vonkirschskommode 01.11.2022

Kirschs Kommode

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Fünf Reime nach einem festgelegten Muster auf vierzehn Zeilen zu verteilen, die ihrerseits bei der Verteilung der Wortakzente und in ihrer Länge einem festen Muster folgen, ist keine Arbeit, bei der ich mich ausschließlich meinen Einfällen überlassen kann, so wie sie sich auseinander ergeben. Vielmehr muss ich, schon bevor ich mich ans Werk begebe, sehr genau wissen, worauf ich hinauswill, um durchprobieren zu können, was die Form in ihrer Kürze und Strenge mich wo und wie sagen lässt. Ich muss also, was ich sagen will, hundert Mal auch anders sagen können, um es schließlich genau auf diese, vorher festgelegte Weise zu sagen; der Inhalt muss stärker, üppiger, reichlicher sein als die Form. Denn nur in diesem Fall wirkt sie als Filter, der das Wichtige hindurch lässt und das Nebensächliche zurückhält. Das Ziel der Übung ist mithin eine Steigerung der Eindringlichkeit. Meine vierzehn Zeilen krame ich aus dem Vorrat meiner Mittel hervor, wenn es mir ernst ist mit etwas.

Ich hätte aber nicht gedacht, dass der Ernst der Angelegenheit mich noch einmal und schlimmer als zuvor bedrängen würde, nachdem das Gedicht geschrieben und zum Altern in die Schublade geschoben war. Ich dachte, ich schreibe über Menschen, die ich getroffen habe, und helfe, sie im hiesigen Alltag beispielhaft ein winziges Stück sichtbarer zu machen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich beispielhaft über Menschen schreibe, denen die Europäische Union inzwischen jeden Zutritt verwehrt, weil seit dem Ukrainekrieg sich endgültig durchgesetzt hat, von dem ich befürchtet habe, es könnte sich durchsetzen, und gehofft, es täte es nie: der offene, brutale Rassismus, bei dem nach der Hautfarbe und dem kulturellen Hintergrund der Schutzsuchenden entschieden wird, ob sie Schutz verdienen oder nicht.

Der Schießbefehl, der Misshandlungs- und Knochenbrechbefehl, der Befehl, die Schutzflehenden der Hitze, der Kälte, den Wellen, der Wüste und sich selbst zu überlassen – das ist die Essenz des von keinem Medium, keiner politischen Kraft, abgesehen von völlig marginalen, mehr ernsthaft in Frage gestellten Auftrags der Exekutivkräfte an den unionseuropäischen Außengrenzen; vordringliche Aufgabe der Grenztruppen ist, zum Zweck der Abschreckung Menschen zu töten oder dem Tod zu überantworten. Ein Mohammed, wie der im folgenden Gedicht, würde heute kaum mehr bis Griechenland oder Deutschland gelangen, er würde mit größerer Wahrscheinlichkeit vorher unter stillschweigender Billigung oder gar unter Beifallbekundungen unionseuropäischer Regierungen beim Übertreten der Unionsgrenze umgebracht. Dass ich in meinen Versen seine unsinnige, mitleidlose Abschiebung beklage, katapultiert mein Gedicht in die Vergangenheit.

Mohammed

Er ist, ein Kind, in Panik nur gerannt.
Mit elf, mit zwölf, mit vierzehn, fünfzehn Jahren,
hat Spott auf Farsi, Griechisch, Deutsch erfahren.
Was vorher war, nahm ein gelegter Brand.

Er schlug sich durch mit Jobs, aß, was er fand,
aß Speck sich an, die Wärme zu bewahren,
Reserven: für die Mühen, die Gefahren,
den Sanftmut (der Konflikte unterband).

Hat endlich Bleibe, Bildung, Perspektiven,
geduldet amtlich (seit er achtzehn war).
Und ist, aus unerfindlichen Motiven,
mit zwanzig Deutschland nicht mehr zumutbar:
zurück zu seinen Toten abgeschoben,
die Ämter der Verantwortung enthoben.

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