Liebst Fin,
ich habe ja schon öfter in meinen Briefen erwähnt, dass mir in letzter Zeit immer häufiger von Veränderungen im Sozialsystem für Familienhilfen berichtet wird. Aber es gibt dort nicht nur eine Zunahme der Väter-Lobby – einer Zunahme von Gerichtsverfahren und Gutachten, welche trotz Gewalt gegen ihre Frauen/ Ex-Frauen den Vätern Sorgerechte über ihre genetischen Kinder zugesprochen werden, Stichwort: PAS „Parental-Alienation-Syndrom“ -, die für eine Veränderung der gesellschaftlichen Sicht auf die Machtverteilung in Familien spricht, sondern es gibt eine weitere, sich zuspitzende Problematik, die sich in Familien mehr und mehr breitmacht und weiter ausbreiten wird.
Ich spreche von Geldern, die nicht mehr für Sozialleistungen für Familien und die Probleme, die in/ aus familiären Strukturen erwachsen, zur Verfügung stehen.
Jüngst teilte mir unsere Familienhelferin völlig entgeistert mit, dass sie in ihrem Urlaub ein Email von der Casemanagerin meines Kindes erhalten hat, in der mitgeteilt wurde, dass die Maßnahme unserer Familienhilfe nach nun eineinhalb Jahren zum Ende des vergangenen Monats nicht mehr fortgesetzt würde. Die Email leitete sie mir weiter. In dem kurzen Dreizeiler fehlte eine Begründung. Es wurde nur sehr freundlich darauf verwiesen, dass wir Eltern uns ja an eine Elternberatungsstelle wenden könnten und uns zwecks eines Abschlussgespräches zeitnah auf eine Terminfindung einigen sollten.
Alles entschieden, keine Nachfrage, wie der Prozess derzeit verläuft, auch das halbjährliche Gutachten der Familienhelferin nicht abgewartet, nichts, einfach abgesetzt!
Aus meiner Wahrnehmung spricht das für eine Statistik, die nicht mehr den Auflagen entspricht, eine Casemanagerin, die angehalten wurde, Gelder einzusparen und Maßnahmen zu kürzen.
Und das ist eine Tendenz, die mir leider gar nicht neu ist.
Ich habe Freund*innen, die in sozialen Einrichtungen ihrer Lohnarbeit nachgehen und deren zustehende regelmäßige Gehaltserhöhungen ausgesetzt wurden.
Ich höre von sozialen Trägern, die bestimmte staatliche Zuschüsse nicht mehr bekommen oder nur noch in geringerem Umfang.
Ich weiß von Trägern, die soziale Projekte unterstützt haben, und kürzlich pleite gegangen sind.
Ich weiß von Geldern für soziale Fonds, die plötzlich ausgeschöpft sind und deshalb keine neuen Anträge mehr bearbeiten können, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind.
Es wird an Sozialleistungen gesparrt.
Und das in einer Zeit, wo diese umso dringlicher benötigt werden.
Ich kenne inzwischen keine Familie mehr, die nicht mit Diagnosen, Assistenzen, Psycholog*innen, Physiolog*innen, Casemanager*innen, Familienhilfeeinrichtungen usw. beschäftigt ist, um irgendwelche „Defizite“ auszugleichen.
Ich schreibe „Defizite“, weil ich, wenn ich über die Häufung der Symptome bei Kindern und Jugendlichen nachdenke, immer Erich Fromm im Hinterkopf habe: „Die Normalsten sind die Kränkesten, und die Kranken sind die Gesündesten (…) Das ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, zeigt, dass bei hm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie dadurch, durch diese Friktion, Symptome erzeugen.“
Ich sehe „Defizite“, die bei jungen Menschen auftauchen / diagnostiziert werden, als strukturelles Versagen unserer Gesellschaft, nicht als individuelle Defizite, die ein Mensch hat.
Und wenn ich nun darauf zurückblicke, worüber ich seit drei Jahren in diesem Blog schreibe, welche Probleme und Schwierigkeiten für Gen Z (siehe meinen Artikel: Mothering von Gen Z – Hängend auf Mamas Sofa) schon bekannt sind, dann graust es mir, wenn ich mir vorstelle, dass diese wieder in der bürgerlichen Kleinfamilie aufgefangen werden sollen, weil es immer weniger soziale Träger gibt, die Kapazitäten freihaben und es keine Menschen mehr gibt, die für ihre sozialen Berufe ausreichend bezahlt werden.
Und wie lange ist Corona mit seinen Lockdowns eigentlich schon „vergessen und vorbei“?
War die familiäre Gewaltzunahme nicht auch ein Problem von ≠stayathome?!
Alles noch immer nicht aufgearbeitet.
Aber, wie ich aus deinem letzten Brief rausgelesen habe: für eine Kriegsfront braucht es auch keine besonders stabilen oder in sich reifen oder gefesstigten Menschen mit einem sicheren Selbst, sondern eigentlich nur eine Masse, die möglichst flexibel für diverse Arbeiten einsetzbar und relativ niedrigschwellig zu unterhalten ist.
Deshalb würde ich von meinem Außenposten – hier im hohen Norden, der an der Front des Präfaschismus die familiären Strukturen beobachtet und am eigenen Selbst miterlebt – zu deinem Bild des freien Falls (Achter Brief) rückmelden wollen: Diejenigen, die schon Kinder haben und sich im mothering befinden, schlagen eigentlich schon seit den Lockdowns am Boden auf, aber sie weigern sich mit Händen und Füßen, dies als strukturelles Problem, als eine massive Veränderung der Gesellschaft anzuerkennen, sondern bleiben lieber bei einem individuellen Versagen ihrer Brut und rackern sich daran als Gute Regines ab.
Die gute Regine ist eine von mir bezeichnete Fassette der patriarchalen Komplizin, die sich in altruistischer Selbstaufgabe verliert und dadurch das System möglichst lange stabilisiert und erhält, egal wie beschissen es – auch für sie selbst – ist.
Ich vermute dahinter ein noch immer Leugnen bzw einen historisch-psychologischen Wesenszug der Boomer, nämlich eine Haltung aus dem Kalten Krieg, der sich ja im individuellen Empfinden dann auch plötzlich ins Nichts aufgelöst hat, während es vorher noch die Prepper Bunker und weitere absurde Empfehlungen (wie sich unter dem Tisch verstecken) gab.
Letztendlich eine Haltung, wie auch du sie von den Menschen in deinem letzten Brief beschreibst, die einer Führerfigur als begeisterte Masse gefolgt sind; wie die Kinder dem Rattenfänger, ein Relikt der deutschen Erziehung.
Und was passiert parallel zu dieser trägen, anpassungsunwilligen Masse an Menschen?! Der Staat zieht seine Strukturen weiter hoch.
Deutsche Grenzen werden wieder besetzt.
Auf einer meiner Sommerferienreisen im Bulli durch Deutschland mit meinem Kind, leitet das Navi mich 100 km über einen Schlenker nach Frankreich und wieder zurück. Eigentlich total normal, aber jetzt nicht mehr: denn die Grenzposten sind wieder besetzt.
Es ist etwas ganz anderes, das durch die Medien zu hören, als dann selbst zu erleben, wie ein Grenzposten mit angezogener Waffe in beiden Händen einem entgegentritt und erst durch ein Nicken, durch seine Zustimmung, eine physische Weiterfahrt möglich ist – übrigens nur nach Deutschland rein, nach Frankreich hinein gab es keine Grenzkontrollen.
Ich betone ja immer mal wieder, dass leider auch ich so ein Mensch bin, die durch viel Leid erst am eigenen Leib Erfahrungen machen musste, um ihr Abstrampeln im Butterfass zu begreifen und die nicht, wie einige andere Menschen, am Modell lernen und erfassen konnte, was ihre Marginalisierung, aber auch ihre Privilegien eigentlich genau bedeuten. Deshalb empfehle ich allen meinen Lieben um mich herum derzeit immer wieder: kümmert euch um aktuelle Reisepässe für euch und eure Kinder; und auch anderes, weil ich weiß, dass oft nur über solche persönlichen Beziehungen, Realitäten erfasst werden können.
In diesem Sinne beende ich meinen Brief aus meinem Sommer 2025 an dich. Ich bin viel unterwegs gewesen, habe viele meiner Privilegien sehr bewusst genossen und mich auch verabschiedet. Jetzt reise ich noch zu einem letzten geplanten Spot: in meine kindliche, jugendliche und jungerwachsene Heimat, zu einem Treffen mit alten Freunden und inneren Persönlichkeiten.
Ganz viel Liebe für dein Sein und unseren Austausch
Nena
2. Brief: Im Namen der Sicherheit
5. Brief: Suizide auf den Gleisen – Morde an den Grenzen
6. Brief: Neu definiert: besser „gesund“ als bedürftig, lieber tot als krank