vonkirschskommode 31.12.2024

Kirschs Kommode

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Beichte. Solange meine Eltern einvernehmlich große Familie spielten, gehörte der Kirchgang dazu und noch als Drittklässler war ich tief gläubig. Wir, die Mutter und die Kinder, gingen in die katholische Kirche gegenüber meiner Schule, ob mein Vater manchmal allein in die evangelische ging, kann ich nicht sagen. Anders als beim Tischgebet, das obligatorisch war, kann ich mich keiner Pflicht entsinnen, zur Kirche zu gehen. Es kann sein, dass der Besuch der Heiligen Messe eine der Freuden war, die ich mit meiner Mutter teilte und über die sich unser besonders inniges Verhältnis definierte. Die wichtigsten christlichen Feste, in ihrer heidnisch-jahreszeitlichen Reihenfolge, wurden bei uns alle begangen, vom ersten Advent an bis zum Martinsabend, mit der einzigen Ausnahme von Allerseelen und Allerheiligen, wahrscheinlich, weil wir in Westberlin weit ab von jeder Verwandtschaft wohnten und es keine Gräber gab, die wir Anfang November hätten besuchen können. Das Gepräge unserer Feste war katholisch, die Namenstage von uns Kindern waren ein kleiner Geburtstag mit Blumen und Kerzen ohne Geschenke, Fastnacht begingen wir mit einem Kostümumzug, Sankt Martin mit Zuckerbrezeln und Laternen. Doch in der Weihnachtszeit setzte sich in Kerzenandacht und endlosen ernsten Liedern der Protestantismus meines Vaters durch, „Es kommt ein Schiff geladen“ im Advent und „Ich steh an deiner Krippen hier“ am Weihnachtsabend. Sowie das Verlesen der Heiligen Schrift: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde.“ Dass das Buch mit der Formel geschlossen wurde: „Gottes Wort!“, auf die wir Kinder im Chor mit „Gelobt sei der Herr!“ oder „Amen!“ zu erwidern hatten, ist ein Gerücht, das ich in die Welt setzen könnte, um es bereitwillig zu glauben, wenn es nach Abschluss der Runde, auf die ich es schicke, wieder zu mir zurückkommt.

Die weltliche Essenz der Religion meines Vaters war die Musik, die der Religion meiner Mutter das Essen und der festliche Schmuck. Meine Eltern vor Augen erlebe ich den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus als einen sozialen Gegensatz vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Zum Protestantismus gehörte (und gehört) Bildung und Stand. Jedenfalls ich finde ihn völlig ohne Reiz, solange mich nichts befähigt, Bachs Musik zu verstehen oder wenigstens zu schätzen. Mein Vater, standesbewusst und gebildet, zeigte wenig Gefühle, doch bei der h-Moll-Messe kamen ihm die Tränen. Musikalisch unbeleckten Protestanten aus kleineren Verhältnissen waren (und sind) solche Ausflüge ins Seelenvolle schwerer möglich, sie konnten (und können) sich meist nur damit trösten, arm aber ehrlich zu sein, was verglichen mit Bach, sowie natürlich sowieso, ein schwacher Trost ist. Jedoch zum Festtag ein bescheidenes Zuhause wie das, aus dem meine Mutter stammte, entschlossen aufzuhübschen, etwas Besonderes zu essen und dazu Alkohol zu trinken, das bringt zumindest ab und an einen milden Schimmer selbst in brüchigste Buden und macht auch dann noch Spaß, wenn man nicht die geringste Ahnung von Fugen und Chorälen hat. Es ist daher nicht erstaunlich, dass nach dem Abbruch des Familienspiels meiner Eltern und bei den knappen Ressourcen, über die meine Mutter ab da verfügte, ihr zunehmend verweltlichter Katholizismus, als Feier von Essen und Festschmuck, sich bei uns durchsetzte, während der ordentliche Bach eher als Begleitmusik zum Hausputz erklang, von der Platte. Nur Weihnachten blieb länger ein leidlich ernstzunehmendes Fest, die anderen verschwanden nach und nach im Kochtopf, im Backofen, in der Dekoration oder manchmal auch ganz.

Im Drehbuch des Familienspiels war diese Wendung selbstverständlich nicht vorgesehen gewesen. Wir sollten alle gute, verständige Christen werden und von der Taufe bis zur Firmung alle Stufen der Vorbereitung darauf nehmen. Um das dazugehörige häusliche Fest der Erstkommunion nicht jedes Jahr ausrichten zu müssen, hatten meine Eltern geplant, die ersten vier Kinder jeweils paarweise zum Beichtunterricht zu schicken, welcher der Erstkommunion vorausging, zuerst meine kaum ein Jahr ältere Schwester und mich, dann die beiden nächstjüngeren Brüder. Wir, meine Schwester und ich, waren neun und acht Jahre alt, als wir ein oder zweimal wöchentlich unseren morgendlichen Schulweg am Nachmittag wiederholten, um in Sichtweite der Schule – ein klobiger Bau aus den Dreißigern mit kleinen Fenstern und sich nach oben verjüngenden Trutzpfeilern an den Ecken – links ins Gemeindehaus zum Beichtunterricht abzubiegen. Der Pfarrer sprach mich als einziger Mensch auf der ganzen Erde unbeirrt mit meinen beiden Vornamen, Karl Werner, an, mehr habe ich von seinen Unterweisungen nicht behalten. Im Beichtstuhldunkel angekommen fiel es mir schwer, mich irgendwelcher Sünden schuldig zu bekennen. Wahrscheinlich hatte der Priester mir wohlvertraute Todsünden wie blinden Zorn, abgrundtiefen Hass, bohrenden Neid, fressende Eifersucht und rücksichtslose Habgier als wenig kindliche empfunden und entsprechend oberflächlich abgehandelt. Ich beichtete, dass ich ein kleines Stück Salzgebäck in Fischform stibitzt und genascht hatte, und er sprach mich los von meinen Sünden, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Aber es war doch wunderbar, mit meiner Schwester nach unserer ersten Beichte gemeinsam nach Hause zu gehen, denn wir fühlten uns leicht und rein, was wir der Wirkung der Lossprechung zuschrieben, obwohl es sicherlich eher die Erleichterung war, eine peinliche Veranstaltung ohne Unfall und Panne hinter sich gebracht zu haben. Es dürfte eines der glücklichsten Momente sein, die meine Schwester und ich je miteinander teilten. Ich schließe nicht aus, dass wir den Heimweg teilweise Hand in Hand im Hüpfschritt zurücklegten.

Ich fürchte, seliger als diese ersten zwanzig Minuten nach der Beichte war ich als Katholik nie. Von der Erstkommunionsfeier, etwa einen Monat später, existieren Fotos, meine Schwester verhalten lächelnd im weißen Kleid, einen weißen Blumenreif im Haar, ich im marineblauen Blazer, stolzgeschwellt und glattgekämmt. Es war sicher Mai, die Großmutter könnte zu Besuch gewesen sein, die Obstbäume blühten. Unsere Nachbarin war ein paar Wochen zuvor mit ihrem Baby davongezogen. Zu Fuß, wie mir mein Gedächtnis vorgaukeln will, denn ich sehe sie den Kinderwagen den Weg hinter den Häusern entlang schieben und denke, das war ihr Auszug. Als wir aus den Sommerferien zurückkamen, wohnte mein Vater mit ihr und dem Kind kaum zwei Kilometer entfernt, in einem neu angemieteten und innen neu tapezierten und gestrichenen, teilweise mit „unseren“ Möbeln eingerichteten kleinen, grauen Haus mit Garten. Wir zwei ältesten Brüder, Niels und ich, waren für drei oder vier Wochen in ein düsteres Kindererholungsheim im Harz verschickt gewesen und wurden von der ganzen Familie vom Zug abgeholt. Außer vom Vater. Was uns, vielleicht auch nur mich, irritierte. Aber auf meine, jedes mal ängstlicher werdenden Nachfragen gab es bloß Anspielungen vom Zweitjüngsten, der eingenommen von seinem Wissensvorsprung Dinge von sich gab wie, dass der Vater ja auch tot sein könne, was ihm meine Mutter zu sagen verbot, um sich dann, im Wunsch die Spannungen zwischen den Geschwistern zu erklären, dem Taxifahrer zuzuwenden, bei dem sie um Verständnis für ihre schwierige Lage als verlassene Frau und fünffache Mutter warb.

Die ganze Wahrheit kam gleichzeitig mit einem frischen Blechkuchen auf den Tisch, den meine Mutter zu diesem Anlass eigens gebacken hatte. Der Vater werde nicht mehr bei uns wohnen und auch nicht mehr zurückkommen, wir könnten ihn alle vierzehn Tage am Wochenende besuchen gehen. Ich ließ den Kuchen stehen, rannte die Treppe hoch, warf mich in meine Betthöhle, die untere Etage eines Etagenbettes, und weinte. Tatsächlich kam nach einer Weile meine Mutter, setzte sich auf den Bettrand und versuchte, mich zu trösten. Doch als ich sagte, hier helfe allein Beten, muss ihr meine naive Gläubigkeit so zugesetzt haben, dass sie stumm aufstand und das Zimmer wieder verließ.

Das war der Anfang vom Ende meiner Zeit als Katholik. Ich habe noch einige Male an der Kommunion teilgenommen, auf den Knien, die Lider geschlossen, die Hände vor der Brust andächtig gefaltet, das Kinn vorgeschoben und den Mund zum Empfang der Hostie aufgesperrt. Auch den Wechsel von der lateinischen Messe zu der auf Deutsch abgehaltenen habe ich mit halbem Ohr mitbekommen. Aber nicht lang, nachdem mein Vater die Familie verlassen hatte, ließ meine Mutter Tischgebet und Kirchgang fort. Meine Schwester hatte als einzige der Geschwister vom Zerwürfnis der Eltern gewusst und in diesem Bewusstsein hatte sie Beichtunterricht und Erstkommunion hinter sich gebracht. Sie verspürte ebenfalls keine Neigung, mich sonntags beim Gang zur Messe zu begleiten. Meine beiden nächstjüngeren Brüder meldete meine Mutter nicht mehr zum Beichtunterricht an. Ich ging allein in die Kirche. Tapfer, weil überzeugt, es würde nun einzig an meinen Gebeten hängen, dass wir den Vater zurückbekämen. Lange habe ich das nicht durchgehalten, meine Kraft zu hoffen schwand. Gott offenbarte mir relativ rasch seine allmächtige Abwesenheit und damit auch Nichtzuständigkeit für das Funktionieren des Familienspiels. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren berief ich mich auf meine Religionsmündigkeit und quittierte den schulischen Religionsunterricht, was das Gymnasium vor Probleme stellte, da ich der erste Schüler war, der diesen Schritt tat, und es keinen Aufenthaltsraum für Freistunden gab. Karol Wojtyla brachte mich Anfang der Achtziger, wahrscheinlich durch irgendeinen seiner päpstlichen Angriffe auf linke lateinamerikanische Theologen, endlich auch dazu, den letzten Schritt zu gehen und beim Amtsgericht den Kirchenaustritt zu erklären. Gebeichtet habe ich nur dieses erste und einzige Mal.

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