vonMesut Bayraktar 08.06.2018

Stil-Bruch

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Leerstand ist ein Akt kollektiver Erpressung, durch die die soziale Klassengewalt spricht und die Bevölkerung in Geiselhaft nimmt.

Es gibt viele Gründe, wütend zu sein, und entgegen einer altbekannten Aussage von Theodor W. Adorno müsste man heute im Angesicht systematischen Sozialabbaus sagen: Wer denkt, ist wütend.
In den letzten Tagen standen Stuttgart und Berlin in den Schlagzeilen. Was hat beide Städte verbunden? Die Besetzung von leerstehendem Wohnraum. Das Bürgertum, dessen Kosmogonie ganz auf dem Privateigentum beruht, war entsetzt von diesen Vorfällen, die Signalcharakter hatten. Soweit ich weiß, können sie nun aber beruhigt aufatmen. Denn inzwischen kam die Polizeigewalt zu Hilfe und sicherte die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse.
Doch bis dahin hieß es: Wie können diese Spinner es wagen, leerstehende Immobilien zu besetzen, die nichts anderes zu erfüllen haben, als leer zu stehen und Profite aus dem Immobilienkapital abzuwerfen; wie können sie nur – diese Linksradikalen! So oder so ähnlich empörte sich das moralische Gefühl des Bürgertums.
Wenn aber die Mietpreise explodieren, Wohnraum zu Spekulationsobjekten zweckentfremdet wird, ein immer größerer Teil des Lohneinkommens von der Miete aufgesaugt wird, Sozialbauprojekte auf ganzer Strecke fehlen und wenn Menschen, Alleinerziehende oder Familien mit Hilfe der Staatsgewalt auf die Straße geworfen werden (allein in Berlin sind Zehntausende wohnungslos), dann ist die Empörung nicht da; allenfalls wenn im Winter einem zu Tode gefrorenen Obdachlosen auf den breiten Alleen der Einkaufsmeilen eine lausige Decke fehlt. Warum sollten sie auch empört sein? Die Kehrseite dieses sozialen Elends ist ihr Profit, der ihnen gleichsam Lebensraum verschafft, indem das Notwendige für den Zahlungsschwachen unbezahlbar und zu Luxuswohnungen saniert wird. Dabei werden sie von Politikern, Gesetzeshütern und Ordnungshenkern unterstützt. Der soziale Notstand ist der Zustand, in dem gewirtschaftet wird. Wenn dieser Zustand sagt: Hausbesetzung ist illegal, so möge das so sein. Was aber dabei verschwiegen wird, ist, dass Hausbesetzung in der zunehmend prekären Wohnlage sozial vernünftig ist.

Blut im Treppenhaus

Ich könnte an dieser Stelle mit statistischen Tatsachen argumentieren. Beispielsweise, dass die Bundesbank laut einem Gutachten vom Februar von einer Überbewertung der Marktpreise von 35 Prozent ausgeht; der Mist, der auf der Spekulation wächst. Oder das Argument bringen, dass die Preise allein in der Hauptstadt zwischen 2016 und 2017 um satte 20,5 % zugenommen haben und dass die Bestandsmieten bundesweit exorbitant steigen. Aber statistische Tatsachen verschwinden im Gelächter der Macht. Immobiliengesellschaften verdienen sich dumm und dämlich, und das Einzige, das ihnen diesen Verdienst zuschreibt, ist das Eigentumsrecht, das sich schon lange nicht mehr an die im Grundgesetz verankerte Sozialbindung von Eigentum hält. Aber ich werde nicht auf dieser Linie argumentieren. Das können Experten tun.
Ich möchte eine von vielen Erfahrungstatsachen erwähnen, die ich im Zuge meiner Beteiligung als Rechtsreferendar bei einer Mieterinitiative in einem Wohnviertel Stuttgarts gewonnen habe, wo die Angst und der Zweifel frappierend auf den Körpern junger und alter Arbeiterinnen und Arbeiter wie mit Kohlestiften gezeichnet waren und wo die Arroganz und der Zynismus der großen Immobiliengesellschaften ihr Werk verrichteten, wozu die Ordnung der Verhältnisse sie motiviert.

Auf einem der Mietertreffen kamen wir auf das Thema der Instandhaltungspflicht des Vermieters zu sprechen. Hintergrund war, dass die Immobiliengesellschaft, dem das ganze Wohnviertel gehörte, die Krankenschwester, Bau- und Industriearbeiter, Erzieher, Friseure, Überzählige, Rentner, Studenten usw. usf. mit einer Kündigung aus den Hochhäusern werfen wollte, um die alten Häuser abzureißen und an ihrer statt Neubauten zu errichten. Dabei wurden die Häuser über zehn Jahre hinweg durch die Missachtung der Instandhaltungspflicht der Gesellschaft regelrecht zerstört. Man hatte die Häuser mutwillig in einen desolaten Zustand durch Unterlassen gebracht, sodass dieselbe Gesellschaft sich nun urplötzlich – wo der Markt das Immobiliengeschäft brutal lukrativ machte – die Absicht hatte, diesen Zustand zu beheben; nicht etwa mit Reparaturarbeiten, denn hierfür war es nun schon zu spät. Das Bauwerk der Wohnhäuser war bereits erfasst und marodiert. Man wollte die Wohnhäuser abreißen und neue bauen; d.h. die profitarmen Arbeiterwohnviertel beseitigen, an deren Stelle ein profitreiches Wohnviertel für Bildungsbürger etc. treten soll – ein klassischer Fall von Verdrängung und Gentrifizierung.
Wie es so kommen musste, war es nun aber schwer nachzuweisen, dass die Gesellschaft diesen Zustand absichtlich herbeiführte. Ich war der einzige Jurist in der Runde und darüberhinaus nicht einmal ein Volljurist. Doch dieser Unterschied ist für Notleidende bedeutungslos. Wenn du Jura studiert hast, bist du Rechtsanwalt, also kannst du uns helfen. So schilderten mir in diesem Zusammenhang diese von Angst getrimmten, würdevollen Menschen die seit Jahren bestehenden Mängel an den Wohnungen, zu deren Behebung der Vermieter rechtlich verpflichtet ist. Tatsächlich hat die Gesellschaft nichts getan; nicht die undichten Fenster ausgewechselt, die kaputten Heizungen durch neue ersetzt, Briefkästen montiert, nicht Löcher gestopft, Schimmel beseitigt und dergleichen. Entweder hat die Gesellschaft auf Schadensmeldungen geschwiegen oder mit unverständlichem Verwaltungsdeutsch brieflich getröstet. Dabei erzählte mir eine auf die Rente zugehende, alleinlebende Erzieherin, die beim Gehen humpelte und auf der ergrauten Schädeldecke bereits Haare verlor, dass vor einigen Jahren im Treppenhaus ihrer Mietwohnung eine Schlägerei zwischen zwei Personen stattfand. Den Grund wusste sie nicht. Sie hatte nur gehört, wie sich die beiden Personen zunächst beschimpften und dann ein lauter Knall zu hören war, wie wenn ein Stein gegen ein Garagentor donnert. Als es ruhiger wurde, ging sie die Treppen herunter und entdeckte direkt nach der Eingangstür neben zerwühltem und zerrissenem Werbematerial von Supermärkten einen breiten Blutstreifen an der Wand. Sie erschrak und lief sofort in ihre Wohnung. Dann rief sie am nächsten Tag den Vermieter, also die Gesellschaft an, um den Vorfall zu melden. Ein Sachbearbeiter nahm die Meldung zu Protokoll. Anschließend bat sie um die Beseitigung der Blutspur an der Wand und der Sachbearbeiter antwortete ihr, dass demnächst eine Reinigungsfirma vorbeikommen wird. Das war nun drei Jahre her. Was geschah? Seither hatte sie mehrmals wegen derselben Sache bei der Gesellschaft angerufen, jedes Mal mit einem anderen Sachbearbeiter gesprochen und jedes mal wurde sie mit den selben Worten besänftigt. Die Fachfirma ist bis zu jenem Tag, wo sie es mir auf dem Mietertreffen erzählte, nicht aufgetaucht. Die Sachbearbeiter beten dennoch dieselbe Formel nach wie vor herunter. Die getrocknete Blutspur streckt sich immer noch über die Wand im Treppenflur. Jedes Mal wenn sie das Haus betritt und die Eingangstür öffnet, schlägt dieser Frau die Blutspur entgegen, die ihr ihre Ohnmacht bescheinigt. Statt abzuhelfen, hat die Gesellschaft ihr zwischenzeitlich die Kündigung der Mietwohnung erteilt.
Ich machte die alte Erzieherin auf die Instandhaltungspflicht des Vermieters und ihr Mietminderungsrecht aufmerksam. Doch allzu bald erkannte ich in ihren müden Augen ihr trostloses Schweigen, das mir ihre Wehrlosigkeit zu erkennen gab. Ich verstummte und in diesem Augenblick stieß mich von der Seite eine kleine schwarzhaarige Frau an, die ein zerfurchtes Gesicht hatte und von der ich wusste, dass sie eine verrentete Krankenschwester war, der die Bezüge gerade mal dafür reichte, über die Runden zu kommen. Mit hoffnungsfrohem Blick fragte sie: „Du bist doch Rechtsanwalt [egal wie oft ich sagte, dass ich keiner bin; für sie war ich ein Rechtsanwalt, weil ich Jura studiert hatte], es muss doch Gesetze geben, die nicht zulassen, dass wir unser Viertel verlassen müssen, nicht wahr? Kannst du mir aufschreiben, wo ich sie finde?“ Das aufrichtige Interesse dieser Dame rührte mich, aber ihrer Bitte konnte ich nicht nachkommen, weil es solche Gesetze nicht gab. Gesetze, die Räumungen verbieten, die Wohnrecht zum Grund- und Menschenrecht machen, gibt es nicht. Aus Verlegenheit stammelte ich irgendetwas aus Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit und soziales Mietrecht zusammen, die nichts als tote Worte waren. Ich schämte mich, weil ich das Gesetz studiert hatte, auf das sie so viel hegte, ohne zu ahnen, dass das Gesetz nichts mit ihr zu tun haben will.

Leerstand ist Geiselhaft der Bevölkerung

Warum erzähl ich das? Wegen den Hausbesetzern in Stuttgart und Berlin. Not ist der praktische Ausdruck von Notwendigkeit, schrieb Marx. Die Hausbesetzer haben diese Not erkannt und darüber hinaus, dass die Notwendigkeit die praktische Antwort auf die Not ist. Diese Praxis haben sie ergriffen. Dafür sollte man ihnen danken. Die Menschen, so die Botschaft ihrer Praxis, sollten sich nicht wie Ratten behandeln lassen; sie sollten sich nicht auf Gesetze verlassen, die Räumungen legalisieren und Obdach kriminalisieren, die also den Gebrauchswert von Räumen, darin zu wohnen und sich in ihnen zu entfalten, verbieten, während dieselben Gesetze gleichsam den Tauschwert von Räumen, aus ihrer Vermietung oder ihrem Verkauf Profite zu erzielen, gebieten, ja fördern – was eine barbarischen Dialektik mästet. Die Menschen sollten sich nehmen, was ihnen gehört, aber ihnen verweigert wird: einen Dach über den Kopf. Denn Leerstand ist ein Akt kollektiver Erpressung, durch die die soziale Klassengewalt spricht und die Bevölkerung in Geiselhaft nimmt. Gegen Erpressung hilft aber nur eins: Widerstand.
Kürzlich habe ich gelesen, dass sich in Berlin Mieterinitiativen zusammentun und gegen große Immobiliengesellschaften die Eigentumsfrage erheben. Gegen die Praxis der Immobiliengesellschaften, Mieter von ihrem Lebensraum und ihren Vierteln zu enteignen, erheben sie die Forderung, die Gesellschaften zu enteignen, die Wohnraum zu Spekulationsabsichten zweckentfremden. Die Aktivisten von Berlin und Stuttgart zeigen, dass diese Forderung praktisch mit der Besetzung von Leerstand beginnt.
Im Übrigen hat das einen weiteren Vorteil: statt Menschen aus ihren Wohnungen zu verdrängen, verdrängt die Hausbesetzung Spekulanten aus den Vierteln. Wenn also die Aktivisten auf ihre Transparenten schreiben: „Die Häuser denen, die sie brauchen“, dann ist dazu nur noch hinzuzufügen: „Die Häuser denen, die sie bauen.“ Die Hausbesetzung in Berlin und Stuttgart sollte, da weder der Staat, noch das Gesetz und erst Recht nicht der Markt hilft – seit Jahren nicht abhilft – ein Signal für Hausbesetzungen in Köln, Hamburg, Düsseldorf, München, Wuppertal und in allen Großstädten der Republik sein.

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