vonfrida 23.10.2025

Frida, ich und du

Intimer Umgang mit Schmerz und Leid des Menschen in ihrer jeweiligen Rolle: Sozialisation, mothering, Feminist

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Liebst Fin,

mir brennt mal wieder ein Thema unter den Nägeln, das ich unbedingt mit dir teilen und dich zu deiner Perspektive auf dieses Phänomen befragen möchte, denn, ich glaube, es ist ein weiterer wichtiger Wahrnehmungsaspekt derzeit – in diesem Präfaschismus – und knüpft auch an deine abschließenden Gedanken aus deinem letzten Brief an.

Ich habe keinen klaren Begriff dafür, aber es geht um eine Langsamkeit des Körpers bei einer gleichzeitig rasenden Geschwindigkeit dieser kognitiven, dieser geistigen Fähigkeit des Menschen.

Es ist Herbst, hier im hohen Norden nochmal stärker spürbar. Es ist nasskalt, die Zugvögel sammeln sich unter lautem Geschrei über den Köpfen der treibenden Stadt und die Blätter färben sich tiefrot. 

Meine körperlichen Zipperlein setzen wieder ein; war der Sommer vielleicht eine Zeit der Leichtigkeit, so ist der Herbst für mich immer eine Zeit des erzwungenen Innehaltens und der Besinnung, denn ich liege eigentlich immer mit irgendwas flach: mal einer Erkältung, mal einer Bronchitis, mal einer Gastritis oder anderen Entzündung oder Muskelverspannung, diesmal mit Rücken. Egal, welche Pläne und Aktivitäten ich vielleicht vorhatte, mein Körper zwingt mich auf die ein oder andere Art oft in dieser Jahreszeit zu einer Langsamkeit, die ich dieses Jahr aber nochmal anders wahrnehme. 

Denn, wenn ich meist eine der ersten war, die sich wegen irgendwas krankmelden musste, erlebe ich dieses Jahr schon seit September eine Häufung an körperlichen Leidensgeschichten meiner Mitmenschen, die ich zuletzt während der Corona-Pandemie so häufig thematisiert wahrgenommen habe. Aber diesmal sind sie nicht nur bezogen auf ein Virus, sondern auf unterschiedliche Symptome (Erkältung, Husten, auch Rücken, Verletzung, Überanstrengung…). Mich beschleicht der Eindruck, dass viele, dass sehr viel mehr Menschen als sonst körperlich überfordert sind.

Egal, ob ich meine losen Messenger-Gruppen durchscrolle oder meine persönlichen Nachrichten, es hagelt Absagen, Entschuldigungen und Verschiebungen und gleichzeitig ein „Weitermachen“ was Pläne und Planungen angeht. 

Spreche ich in persönlichen Beziehungen das Innehalten, Fühlen und Wahrnehmen an oder berichte, wie ich mich durch meine körperlich erzwungene Langsamkeit mit Themen wie Veränderung, Unsicherheit, Angst beschäftige, treffe ich zwar auf interessierte, neugierige und anerkennende Ohren, aber auch eine weitere Überforderung bei den Menschen, die ich als „Überforderung der Verarbeitung“ bezeichnen würde. Denn selbst innezuhalten, zu fühlen und wahrzunehmen scheint für viele meiner Mitmenschen nicht möglich oder auch nicht gewollt, auch wenn ihre Körper und die Jahreszeit sie eigentlich dazu ermutigen.

 

Diese Wahrnehmung knüpft an frühere Eindrücke und Gedanken von mir an: 

Verarbeitung der letzten Pandemie

Während der Pandemie traf ich mich mit einer kleinen Gruppe von befreundeten Menschen regelmäßig, meist digital, um über unsere Erlebnisse und Eindrücke zu sprechen und diese auszutauschen, ja miteinander abzugleichen: Was passiert hier eigentlich gerade um uns herum? Was macht es für Gefühle, leere Supermarktregale zu sehen oder mit jungen Menschen zu arbeiten, die ihre Freunde nicht mehr treffen dürfen oder deswegen mit der Polizei konfrontiert wurden? Wie gehe ich damit um, mit meinem Kleinkind vor einem abgesperrten Spielplatz zu stehen? Habe ich Angst? Und wovor und um was eigentlich? Viele solcher Gedanken und Gefühlseindrücke habe ich damals manchmal auch nur für mich in Tagebüchern festgehalten. Aber beides brauchte Zeit, die ich mir nehmen musste.

Im Verlauf der Lookdowns und auch noch danach habe ich erlebt, wie gut, wie wichtig es für mich war, meine Eindrücke, Gefühle und Gedanken mit anderen auszutauschen und zu sortieren, um diese Zeit, diese außergewöhnliche Erfahrung irgendwie zu verarbeiten. Ich glaube, an Vielen ist sie einfach vorbeigerauscht und sie haben Mühe, sich überhaupt noch an Details und Abläufe zu erinnern.

Der langsame Mensch

Ein weiterer Eindruck war während meiner Elternzeit und der Kleinkindzeit meines Kindes, als es sich darin übte, das Laufen zu lernen.

Begonnen hat es als Baby sich hin und her zu biegen, um sich auf den Bauch zu drehen. Dann gab es eine Übungsphase, in der es sich vorne hochreckte und den Körper mit den erstarkten Ärmchen durch die Gegend zog, bis dann der Arsch endlich hochkam und die Beine stark genug trainiert waren, das Gewicht krabbelnd zu halten ohne seitlich umzukippen. Und dann kam der schwierigste oder sichtbar schwierigste Step: die Ganzkörperaufrichtung. Zuerst die Oberkörperaufrichtung und die Kniestreckung mit dem Körpergewicht drauf, natürlich nur irgendwo festhaltend oder sicher gestützt an meiner Hand, bis dann endlich, endlich, endlich die ersten Schrittchen möglich waren, zuerst an Gegenständen hangelnd und dann endlich: der aufrechte Mensch.

Was für eine verhältnismäßig lange Zeit der Übungen, des Scheiterns, des Muskelaufbaus, der Koordination von kombinierten Bewegungsabläufen und der ständigen Wiederholungen von kleinsten Zwischenschritten habe ich damals staunend gedacht und alle meine festgelegten Meinungen über mich als erwachsenen Menschen, bei dem irgendwas an Gelerntem oder Entwickeltem mal abgeschlossen wäre, hart infrage gestellt.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Baby sich keinen dieser Schritte/ Bewegungsabläufe überlegt oder geplant hat, aber es hat beobachtet und geguckt und dabei konnte es andere Menschen, andere Kinder und Erwachsene sehen, die in verschiedenen Stadien ihrer motorischen Entwicklung waren. Und selbst, wenn es irgendwann vielleicht eine Vorstellung oder eine Idee, einen Wunsch davon hatte, dass es sich auch so bewegen, dass es vielleicht auch so aufrecht oder so mobil sein wollte, bin ich mir ebenfalls sehr sicher, dass es immer wieder erlebt hat, dass Vorstellung oder Wille und tatsächliche Fähigkeit oft nicht zusammenkamen, sondern es erst langer körperlicher Übungen bedarf, bis dieser Körper, dieses Gebilde aus Muskeln und Anderem in der Lage ist, die vom Willen ausgehenden Bewegungen auch auszuführen. Und dafür hat es sich Zeit genommen, für sein Verhältnis an bisheriger Lebenszeit hat es sich dafür sehr viel Zeit genommen.

Ich habe damals mit Bestürzung und Erstaunen beobachtet, wie langsam dieser menschliche Körper ist, was Veränderung und Entwicklung angeht, aber auch erfasst, dass dies nie abgeschlossen ist. 

Die Welt rauscht an einer vorbei

Ein letzter wichtiger Gedanke bezieht sich aufs mothering generell, also die Zeit, die ein Mensch mit der Brutpflege eines oder mehrerer Kinder verbringt. Ich habe dafür ein Bild kreiert und für mich als Metapher benutzt, die sich darum dreht, dass du dich als Mensch – der mit der langsamen Entwicklung eines kleinen Menschen beschäftigt ist – viel langsamer auch durch die Gesellschaft bewegst, also nicht nur faktisch mit einem Baby im Tragetuch oder einem Kleinkind an der Hand, sondern auch in der Wahrnehmung von Veränderungen.

Ich weiß z.B. noch sehr genau, dass social media lange Zeit einfach an mir vorbeiging, weil ich in der Zeit des Erstarkens der zentralen App (nämlich Insta) mit Beikost, Babybrei und Windelfrei beschäftigt war und gleichzeitig meinen Berufswiedereinstieg leisten musste. Ich hab das dann irgendwann „nachentwickelt“, aber auch sehr erzwungen, weil ich merkte, dass ich ohne dies eine wichtige Teilhabe an der Gesellschaft verpassen würde.

Und das ging mir ziemlich oft so (obwohl ich nur ein Kind habe), deshalb habe ich diese Metapher für das mothering gezeichnet: Du sitzt mit deinem Kind auf dem Schoß oder auf dem Fußboden deiner Wohnung, am Küchentisch oder auf einem Sessel und schaust aus dem Fenster hinaus in die Welt und dabei empfindest du dich in einem Zug sitzend und schaust aus den Zugfenstern auf die Landschaft, die an dir vorbei rast und siehst, wie das Leben, die Gesellschaft da draußen an dir vorbei fliegt, während du deinem Kind geduldig noch einen Löffel Brei zwischen die Lippen schiebst oder ihm bei einer weiteren Aufstehübung die Hand hältst.

Gleichzeitig ist dein eigenes Gehirn schon darin geübt und soweit trainiert, dass es sich auf eine Meta-Ebene begeben und nochmal anders auf auf die Situation schauen kann, aber dein Körper hängt fest in einer Abfolge an Carearbeit. 

Du sitzt in einem Zug, der einem ungewissen Ziel, einer weit entfernten Zukunft entgegenfährt und die Welt rauscht draußen vorbei, weil sie viel zu schnell ist für diesen langsamen Organismus Mensch, der aber auf der anderen Seite eine enorme geistige Fähigkeit hat, nämlich die derer, die da draußen vorbeirauschen, die gerade auf der Höhe ihrer geistigen Fähigkeiten sind oder zumindest Anteil daran haben

 

Im Hier und Jetzt

Ja, und mit diesen Gedanken und Bildern komme ich zum Jetzt und meinen Eindrücken zurück: Es war ein schwieriger Sommer; wetterbedingt, weltpolitisch und was private Ressourcen betrifft. Es gab wenig Gelegenheit, sich zu erholen, zu verarbeiten, aufzutanken; was auch immer mensch damit verbindet. Und jetzt ist Herbst. 

Und es gibt immer noch social media und auch immer mehr KIs; ChatGPT wird immer häufiger verwendet, tauscht in Gesprächen auf, wird für Texte und schriftliche gedankliche Strukturen benutzt, kreiert Bilder und wird sogar als Gesprächspartner herangezogen. 

Neulich brauchte ich eine Mitgliedsbescheinigung von meiner Krankenkasse. Also wählte ich die Nummer der Hotline und traf dort auf eine KI, eine sehr kompetente KI, die nicht nur in der Lage war, mein Anliegen zu verstehen, sondern auch die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten, mir zu versichern, dass mir meine Bescheinigung in den nächsten Tagen per Post zugestellt würde und mich um ein Feedback ihrer Arbeitsleistung zu bitten. Zunächst begeistert von dieser schnellen Abwicklung war ich gleichzeitig auch konsterniert, dass eine KI Zugriff auf meine Gesundheitsdaten hat, irgendwas über meinen Körper weiß und verarbeitet, ohne dass ich ihre Programmierung kennen, geschweige denn beurteilen könnte. Bei einem Hotline-Menschen habe ich wenigstens eine grobe Vorstellung von dessen Sozialisation und mindset.

Ich bin ja schon lange begeisterte Science Fiction Anhängerin und kenne deshalb alle möglichen Darstellungen von künstlicher Intelligenz aus verschiedenen Jahrzehnten und die Konflikte und Probleme und auch die menschlichen Lösungsstrategien von gütlicher Einigung bis zur katastrophalen Vernichtung. Und dabei stellt sich die Konfliktlinie im Prinzip immer so dar, dass es einen überragenden Geist, überragende kognitive Fähigkeiten gibt und mehr oder weniger fimschige menschliche Körper und Emotionen oder Gefühle dazwischen. 

Wenn ich dieser Unterhaltungsindustrie lausche, kann ich mich herrlich verlieren in moralischen und ethischen Grundsatzüberlegungen und den Autor:innen in dieses oder jenes distopische oder utopische Universum folgen.

Aber, wenn ich meine Beobachtungen menschlich kindlicher Körperentwicklung, meine eigenen Erfahrungen mit meinem Körper und meine Wahrnehmung um mich herum ernst nehme, dann habe ich derzeit mehr denn je den Eindruck, dass Körper und Geist hart auseinanderklaffen. 

Und es beschleicht mich der Gedanke, dass der Geist dabei ist, sich dieses langsamen Körpers zu entledigen. Es gibt bestimmt Menschen, die tagtäglich ChatGPT mit ihren Gedanken und Hirngespinsten füttern, in der Hoffnung, damit wenigstens einen Teil ihres überhöht bewerteten hervorragenden Geistes im Internet abzubilden oder zumindest Spuren zu hinterlassen. Das wäre wahrscheinlich sehr viel einfacher und ginge sicherlich auch viel schneller, als ein Baby zu einem selbstständigen Menschen heranzuziehen, auch noch mit der Gefahr, dass dies ein eigenständiges Individuum wird.

Der Körper wird oft als Gefäß der Seele bezeichnet und – was auch immer Seele ist oder wie das individuell definiert wird – es gibt da auf jeden Fall einen Geist, der in der Lage ist eine Vergangenheit zu speichern, eine Zukunft zu berechnen oder zumindest zu planen, Vergleiche anzustellen, Abstraktionen und Möglichkeiten zu ersinnen und komplexe Entwürfe zu kreieren, aber die Ausführung bedarf noch immer einer Zusammenarbeit mit dem Körper, mit seinen Erinnerungen (Körpergedächtnis), Gefühlen und emotionalen Verstrickungen, die das kognitive System auch völlig überrollen, sogar übernehmen können.

An dieser Stelle möchte ich auf die Gefahr dieser Spaltung in Zeiten des Präfaschismus hinweisen. Ich kann nicht beurteilen, wie viel Infrastruktur (Strom usw.) KIs, digitale Netzwerke und Speicherorte brauchen, aber ich kann erfassen, wie viel Ruhe, Langsamkeit und Verarbeitungszeit ein menschlicher Körper braucht, um mit Veränderungen umzugehen, insbesondere was Gewohnheiten, Sicherheit, Ängste und Vertrauen angeht.

Und wenn diese Zeit fehlt, bleiben überforderte menschliche Individuen zurück, die Gefahr laufen, einer  Ideologie zu verfallen, die ihnen Richtung und Struktur, aber vor allem wieder Sicherheit gibt.

Mit diesen Gedanken schließe ich meinen Brief an dich. Ich bin gespannt, was dir zu diesem Thema durch den Kopf geht und beantworte damit vielleicht sogar deine letzte Frage: Ja, es scheint im menschlichen System eine Langsamkeit zu geben, die dem kognitiven System erst bewusst wird, wenn es bestimmte Dimensionen begreifen kann, was meist erst durch einschneidende Erfahrungen passiert. 

Aber, wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe: Die körperliche Entwicklung mag sehr langsam sein, aber körperliche Reaktionen können so viel schneller sein, als das kognitive System überhaupt begreifen kann.

Und im Zwischenfeld dieser Faktoren bewegen sich wahrscheinlich auch unsere Handlungsspielräume.

Mit unheimlich viel Dankbarkeit für unseren Austausch!

Deine Nena

 

 

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