»Davon ausgegangen, dass die Determination des Daseins, menschengemachte Fantasievorstellungen, von Schicksal etc. pp. sind, um den individuellen Bedürfnissen nach Romantik nachzukommen und einen Rechtfertigungsgrund für das eigene Verhalten vorzulegen.
Davon ausgegangen, dass Leben und Sterben, Geburt und Tod, die Meilensteine eines abgeschlossenen Zykluses sind – der Start- und Endpunkt. Der Kreislauf, die sich permanent wiederholende Dauerschleife.
Doch ein Kreis ist zweidimensional, er beinhaltet lediglich eine Spur, eine Bahn, wie die Kreislaufbahn eines Satelliten, ein vorgefertigter Rhythmus, der jede Biegung des Weges bereits genau kalkuliert hat. Zu Ende gedacht ist ein zweidimensionaler Radius, eine klare Anleitung, nach der wir zu funktioneren haben. Fuck off, Schicksal. Dreidimensionalität, erweitert die Perspektiven.
Die Kugel, der vollkommene Körper – Erde und Erdkern, Planeten und Himmelskörper. Moleküle und Atome – die kleinsten Bausteine jeglicher Materie.
Zerschneiden wir eine Kugel mit einem Skalpell fein säuberlich, ist das Resultat eine schier unbegrenzte Anzahl an zweidimensionalen Kreisen, die in ihrer Gesamtheit, in ihrer Summe, eine Kugel ergeben und somit die Vielzahl von Möglichkeiten einschließen, Optionen, die uns, uns Menschen in jeder Sekunde unseres Daseins zur Verfügung stehen.«
~ Charlie Manello (latenter Lyriker, dystopischer Dramatiker, zynischer Zeitgeist)
»In einem unendlichen Raum, besteht die Möglichkeit, nur die Möglichkeit, dass eine endliche Anzahl von Atomen doppelt auftreten kann.«
~ nach Jan Schneider
»Somit ist unsere Zusammensetzung, unsere Substanz, ein Weltenwandler, der theoretisch mehrfach die Straßen des Orions durchwandern könnte. Das ICH also HIER und das ICH also DORT – eine potenzielle Chance des Zufalls. So gesehen kann allenfalls das sterben, was sich in unserem Bewusstsein, als unser Ego manifestiert hat, unsere Zusammensetzung von Atomen, unser molekularer Bauplan ist unsterblich in der Unendlichkeit.
Doch jeder ist eine Kugel für sich. Unsere Wege werden sich stochastisch gesehen trennen. Wir haben stets alle Möglichkeiten. Eine Frage der Wahrscheinlichkeit, ob unsere identischen Doubles, in verschiedenen Entwicklungsstadien, in verschiedenen Universen, in unterschiedlichen Dimensionen, das glücklichere Los treffen. «
~ Charlie Manello (latenter Lyriker, dystopischer Dramatiker, zynischer Zeitgeist)
Es sind jene Art der ausufernden Exzesse, deren Geschichten nie oft genug gehört werden können, jene Auswirkungen, die das Leben als solches prägen und bestimmen. Ich beschloss an diesem Tag so richtig zu saufen, bis zum Erbrechen, es gibt keine reinere Form der Karthasis.
In der schäbigen Kaschemme angelangt, versorgte ich mich mit einer halben Maß des schalen Bieres.
Zusammengesunken kauerte ich mich auf meinem Barhocker, meine beiden Hände umklammerten fest mein Pilsener, eine nasse Zigarette erzitterte in meinem Mundwinkel. Ich machte mir nicht die Mühe meinen neuen Ledermantel auszuziehen. Trotzig musterte ich die Interaktion der anwesenden Meute. Soziale Prozesse gaben mir stets Rätsel auf. Der Lösung mittels erfolgreicher Feldversuche kam ich gefühlt erst nach zwei Litern Bier näher. Der Abend schien bedeutungsvoll zu werden. Ich hatte noch viel vor. Um Geschäftigkeit vorzuheucheln flackerte erneut ein Streichholz auf, die nächste Kippe. Nur nicht die eigenen Gedanken preisgeben. Nur keine Konversation zulassen, nur keine schlappen Sprüche vor der 2-Liter-Schwelle.
»Was darf ich der Herrschaft im feinen Mantel bringen?« Der Barkepper.
»Mir geht es blendend. Noch ein Halbes.«
»Sehr gerne.«
Ich kannte den Barkeeper, vor ein paar Jahren noch waren wir Wegbegleiter. Und jetzt, »Noch ein Halbes.« Manchmal gibt die gemeinsame Vergangenheit nicht mehr her. Ich bemerkte, dass seine Blicke auf meinem Mantel ruhten, während der Gerstensaft aus dem Zapfhahn mein Glas langsam füllte. Der Abend verlief nach meinem Geschmack. Noch ein Liter. Genüsslich ließ ich die Zigarette von meinen Lippen gleiten. Mit Bedacht und in Ruhe regulierend, ließ ich den Dunst aus meinem Mund entweichen. Wir hatten Blickkontakt. Ein breites Grinsen auf meinem Gesicht.
»Mir geht es blendend.« Leise Töne folgten dem Tabakqualm.
»Bitteschön.«
»Dankeschön. Stimmt so. Vielen Dank für deine Mühen.«
Ich wandte mich von ihm ab. Der Dienst an mir, obwohl er ihn hasste, tat gut, gerade weil er ihn gemäß den allgemeinen Vorstellungen von Pflicht und Tugend ausführte und dem Ganzen seine individuelle Abneigung unterordnete.
Auf der Toilette sank ich in die Hocke und betrachtete den unförmigen Schatten, den mein Körper auf den Grund der Kloschüssel warf. Ich steckte mir meinen Finger in den Rachen. Es tat sich nichts. Grob führte ich meine gesamte Hand ein und grabschte nach meinem Zäpfchen und den umliegenden empfindlichen Schleimhäuten.
Es überkam mich, als ich gerade aufstehen und gehen wollte. Der Schwall ergoss sich auf dem Saum meines Mantels. Die Tür ging auf.
»Verdammt.«
Der fremde Gast starrte mich an.
»Komm schon, verpiss dich.«
Der fremde Gast stammelte: »Die Kabine war nicht abgeschlossen. Sorry.«
»Verdammt, komm schon.«
Ich riss ihm die Klinke aus der Hand und schloss mich ein. Mit meinem Schal säuberte ich meine Mundwinkel. Wieder draußen angelangt, stapfte ich an die Theke, um den beißenden Geschmack nach Galle loszuwerden. Sie spielten einen alten Lovesong. »Baby« von Donnie & Joe Emerson. Ich tanzte. Entrückt musste ich an einen anderen Abend vor einigen Jahren denken. Ich war damals hier mit einem Mädchen. Damals Lampions und jetzt Gallengeschmack. Ich tanzte weiter. Als das Lied verstummte und in eine scheppernde 80er Nummer überging, trottete ich zurück zu meinem Platz. Dort wartete bereits einer. Er kam mir bekannt vor, wie eine verblasste Analogphotografie aus meiner Vergangenheit. Er lächelte nur. Ich fragte mich, wie er hier sein konnte.
»Du bist heute hier?!«
Ein hübsches Lächeln als Erwiderung. »20 Jahre! Setz´dich.«
»Der Ring an deinem Finger?«
»Ja.«
»Du siehst toll aus.«
Ein hübsches Lächeln als Erwiderung.
»Wie geht es ihr? Ich muss sie seit 20 Jahren nicht gesehen haben?«
Ein hübsches Lächeln als Erwiderung. »Gut.«
»Wo bist du?«
»Komm mit, ich zeig es dir.«
Ich folgte der Aufforderung. Wir erhoben uns von unseren Stühlen. Dort blickten wir uns in die Augen. Einem inneren Impuls folgend, griff ich nach seinen Handgelenken und umklammerte sie. Dann küsste ich mein jüngeres Ich. Es war ein seltsames Gefühl, das mich ergriff, vertraut und doch zugleich so fern.
»Zeit zu gehen.« Wieder sein hübsches Lächeln.
Hand in Hand entschwebten wir aus der Kneipe. Kurz vor der Tür hielt ich inne und ließ meinen Blick über die Personen im Raum schweben. Alles wirkte entrückt. Ich erblickte den Kellner, ein Lachen umspielte meine Lippen, diesmal ehrlich.
»Morgen, haben geschlossen. Zeit zu gehen.« Der Barkeeper rüttelte mich auf. Benommen stürzte ich auf.
»Zeit zu gehen.« Ich wiederholte.
»Alles in Ordnung?«
Mein falsches Lächeln als Antwort. »Es geht mir blendend!«
Um dem Nachdruck zu verleihen, fingerte ich in meinen Taschen nach Zigaretten, fand einen kurz nach dem Filter abgebrochenen Stengel und steckte ihn mir an. Ohne mich umzuwenden eilte ich hinaus. Draußen atmete ich panisch, sog die kalte Luft in meine Lungen. Es brannte, ich stolperte weg von den Fenstern, weg von der Tür, damit mir seine Blicke nicht folgen konnten. An einer Parkbank kam ich etwas zur Ruhe. Für Tränen war es zu kalt.
Im Nachhinein war ich zu leichtsinnig, als wir betäubt von der Freude und vom Alkohol, über die Straßen torkelten, erwischte ein vorbeibrausendes Auto seinen Körper und er verschwand in der Nacht. Womöglich hatten wir die rote Ampel übersehen. Das Verblassen einer Photografie, das Töten einer Option. Sie war verschwunden und mir blieb noch nicht einmal der Ring an seinem Finger, das Kleinod der Erinnerung.
Überlegte ich es mir jedoch genauer, so wurde mir klar, ich hatte mich unlängst für meinen Weg, für meine Umlaufbahn entschieden und hatte genug schlechte Charaktereigenschaften um hier zu stehen.