzählen, Kalif Storch mochte ich am liebsten. Der Job hat Spaß gemacht, war aber stressig: keine Pausen und ständiges Hin- und Hergewusel. Das kannte ich aus dem Altenheim, nur habe ich dort weniger verdient.

Während dieser Zeit traf ich in der Kantine meinen zweiten Charlie Chaplin. Zwischen den Gespenstern, Zombies und Monstern aus der Geisterbahn sah er fast wie ein biederer Bankangestellter aus. Dabei hatte er es sogar aufs Plakat geschafft und war eine der Hauptattraktionen des Parks! Trotzdem grüßte er herzlich und machte einen bescheidenen Eindruck. Im Shuttlebus saß ich ein Mal direkt hinter ihm; er kam im Kostüm zur Arbeit. Damals war Charlie mein Kollege.

Backstage

Ich sah mir den weißen Gegenstand auf dem Baumstumpf genauer an. Die Trinktüte mit Sojamilch war Charlies Pausensnack. Der Karton hätte seine Jackentasche ausgebeult und lag deswegen backstage. Ich setzte mich auf einen Baumstamm neben Charlies Sessel und gab die Begriffe »Chaplin« und »Straßentheater« in die Suchmaschine ein. Bilder aus ganz Deutschland erschienen, Boulevardzeitungen empörten sich. Polizeikommissare wurden dazu befragt, ob eine Beeinträchtigung des Straßenverkehrs vorläge. Der Sprecher einer Stadtverwaltung stellte fest, worum es sich bei dem Phänomen nicht handelte: »Wenn es keine Kleinkunst ist, liegt auch kein Gewerbe vor.« Eine fünfköpfige Bande von rumänischen Chaplins hatte Nürnberg heimgesucht. Da aggressives Betteln dort verboten war, beschlagnahmte die Polizei zunächst das Geld und ein paar Wochen später die Kostüme. Dann war Ruhe.

abo

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Der Tramp

Ich bin bis in die Stadt spaziert und habe zum ersten Mal Sojaeis probiert: gar nicht schlecht. Auf dem Rückweg kam mir Charlie Chaplin entgegen. Das Eimerchen beulte seinen Sakko aus, ich hörte es klimpern. Passende Münzen hatte ich gerade nicht im Geldbeutel, deshalb gab ich meinem alten Kollegen einen kleinen Schein. Der Tramp brach sein Schweigen.

»Danke, vielen Dank«, sagte er überrascht.

Er deutete eine Verneigung an und legte seine rechte Hand aufs Herz. Hatte er einen arabischen Akzent? Ich glaube, er kam aus Syrien.

 

Charlie-Chaplin-Verkehrswende-Zylinderkopf-Dichtung-Letzte-Generation-Short-Story

 

Bildnachweise:

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