vongnu 26.12.2019

GNU – Literarische Grotesken

Damals wie Heute das zynische Lächeln über die menschliche Irrfahrt. | © Fabian Fox Fotografie

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»Ich liebe seine Augen. Er hatte sehr schöne Augen, finde ich. Sie sahen klug aus. Er war eigentlich ein ganz anderer Typ als ich. Weiß nicht, wieso er das alles tat. Wir sprachen nicht wirklich viel miteinander. Aber ist das nötig? Ich meine, wir verbrachten Zeit miteinander, das schafft doch auch eine Verständnis-Ebene? Ich glaube, dadurch lernte ich ihn auch richtig kennen. Ich wusste, wenn er traurig war oder ihn irgendetwas erregte. Ich wusste oft nicht, was es war, doch ich wusste, dass es so war. Trotzdem sprach ich ihn nie direkt darauf an. Was solls schon. Wir redeten einfach weiter, als sei nichts gewesen. Ich kannte ihn dann doch schon ein bisschen. Ich wusste nicht, ob er auch wusste, was ich so alles für mich wusste. Vielleicht ist ja genau das, die Ebene, dass wir gegenseitig so manches wussten, ohne miteinander darüber wirklich reden zu müssen. Er wird mir fehlen. Wirklich, ich mochte ihn. Er wird mich nicht mehr anschauen. Fuck, ich glaube sogar, dass sind so Mädchenaugen, irgendwie besonders, vielleicht die von meiner Mum. Doch wer weiß das schon alles und wieso.«

Wir waren eine Band. Da war Felix, der hatte mit allem angefangen. Wir kannten uns aus unserem Studium und seitdem zogen wir das Ding einfach durch. Ich war von Anfang an mit von der Partie. Felix sang und schrieb die Texte, doch das ist eigentlich eine Untertreibung, eine fehlende Wertschätzung. Er hatte die ganzen Ideen zu dem Kram, er war der Kopf, er hatte das Konzept, er war brillant. Ich spielte den Bass. Das einzigste, was man mir damals zugetraut hat. Ist vielleicht auch die beste Lösung, wenn man das Ding unbedingt mit einem Kumpel durchziehen möchte und dabei selbst relativ wenig kann. Bis dato, natürlich. Felix kaufte mir einen Bass und er meinte, dass ich damit nicht wirklich viel kaputt machen könnte. Er hatte Recht, heute war ich ein Meister, Fuck. Dann gabs da noch Frankie und Guss, Leadgitarre und Drumset. Wir starteten zu viert, hatten eine Menge Spaß, früher, flogen durch die Lande und waren gelegentlich drauf und dran, den ganzen Scheiß zu schmeißen und endlich eine ehrliche Arbeit anzufangen. Das ist natürlich, wirklich, wir sind alle beste Kumpels, aber wenn man das ganze Jahr sich in ein Zimmer drücken muss, der eine, dem anderen die Flamme ausspannt, dann kann es schonmal passieren, das man im Suff auch die unangenehmen Dinge anspricht. Ist natürlich nicht soweit gekommen. Wir wurden älter, die Musik ernstzunehmender und die Drogen weniger. Das war eine bewusste Entscheidung, irgendwann gibt es so ein Punkt im Leben und man ist müde nach all den Geschichten, gibt nichts mehr, was lockt, einfach eine neue Etappe und wir haben gemeinsam entschlossen, dass wir jetzt professionell sind, die nächste Phase einleiten. Eigentlich wie mit einem guten Wein, man reift mit dem Alter, doch wird besser.
Richtig gut wurden wir aber erst, als wir Thomas ins Boot holten. Thomas war der kleine Bruder von Felix. Er war vielleicht Mitte 20 und spielte die Synthesizer. Zuvor war das Felix Job, während unserer Konzerte, doch Thomas war der eigentliche Champ.

Thomas war zwei Jahre in der Band. Er hatte gerade seinen Abschluss an der Uni gemacht. Ursprünglich war sein Plan im Anschluss ein bisschen in der Industrie zu arbeiten, vielleicht ein halbes Jahr. Solange konnte er was auf die hohe Kante legen und zu Hause bei seinen Eltern bleiben. Danach würde er ausziehen, er hätte genug für einen sauberen Start und würde in den Süden gehen. Dort gab es flächendeckende, tief-zusammenhängende und alte Wälder. Dort hätte er eine Menge als Forstwirt zu tun, neue Bestände anpflanzen, alte Bestände ausdünnen und sonst was. Felix sah seinen Bruder nicht sehr oft. Er war fast nie zu Hause, nur zwei-dreimal im Jahr, an Weihnachten und irgendwelchen Geburtstagen und sonstigen Feten, wenn es sich eben nicht vermeiden ließ. Er meinte es noch nicht einmal böse, er hatte nichts gegen seine Eltern, aber sein Leben war einfach ein anderes. Als er vor zwei-einhalb Jahren seinen Bruder an Weihnachten sah, da fiel ihm zum ersten mal auf, wie alt er eigentlich mittlerweile geworden ist. Er hatte nie wirklich einen Kopf für solche Sachen, doch irgendwie machte ihn der Gedanke traurig. Da saß sein Bruder, den er nie richtig kennenlernen konnte, dafür ist er zu früh abgehauen, zum Studieren und für kleine Kinder hatte er auch nie sonderlich viel übrig gehabt. Sie waren süß und alles, doch er konnte mit ihnen nicht wirklich viel anfangen. Felix entschloss mit seinen Bruder eine Runde zu Plaudern und mal zu hören, was er eigentlich machte. Er wusste, dass er studierte, seine Mum hatte es ihm vermutlich mal am Telefon gesagt, doch er vergass solche Sachen schnell wieder. Er klopfte an das Zimmer seines Bruders, das vor Urzeiten mal seines gewesen sein musste. Dort saß er und hantierte an einem kleinen Synthie. Ein paar schräge Sounds stoben durch den Raum. Es war gut, Felix wusste, wenn ihm was gutes in die Ohrmuschel drang.
Er hätte sowas seinem unschuldigen Bruder, wie er dort im Jogginganzug und artig gestriegelten Haaren saß, nie zugetraut.

»Hey Großer.«

»Hey.«

»Frohe Weihnachten.«

»Ja, dir auch.«

»Studierst noch?«

»Bald fertig.«

»Verstehst du was davon.« Sein Blick wanderte zum Synthie.

»Schätze schon.« Er lachte schelmisch in sich hinein.

»Ja.« Felix überlegte. »Willst du ein Glas Wein?«

»Wieso nicht?«

Sie tranken und hörten Musik. Thomas kramte eine Schallplatte aus seiner Kiste und legte sie auf den Plattenspieler. Felix kannte die Scheibe.

»Wusste gar nicht, dass du The United States of America auf dem Schirm hast. Ich mag die auch, gute Band.«

»Ich glaube, du weißt ne ganze andere Menge auch nicht.«

»Schätze schon.«

»Felix?«

»Ja.«

»Wow, haben wir jemals so viel miteinander gesprochen?«

»Schätze nein.«

»Schade eigentlich.« Er lachte wieder auf seine besondere Weise. »Wieso jetzt?«

»Naja. Du weißt ich habe diese Band. Bin mit den Jungs viel unterwegs. Und dann an Weihnachten, Mum und Dad. Schätze ich bin nicht gut im Telefonieren und so.«

»Ist ok.«

Sie tranken ihren Wein und hörten der Musik zu.

»Kannst du nochmal spielen?«

»Klar.«

Dann kamen sie wieder, die vertrauten Laute, schräg, aber irgendwie doch eingängig und fähig auf einer ganz eigenen Gefühlsebene zu agieren. Ein Hauch von Zukunft, doch mit einer eigentümlichen Traurigkeit, fast nostalgisch, wie eine Hommage an eine prunkvolle, aufgeblasene Vergangenheit, doch unfähig jenen Geist nochmals wirksam heraufzubeschwören und deshalb zu einem verzerrten Abklatsch verdammt. Die Gegenwart und Zukunft könnte süß sein, doch im Angesicht der Vergangenheit ist es unmöglich, die Zeiten in seliger Eintracht zusammen zu führen oder vielleicht auch verdreht und andersrum. Felix konnte nicht an sich halten, was hatte er auch zu verlieren.

»Was hast du vor?«

»Bisschen Kohle machen und dann weggehen.«

»Wie alt bist du?«

»26.«

»Verdammt, ich bin damals mit 17 raus.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Egal. Was hältst du davon, ich habe einen Vorschlag. Scheiß auf das halbe Jahr Fließbandarbeit. Wir brauchen einen neuen Mann in unserer Band. Jemand der ein bisschen an den Synthies rumbasteln kann. Und bevor wir irgendeinen Wichser von der Hochschule holen, der das nur für die Asche macht und keinen Schimmer von unserer Seele, also unserer Musik, unserem Ausdruck hat, hole ich mir meinen kleinen Bruder ins Boot. Da tue ich gleich was sinnvolles und greif dir ein bisschen unter die Arme.  Dann bleibt alles in der Familie. Du weißt schon. Und ich zahl dir das gleiche, wie die Kollegen in der Fabrik. Kann dir aber sagen, es macht mehr Spaß. Erstmal nur für ein halbes Jahr. Mal schauen, ob du mit den Kumpels klarkommst und wenn du Lust hast, dann machen wir weiter. Nur solange du willst natürlich, dann kannst du immer noch weiter und schauen…und.«

»Ja.«

»Kennst du überhaupt unseren Kram.«

»Klar, habe hier ein paar CDs.«

Die Bemerkung versetze Felix einen Stich. Er wusste fast nichts über seine Familie, was sie machten, wie es ihnen ging und trotzdem schienen sie ihn zu lieben, ja sie machten ihn noch nicht mal Vorwürfe, dass alles so war. Das machte es nicht erträglicher.

»Ist cool, also euer Zeugs.«

Thomas willigte ein, es lockte ihn und er hielt sich damit alles offen, konnte jeder Zeit wieder aussteigen, doch jetzt erstmal was erleben, die Kleinstadt verlassen und ein bisschen rumkommen. Ihre Eltern hatten nichts dagegen. Sie erahnten natürlich Felix frühere Exzesse, doch sie schwiegen darüber. Felix war gereift, er war erwachsen. Sie liebten ihre Söhne und wollten ihrer Freiheit nicht ihm Wege stehen. Sie wussten, dass sie zurückkommen würden, wenn es sich für sie so richtig anfühlte.

Thomas blieb zwei Jahre. Seine Pläne hatte er längst aufgegeben. Es gefiel ihm Musik zu machen. Die anderen Jungs waren mittlerweile seine besten Freunde geworden. Solche Jungs hätte er, während seiner Universitätszeit, dringend gebraucht, obgleich sie um einiges älter als er waren. Er genoss es mit ihnen nach ein paar gespielten Gigs im Backstagebereich auf durchgebrochenen Ledercouches abzuhängen, ein paar Biere zu leeren und ihren Stories von der großen, alten Zeit zu lauschen, die nun freilich längst an ihnen vorbeigezogen war.
Ansonsten sah er wenig, er ging nicht alleine in Clubs oder Bars, nur wenn sich einer der anderen erbarmte und ihm anschloss. Wenn er ab und an, dann neue Leute traf, dann erzählte er vor allem alte Geschichten und Anekdoten seiner Bandkollegen. Er fühlte sich wohl. Nur mit seinem Bruder war es anders. Felix war distanziert, sie redeten nicht wirklich viel. Thomas hatte gehofft, seinen Bruder in der Zeit besser kennenzulernen, doch er war verhalten, fast spießig und gezwungen erwachsen. Er musste ihm nichts vormachen. So erfuhr er höchstens etwas von seinen Kollegen, wenn sie wieder von damals plauderten und Felix anschwärzten. Er konnte es nicht immer glauben, da es sich kaum mit dem deckte, was er jetzt wahrnehmen konnte. Er schob es auf das Alter ab. Hin und wieder, wenn Felix scherzte, was im Umgang mit seinen alten Freunden vorkam, sagte er, sie sollten ihm keine Scheiße erzählen. Trotzdem fühlte er, dass sein Bruder unglaublich froh darüber war, dass er nun in ihrer Band mitmischte. Auch das war etwas wert. Thomas musste die Leute eben so nehmen wie sie sind, auch wenn es nicht immer ganz einfach ist und Felix sein Bruder war.
So hatte alles seine Ordnung und Richtigkeit, die Zeit verstrich weiter und nach einer Reihe von kleinen Gigs in Kneipen und Klitschen, die sich früher einmal als Underground betitelten, heute jedoch nur heruntergewirtschaftete Spelunken von alten Leuten waren, die sich noch immer zu jung für die Pension fühlten, stand eine umfangreiche Tour an.
Tom veränderte sich. Er zog sich anders an, ließ sich die Haare etwas länger wachsen, färbte sie wasserstoffblond und kleidete sich immer in einer dicken, grellen neonfarbenen Warnweste, wie sie die Straßenarbeiter auf den Baustellen trugen. Er zog sie nur selten aus, auch wenn es stickig wurde. Ein starker Kontrast zu den restlichen Bandmitglieder. Sein extravagantes Auftreten biss sich mit dem beigefarbenen Look seines Bruders. Er strahlte, obwohl er sein Werk in den hinteren Reihen verrichtete.
Er hatte sich für die Tour viel vorgenommen. Vielleicht lag es an seinem Alter. Er würde bald die 30 erreichen, doch wenn er sich dessen bewusst wurde, so wurde ihm klar, dass in seinem Leben nicht sonderlich viel passiert war. Dreißig, wusste er, war irgendwie magisch. Er war aus dem gröbsten raus. Klar, er war in einer Rockband, davon träumten viele, doch es mangelte ihm gerade an den profanen Dingen des Lebens. Er brauchte keine Abstürze und Fallschirmfahrten in den Abgrund, wie die seines Bruders, mit dem Verb leben würde er sich zufrieden geben. Er wollte nicht immer nur die Weisheiten der Jungs rezitieren wollen. Er war ein unbeschriebenes Buch und er konnte ein paar Abdrücke auf dem Kerbholz vertragen. Er wusste, dass ihm der neue Anstrich gut stand und das er gut aussah. Er lächelte verlegen, als ihm das auch Guss bestätigte. Tom träumte davon ein paar Mädels kennenzulernen und in Zweisamkeit, bekifft mit ihrem Tourbus über die nächtlichen Straßen zu brausen.

Felix bemerkte all diese Veränderungen und die neue Selbstsicherheit, die sein kleiner Bruder aus den Bestätigungen der Leute schöpfte. Er wusste, dass sich Thomas zunehmend in den Fokus rückte und seine virtuosen Melodieläufe auf Anklang stießen. All dies registrierte er nicht ohne Unmut und er fragte sich, ob er womöglich neidisch sei. Missmutig ertappte er sich bei seinen Überlegungen und schüttelte sie ab, diese diffuse Sorge war gänzlich unbegründet, er war der Mastermind, die Musik war sein Konzept, es war seine künstlerische Vision und die anderen lieferten ergänzend ihre entsprechenden Beiträge. Die Komplexität fußte in seinen Erfahrungen und in den langwierigen Versuch- und Reifeprozessen seines Konzeptes, das nun seine Vollendung gefunden hatten.
Und dennoch, tief im Inneren wusste er, dass er die gewonne Aufmerksamkeit jederzeit abebben konnte, er würde es sich nie eingestehen, doch er konnte auf seinen Bruder keinesfalls verzichten. Er war das letzte Glied seiner Vorstellungskraft, auf das er so lange verzichten musste. Ihm musste er nichts erklären, er wusste genau, was er sich unter Melancholie vorstellte. Die jugendliche Traurigkeit und Enttäuschung war die fehlende Komponente zu seiner ästhetischen, verkopften Nerdigkeit.

Sie gaben ihr fünftes Konzert. Austin, die Halbzeit ihrer Tour. Der Erfolg war durchschlagend. Ihre Konzerte ein Erlebnis für sich. Es war nicht durchinzeniert und durcharrangiert. Er war der Dirigent, er erschuf diese Schwingungen, die die gesamte Band mit auf eine Reise nahm. Sie ritten die Wellen und improvisierten, drifteten ab und gelangten wieder zurück, zu jenen Epizentrum, dass die Schallwellen nach festen strukturierten, doch fremden Polyrhythmen ausspuckte, wie ein Vulkan die Lavamassen. Er nahm sie bei der Hand und leitete sie durch dieses gefährliche, unbekannte Land. Zusammen mit dem Publikum durchbrachen sie die Zeit und versetzten sich für die Dauer des Konzertes, zurück in die zukünftige Vorzeit, bevor sie wieder wohlbehalten in der Gegenwart ankamen. Sie kamen zu ihrem letzten Song, doch dieses mal war etwas anders. Es waren die Synthies. Er drehte sich um, Thomas sah ihn nicht, sein Mittelscheitel baumelte auf und ab und verdeckte seine Augen. In eigenen Gedanken vertieft, fixierte er die Klaviatur. Er gehorchte ihm nicht mehr, er vertraute ihm nicht, er ließ sich nicht durch seine Hand, seine Wellengang-Schwingung leiten. Er fuhr seinen eigenen Filmstreifen. Es war die Trotzigkeit der Jugend, der krasse Gegensatz zu seinem ausgeklügelten Grenzgang. Erzürnt und etwas schwankend, schaute er zu Guss. Der zuckte mit den Schultern und spielte weiter. Es war eine offene Revolte, einzig zu dem Zweck ihn blosszustellen. Er würde sich nicht die Blöße geben, sich selbst entlarven, selbst abdanken. Er sang weiter, was nicht gerade einfach war, der Takt brach erneut, er konzentrierte sich auf die Leadgitarre, doch es kamen nur willkürliche Laute. Wahllose, wütende Schläge auf den Tasten. Er verstand Thomas, er wusste genau, was er wollte. Jetzt lächelte er wieder sein seltsames Lächeln und er würde es ihm nur allzu gerne von den Lippen saugen. Er ließ sich nichts anmerken, sang lauter. Das Stück dauert bereits zu lang. Er wusste nicht was geschah, er verlor die Kontrolle, unter ihm war jenes gefährliche Land, er strauchelte, knickte um, stöhnte, schrie, würde er es wieder verlassen können? Ihm blieb keine andere Wahl, er griff nach der Hand seines kleinen Bruders, der nur lachte, er musste mitspielen. Er vertraute ihm notgedrungen, andernfalls würde er erneut ihm gefährlichen Land straucheln und dort verenden. Er hoffte, er betete und sie waren wieder dort, im Epizentrum, dem Ursprung der Wellen, doch sie gingen noch darüber hinaus. Bisher sah er stets nur die Wasseroberfläche, doch sein Bruder tauchte unter und er tauchte mit, widerwillig und zugleich von Neugier beseelt wollte er sehen, was dort am Grund lag, welche Kreatur, die Polywellen dort ausspie. Er wurde degradiert und die Menge jubelte. Es war vollbracht. Alles bebte oder war das nur sein Körper, der zitterte, er hatte wässrige Augen. Er war fertig. Er ließ sich fallen, der Vorhang schloss sich, er nahm tiefe Atemzüge, wollte niemanden mehr sehen. Einige Zeit verstrich.

Ich erinnere mich gut an jene elektrisierende, aufgeladene Stimmung. Wenn das Leben einer Band, eine Parabel ist, dann war der Abend die Spitze oder der Nullpunkt. Es war besser wie Sex, irgendein komischer Orgasmus, ein Gefühl, dass da irgendetwas ist, dass verdammt nah an der Vollkommenheit war und dann sackte es ab und spuckte etwas aus, das war ein neues Genre. Wir waren neue indische Götter. Wir köpften die ersten Biere. Nach einer Weile sagte ich zu Guss, dass ich mal nach Felix schauen würde. Ich war immer der Mann für solche Sachen, kannte ihn am längsten und wusste mit ihm im Zweifelsfalle umzugehen. Felix kauerte immer noch zusammengesunken, stützte sich an einem Kasten und starrte Löcher in den Boden. Bei dem Anblick hätte ich am liebsten kehrt gemacht. Ich fürchtete mich und musste unwillkürlich an das Ende unserer Truppe denken. Ich weiß nicht, ob er mich kommen hörte, wenn ja, dann konnte er es gut verbergen und schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich tätschelte wohlwollend seinen Rücken, er nahm immer noch keine Notiz von mir.
Also nahm ich den versuchten Anlauf einer beiläufigen Konversation.

»Das war wohl ne Show heute? Dein Ausbruch auf der Bühne Felix. Verdammt, du hast uns ordentlich durchgeritten.«

Er ignorierte mich weiterhin, würdigte mich keines Blickes. Nach einer Weile setzte er ruhig an, doch in ihm brodelte es.

»Wo ist er?«

»Ich nehme an mit ER meinst du deinen Bruder?«

»Wo ist Tom?«

»Er ist gleich gegangen. Wollte nicht mal ein Bier mit uns kippen. Er sagte, dass da eine Lady in der ersten Reihe war. Da kam anscheinend irgendetwas auf und dann ist er mit dem Taxi ins Bali 2 gefahren. Ich weiß auch nicht mehr, du bist nach der Show ja gleich hinter die Bühne und Tom war, glaub ich, noch ne Weile draußen mit den Fans und so.«

»Du fährst mich in die Kneipe.«

»Ich weiß nicht, hältst du das für so ne gute Idee, Felix? Ich mein, der Junge ist zurückhaltend, heute war ein heftiger Abend, lass ihm doch dem Spaß, mein ich.«

Er wollte nicht hören und schob mich durch den Hinterausgang. Ich hielt es nicht für ratsam mich gegen ihn aufzulehnen und ließ den Motor stottern. Auf der Fahrt redeten wir kein einziges Wort miteinander.
Felix hatte Tunnelblick. Zielgerichtet suchte er in den verschiedenen Bereiche und Raumaufteilungen nach Thomas. Das Bali 2  war eine Schabracke aus Holz. Früher machten wir hin und wieder mal ein Absacker, doch das war aus der Mode gekommen, seit wir ein Haufen alter Männer waren, die nun an ihren glorreichen Märchen aus der Vergangenheit zerrten.
Wir fanden ihn nicht. Gerade als ich merkte, was dieser ganze Aufzug eigentlich sollte, setzte ich an und sagte Felix, dass mir dieser ganze Blödsinn zu dumm wurde und ich jetzt ins Hotel fahren würde, da klopfet uns irgendein besoffener Popper auf die Rücken und quasselte uns schief von der Seite an. Das er es ja gar nicht glauben könnte, dass die ganze Band sich hier im Bali rumtrieb und er Tom gerade auf dem Scheißhaus gesehen hatte. Das reichte Felix, meine berechtigten Einwände, dass der Junge vermutlich die besagte Lady flachlegen würde, ignorierte er. Ich trottete ihm wieder einfach nur nach, wie so oft. Felix öffnete energisch alle Kabinen in der Toilette. Wir waren dort nicht die einzigsten, aber die Leute waren zu breit, um sich durch ein paar betagte Herren stören zu lassen. In der Hintersten fanden wir Tom. Er war grün angelaufen und seine durchdringenden Augen starrten uns an. Er hing mit dem Hinterkopf über der Kloschüssel, seine blonden Haare hingen nach unten, wie Fliegengitter vor einer Tür. Er sprach nicht, blickte nur durch uns hindurch. Sein Hose war offen und hing unten an den Socken. Wir wussten beide sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Es war Felix, der sich zuerst niederließ und Toms Kopf aus der Kloake zog. Er schlug ihm auf die Backe, doch der Körper blieb leblos. Er zog seine Jacke aus und bettete Toms Kopf darauf. Ich war wie paralysiert, statisch und unfähig etwas sinnvolles zu tun. Felix blieb weiterhin ganz ruhig. Er ließ sich nichts anmerken und griff in die neongelben Jackentaschen und zog ein paar eingetrocknete Taschentücher, Streichhölzer und einen kleinen Beutel mit feinen weißen Kristallen hervor. Er öffnete die Tüte, leerte etwas auf seinen Handrücken und hielt mir diesen demonstrativ hin.

»Hier!« Es war eine klar Aufforderung. Es war eindringlich. Mir blieb keine andere Wahl. Ich zog etwas von dem Pulver in meinen Nasenflügel. Danach tat Felix es mir gleich. Auf einmal konnte ich wieder klar denken, ich merkte einen starken Energieschub, der in mein Kopf schoss, es fühlte sich alles wie schockgefroren an, ich war da, mein Herz auf 120.

»Benzedrin.« Felix emotionslose Feststellung.

»Sicher.«

Dann fühlte er nach Toms Pulsschlag.

»Ruf den Krankenwagen.«

Ich tat wie geheißen. Wir brachten ihn in eine stabile Seitenposition und warteten auf das Tatütata der herbeieilenden Sirenen.

»Ist das von dir?« Er hielt mir den Beutel mit dem traurigen Rest unter die Augen.

»Nein, man. Das letzte mal war vor zwei Jahren und davor, keine Ahnung, schon ewig her.«

»Dann hatte er es vor der Show.«

»Nein, sicher nicht. Thomas ist da anders.«

»Ja?«

»Ziemlich sicher. Ich würde es wissen. Wir redeten über solche Sachen.«

Wir hörten die Sirenen. Ich glaubte, die Rettung nahte. Vielleicht konnte ich auch noch nicht die Tragweite ganz verstehen oder wollte es zumindest nicht. Ich drückte mich vorsichtig aus der Tür, um nicht die Jungs bei ihrem Job zu behindern. Tom hatte keine Ahnung von den Sachen. Wenn man zu spät ihm Leben, mit sowas konfrontiert wird, fehlt einem vielleicht die Erfahrung von früher. Ich weiß es nicht. Er wurde Heute Teil unserer Vergangenheit. Ich glaubte zu wissen, dass es heute sein Abend werden sollte. Wahrscheinlich wollte er nur Spaß mit dem Mädchen haben und das hatten sie allen Anschein auch. Sie kannte Tom aber nicht gut, wusste nicht, dass er anders war, dass er das aber heute ablegen wollte. Niemand fand sie. Es war astreines Speed frei von Zusatz. Sie hatte vermutlich Schiss bekommen, als sie merkte, dass es ihr anders dabei ging, als ihm. Ich kann es ihr nicht verübeln. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte sie gleich nach den Hörer gegriffen. Aber ist sowas nicht genau die Tragik. Ich glaube, ihm Schmerz darf man nicht mit dem Zahnstocher an abgelaufenen Szenarien und Hypothesen stochern.
Er wurde Heute Teil unserer Vergangenheit.

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