vonkirschskommode 21.10.2025

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

Mehr über diesen Blog

Einen Menschen, der öffentlich überaus wirkungsvoll und mit großer Reichweite verkündet, dass im Stadtbild deutscher Städte die vielen Migranten ein Problem seien, dem die Innenminister der Länder energisch mit Abschiebungen abhelfen müssten, und diese Einlassung damit rechtfertigt, man möge die eigenen Töchter fragen, wie diese sich in deutschen Städten fühlten – womit er außerdem zu verstehen gibt, dass äußerlich als Migranten Gelesene unbedingt und immer als sexuelle Belästiger, wenn nicht Vergewaltiger, zu fürchten seien – einen solchen Menschen nicht als einen widerwärtigen, eingefleischten Rassisten zu bezeichnen, der wegen Volksverhetzung vor Gericht gehöre, fällt ausgesprochen schwer. Aber, wie der Sprecher der Bundesregierung ausführt, das sei eine Überinterpretation der Aussagen des Bundeskanzlers. Und wenn Schläger (und Schlägerinnen) mit ihren Mitteln der indirekten, aber unüberhörbaren Aufforderung des deutschen Regierungschefs nachkommen sollten, das Stadtbild von allem Störenden zu reinigen, dann ist der Kanzler nicht etwa ein übler, aber erfolgreicher Hetzer, sondern lediglich ein falsch verstandener, um Frauen, Städte und Sicherheit besorgter Mitbürger und väterlicher Politiker. Ich habe zwei Familienangehörige, die nach landläufiger miesmenschlicher Ansicht nicht ins Stadtbild passen, weil sie schwarz sind, und zwei andere, die nicht passen, weil sie transsexuell sind. Ich schiebe es im Alltag weg, dass sie alle vier nicht erst seit gestern Gefahr laufen, auf der Straße ge- oder erschlagen zu werden. Merz hat diese Gefahr jetzt noch einmal kräftig erhöht. Dass ich ihm nicht ins Gesicht sagen, nicht überall verbreiten darf, er sei ekelhaft, ein abscheulicher Hilfstotschläger in feinem Anzug und Krawatten-Skinhead – denn das fiele wohl unter Strafe – dass ich hingegen ertragen muss, dass einer wie er Regierungschef ist und trotz allem bleiben wird, das alles nährt meine ohnmächtige Wut, vor deren Größe ich immer öfter verstumme, weil ich nicht will, dass sie mich schneller fortträgt, als ich ihr Worte zu verleihen mag.

Wodka trinken ist in dieser Gemütsverfassung nicht ratsam, denn das Getränk fördert, bei scheinbar klarem Kopf, Gefühlsausbrüche. Es reißt einen übergangslos ins Weinen oder Schimpfen, dann wieder in feierlichste Beschwörungen großer Liebe und Hingabe hinein. Wie viele der Gefühlsergüsse, die abgelauscht Weltliteratur geworden sind, sich dem Wodka verdanken, ist nicht auszumachen. (Es gibt auch andere Drogen, aber tatsächlich wirken nicht alle gleich.) Ich sehe mich also mit aufgerissenen, starren Augen an einem reich gedeckten Tisch sitzen und höre mich zetern, denn es reicht mir in einem Maß, dass ich die vollen Teller an die Wand schmeißen könnte. Solange über die Woken und ihre Lästigkeit zu Tisch parliert wird wie über Wolken und deren Lästigkeit, die Umständlichkeit des Genderns als Smalltalktopic ebenso beliebt ist wie die Umständlichkeit des Bahnfahrens, solange sollte ich den Wodka beim Zwischengang auch dann ablehnen, wenn die Gastgeber sich einen Abend mit Gerichten der russischen Küche vorgenommen hatten. Meine sind gute Philosophen, wissen von Heuristik, Hermeneutik, Dialektik, wie es gerade kommt, und natürlich ist Identität, also dass jemand ist, was er, sie, ey oder es eben ist, kein Ding, um das viel Aufhebens gemacht werden muss oder müsste, soll doch jeder, wie er will. Sagt philosophisch die Runde. Aber! Dass die! Immer wieder! Und in jeder Sendung! In jedem Kinderbuch! Warum denn nicht auch noch ein Transpirat, o Gott! Und ein Transkind, neben dem schwarzen, neben dem im Rollstuhl im Buddelkasten! Zu viel! Gib es mal zu! Und die Bahn kommt nicht und es regnet zur Unzeit und die Sprechverbote! Es gehe auf Keks, Zeiger, Nüsse und was eins sonst an Nerven habe, das müsse ich bitte verstehen. Ich schreie getroffen, ich brülle: Nein! Das ist der Wodka.

Was ich ganz ruhig und kalt sagen müsste, geht unter: Es gibt so etwas wie Macht und die Mehrheit, die sich als Norm empfindet, übt sie aus. Es ist darum beispielsweise für eine Frau mit Vollbart viel anstrengender, umwegiger und aufwändiger, sich unbefangen, als eine Frau unter vielen Frauen, in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie wird auffallen, oft Ablehnung erfahren, und muss damit einen souveränen Umgang finden. Sucht sie ihn und, erst recht, hat sie ihn gefunden, werden nicht wenige ihrer Umgebung ihr vorhalten, sie sei zu laut, zu schrill, zu anstrengend, sie könne privat ja, wie sie wolle, aber dass sie ihren Bart so vor sich hertrage, nerve kolossal. Man könne so etwas auch weglasern lassen. Und auf diese Weise durch das ganze Spektrum von körperlich-seelischen Eigenheiten und Merkmalen. Und durch das ganze Spektrum von LGBTQ+ & BIPoC, die Botschaft ist immer dieselbe: Hört bloß auf, euch aufzuspielen! Bleibt gefälligst unauffällig! Denn, aus den Augen, aus dem Sinn, wir sind ausgezeichnet tolerant mit allen, die wir nicht sehen, die wir nicht extra beachten, bedenken oder in unserer Nähe ertragen müssen.

Es gibt allerdings Menschen, die äußerliche Merkmale haben, die sogar einen deutschen Bundeskanzler im Stadtbild stören, obwohl der es gar nicht nötig hat, viel Fühlung mit irgendeiner deutschen Stadt und ihren Bewohnern und Bewohnerinnen aufzunehmen. Diese Menschen können sich schlecht verstecken und haben wenig Chancen, der von Merz’ Bemerkungen animierten Stadtbildreinigung zu entkommen. Der Bundeskanzler hat ganz sicher nicht gesagt, dass auch die Leute, für die er den Bundestag nicht mit bunten Fahnen zum Zirkuszelt machen würde, ihn im Stadtbild stören. Aber die Stadtbildreinigungskräfte sind in der Lage, den Kanzler hier weit auszulegen. Unter solchen Umständen klingt die als Smalltalk gemeinte Klage meiner Tischgenossen, die gendernde LGBTQ+&BIPoC-Community übertreibe maßlos bei ihren Anliegen, wie die Vorbereitung darauf, diese im Stich zu lassen, wenn der Mob auf sie losgeht; sie hätten sich ja nicht so hervortun müssen, sie hätten sich ja stärker zurückhalten können, das komme davon. Der Wodka wird schuld sein, dass ich nicht kühl und sachlich argumentiert habe. Doch nüchtern besehen: Es ist zum Ausflippen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kirschskommode/kann-ich-bitte-einen-anderen-kanzler-bekommen/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Wenn ich den Text lese, denke ich: Es ist ein wichtiger Weckruf, dass politische Führung nicht nur Frage von Macht und Struktur ist — sondern auch von Symbolen und Sprache. Wer das „Stadtbild“ fürchtet, wer sichtbare Minderheiten subtil als Problem darstellt, sendet eine Botschaft — selbst wenn sie nicht offen formuliert wird. Und diese Botschaft trifft Menschen mitten im Alltag. Für mich heißt das: Politische Führung muss mehr sein als Verwaltung — sie muss Haltung zeigen, inklusiv sein, klar gegen Ausgrenzung stehen.

  • Danke.🙏 Ich wünschte, es gäbe keinen Grund, um Ihre Familie fürchten zu müssen. Ich kann nur heute in Bielefeld und am Sonntag in Hannover bei den Demonstrationen dabei sein, um physisch meine Abscheu vor dieser Hetze zu zeigen.

  • Emotionale Überreaktion. Hängen Ihre Freunde denn den ganzen Tag auf öffentlichen Plätzen herum? Ich habe das mit dem „Stadtbild“ so verstanden, dass solche Leute gemeint sind, die quasi immer da sind und nichts Erkennbares tun außer abzuhängen… Von denen sehe ich in meiner Großstadt relativ viele.

  • ja es macht einen nur noch krank, diesen Irrsinn ertragen und quasi hilflos zugucken zu müssen.
    ich möchte auch nur noch schreiend durch die Gegend laufen….

  • Hallo Kirschskommode,

    Bitte nüchtern bleiben um weiter so wütende, bissige und klare Worte zu finden!! Die sind so wichtig bei diesem nebulösen Assoziationsrassismus! Danke!

  • Danke für diesen Artikel!
    Ich störe mich vielmehr an Menschen mit rassistischer Einstellung im Stadtbild!
    …und bei Herrn Merz frage ich mich, unter welchen Umständen seine Töchter gezeugt worden sind, da er doch 1997 dagegen gestimmt hat, dass Vergewaltigung in der Ehe als Straftat geahndet werden soll…!

    Wenn überhaupt irgendwer abgeschoben werden sollte…und das die Lösung des Problems sein sollte (welchen Problems jetzt konkret?) – was ist dann mit den „lieben deutschen“ Jugendlichen, die doch „nur ihre Erfahrungen machen wollen“, sich „die Hörner abstoßen sollen“ und „nur“ etwas betrunken waren und „Spaß“ haben wollten und „vielleicht nicht wirklich nachgedacht“, als sie Dieses und Jenes getan haben? Hat Herrn Merz das jemals interessiert???
    In welcher Partei war Merz noch mal? Christlich ist das alles schon SEHR lange nicht mehr!
    Für ein buntes, vielfältiges Stadtbild ohne Menschen wie Merz!

    Wenn es alles nicht so unfassbar gefährlich und rasisstisch wäre, könnte man über so viel Dummheit fast drüber lachen…

Schreibe einen Kommentar zu Angelika Antwort abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert