Einen Menschen, der öffentlich überaus wirkungsvoll und mit großer Reichweite verkündet, dass im Stadtbild deutscher Städte die vielen Migranten ein Problem seien, dem die Innenminister der Länder energisch mit Abschiebungen abhelfen müssten, und diese Einlassung damit rechtfertigt, man möge die eigenen Töchter fragen, wie diese sich in deutschen Städten fühlten – womit er außerdem zu verstehen gibt, dass äußerlich als Migranten Gelesene unbedingt und immer als sexuelle Belästiger, wenn nicht Vergewaltiger, zu fürchten seien – einen solchen Menschen nicht als einen widerwärtigen, eingefleischten Rassisten zu bezeichnen, der wegen Volksverhetzung vor Gericht gehöre, fällt ausgesprochen schwer. Aber, wie der Sprecher der Bundesregierung ausführt, das sei eine Überinterpretation der Aussagen des Bundeskanzlers. Und wenn Schläger (und Schlägerinnen) mit ihren Mitteln der indirekten, aber unüberhörbaren Aufforderung des deutschen Regierungschefs nachkommen sollten, das Stadtbild von allem Störenden zu reinigen, dann ist der Kanzler nicht etwa ein übler, aber erfolgreicher Hetzer, sondern lediglich ein falsch verstandener, um Frauen, Städte und Sicherheit besorgter Mitbürger und väterlicher Politiker. Ich habe zwei Familienangehörige, die nach landläufiger miesmenschlicher Ansicht nicht ins Stadtbild passen, weil sie schwarz sind, und zwei andere, die nicht passen, weil sie transsexuell sind. Ich schiebe es im Alltag weg, dass sie alle vier nicht erst seit gestern Gefahr laufen, auf der Straße ge- oder erschlagen zu werden. Merz hat diese Gefahr jetzt noch einmal kräftig erhöht. Dass ich ihm nicht ins Gesicht sagen, nicht überall verbreiten darf, er sei ekelhaft, ein abscheulicher Hilfstotschläger in feinem Anzug und Krawatten-Skinhead – denn das fiele wohl unter Strafe – dass ich hingegen ertragen muss, dass einer wie er Regierungschef ist und trotz allem bleiben wird, das alles nährt meine ohnmächtige Wut, vor deren Größe ich immer öfter verstumme, weil ich nicht will, dass sie mich schneller fortträgt, als ich ihr Worte zu verleihen mag.
Wodka trinken ist in dieser Gemütsverfassung nicht ratsam, denn das Getränk fördert, bei scheinbar klarem Kopf, Gefühlsausbrüche. Es reißt einen übergangslos ins Weinen oder Schimpfen, dann wieder in feierlichste Beschwörungen großer Liebe und Hingabe hinein. Wie viele der Gefühlsergüsse, die abgelauscht Weltliteratur geworden sind, sich dem Wodka verdanken, ist nicht auszumachen. (Es gibt auch andere Drogen, aber tatsächlich wirken nicht alle gleich.) Ich sehe mich also mit aufgerissenen, starren Augen an einem reich gedeckten Tisch sitzen und höre mich zetern, denn es reicht mir in einem Maß, dass ich die vollen Teller an die Wand schmeißen könnte. Solange über die Woken und ihre Lästigkeit zu Tisch parliert wird wie über Wolken und deren Lästigkeit, die Umständlichkeit des Genderns als Smalltalktopic ebenso beliebt ist wie die Umständlichkeit des Bahnfahrens, solange sollte ich den Wodka beim Zwischengang auch dann ablehnen, wenn die Gastgeber sich einen Abend mit Gerichten der russischen Küche vorgenommen hatten. Meine sind gute Philosophen, wissen von Heuristik, Hermeneutik, Dialektik, wie es gerade kommt, und natürlich ist Identität, also dass jemand ist, was er, sie, ey oder es eben ist, kein Ding, um das viel Aufhebens gemacht werden muss oder müsste, soll doch jeder, wie er will. Sagt philosophisch die Runde. Aber! Dass die! Immer wieder! Und in jeder Sendung! In jedem Kinderbuch! Warum denn nicht auch noch ein Transpirat, o Gott! Und ein Transkind, neben dem schwarzen, neben dem im Rollstuhl im Buddelkasten! Zu viel! Gib es mal zu! Und die Bahn kommt nicht und es regnet zur Unzeit und die Sprechverbote! Es gehe auf Keks, Zeiger, Nüsse und was eins sonst an Nerven habe, das müsse ich bitte verstehen. Ich schreie getroffen, ich brülle: Nein! Das ist der Wodka.
Was ich ganz ruhig und kalt sagen müsste, geht unter: Es gibt so etwas wie Macht und die Mehrheit, die sich als Norm empfindet, übt sie aus. Es ist darum beispielsweise für eine Frau mit Vollbart viel anstrengender, umwegiger und aufwändiger, sich unbefangen, als eine Frau unter vielen Frauen, in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie wird auffallen, oft Ablehnung erfahren, und muss damit einen souveränen Umgang finden. Sucht sie ihn und, erst recht, hat sie ihn gefunden, werden nicht wenige ihrer Umgebung ihr vorhalten, sie sei zu laut, zu schrill, zu anstrengend, sie könne privat ja, wie sie wolle, aber dass sie ihren Bart so vor sich hertrage, nerve kolossal. Man könne so etwas auch weglasern lassen. Und auf diese Weise durch das ganze Spektrum von körperlich-seelischen Eigenheiten und Merkmalen. Und durch das ganze Spektrum von LGBTQ+ & BIPoC, die Botschaft ist immer dieselbe: Hört bloß auf, euch aufzuspielen! Bleibt gefälligst unauffällig! Denn, aus den Augen, aus dem Sinn, wir sind ausgezeichnet tolerant mit allen, die wir nicht sehen, die wir nicht extra beachten, bedenken oder in unserer Nähe ertragen müssen.
Es gibt allerdings Menschen, die äußerliche Merkmale haben, die sogar einen deutschen Bundeskanzler im Stadtbild stören, obwohl der es gar nicht nötig hat, viel Fühlung mit irgendeiner deutschen Stadt und ihren Bewohnern und Bewohnerinnen aufzunehmen. Diese Menschen können sich schlecht verstecken und haben wenig Chancen, der von Merz’ Bemerkungen animierten Stadtbildreinigung zu entkommen. Der Bundeskanzler hat ganz sicher nicht gesagt, dass auch die Leute, für die er den Bundestag nicht mit bunten Fahnen zum Zirkuszelt machen würde, ihn im Stadtbild stören. Aber die Stadtbildreinigungskräfte sind in der Lage, den Kanzler hier weit auszulegen. Unter solchen Umständen klingt die als Smalltalk gemeinte Klage meiner Tischgenossen, die gendernde LGBTQ+&BIPoC-Community übertreibe maßlos bei ihren Anliegen, wie die Vorbereitung darauf, diese im Stich zu lassen, wenn der Mob auf sie losgeht; sie hätten sich ja nicht so hervortun müssen, sie hätten sich ja stärker zurückhalten können, das komme davon. Der Wodka wird schuld sein, dass ich nicht kühl und sachlich argumentiert habe. Doch nüchtern besehen: Es ist zum Ausflippen.