Ein kleines Video ist erschienen, in dem ich ein paar Worte sage, und wenn ich mich darin sprechen höre, denke ich, meine berufliche Macke ist nicht mehr abzuleugnen. Sie wird im Gegenteil sinnlich fassbar, tritt deutlich hervor, wird objektiv messbar, in Silben pro Sekunde: Die Menschen, die im Video vor und nach mir zu Wort kommen, sprechen im Vergleich zu mir rasend schnell. Während ich, nach dreißig Jahren Deutschunterricht für Erwachsene, nur mehr über eine einzige, träge wirkende Sprechgeschwindigkeit verfüge, nämlich die, der ein Lernender, eine Lernende im Anfangsunterricht folgen kann. Ich spreche im Alltag schlicht zu wenig mit deutschen Muttersprachlern und Muttersprachlerinnen und bin deshalb offenbar ganz schön aus der Übung.
Eine andere Folge meines Berufslebens trifft mich härter: Erschöpfung. Anfangsunterricht in der Zielsprache muss mit wenigen Wörtern und Strukturen auskommen, ein Mangel, dem in der Unterrichtssituation selbst mit gegenseitiger Empathie leicht abgeholfen ist. Was jedoch zu einem sehr spezifischen Feierabendgefühl führt, nämlich dazu, nicht mehr viel Lust und Laune zu geselligem Miteinander zu haben. Wie andere Menschen in sozialen Berufen muss ich aufpassen, nach vielen und durch viele Kontakte am Ende nicht zu vereinsamen. Meine Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen beeindrucken und beschäftigen mich, ich lerne sie gut und recht genau kennen, weiß, dass ich eine zentrale Figur in ihrem Leben bin. Bis der Kurs vorbei ist und der nächste beginnt. Dann verdrängt ein Schwung neuer Leute die Leute von davor.
Mein Versuch, mir von den Begegnungen im Kurs etwas zu bewahren, ist also auch der Versuch, mir etwas von der Energie zu bewahren, die in und durch diese Begegnungen geflossen ist. Und nicht nur mir. Ich will sicher gehen, dass der Mensch gesehen wird, den ich gesehen habe. Es gehen mir zu viele Leute unter, in der Wahrnehmung der anderen oder, schlimmer, in den Verhältnissen, die über sie hinweggehen und ihnen keinen Platz zu leben lassen. Ich kann und will das nicht akzeptieren.
Menschen, deren Spur ich verliere – Gedichte zu Kursteilnehmern (1)
Am Ende des Deutschkurses
Der Weg, den meine Leute ab jetzt wählen,
ist wie ihr Deutsch, prekär und angreifbar.
Kaum Wortschatz. Doch ein Leben zu erzählen!
Ich heiße Karl. Wie heißen Sie? Ein Jahr
musst ich den Kurs mit meinen Fragen quälen,
nach draußen kitzeln, was zu sagen war.
Wir warn uns nah im Zwang, uns zu verstehen.
Normalerweise gibts kein Wiedersehen.
Hewin
Zu Fuß sei sie gekommen. Keine Reise,
kein Bus, kein Flug: Auf einem Arm das Kind,
das andre an der Hand, verängstigt, blind
davongelaufen. Und sie lächelt leise.
In diesem Lächeln lebt, auf seine Weise,
obwohl Besitz und Stand verloren sind,
ein Früher fort. Das Glück, ihr wohlgesinnt,
erhält sich ihr. Als Glanz. (Und zieht noch Kreise.)
So obenauf! Doch in Verhältnissen,
in denen Wechsel sich brutal ergeben,
zählt viel die sanfte Hand. Zum Abschirmen.
Und ihre, eines Menschen fest im Leben
(auch wenn es ihn bis sonst wohin verschlägt)
– sie weiß, wie sicher sie die Kinder trägt.