vonPeter Strack 14.04.2024

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Ende Januar legte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) ihren Bericht „Sozialer Zusammenhalt – Die Herausforderung für die Demokratie in Bolivien“ vor. In dem werden Fortschritte der letzten Jahrzehnte bei den sozialen Rechten anerkannt und die anhaltende Bedeutung von Aktionen zur Überwindung von Rassismus, Diskriminierung und gewaltsamer Konflikte betont. Aber vor allem beim Thema der politischen Rechte, der Pressefreiheit, der Polizei und Justiz wird nicht mit Kritik daran gespart, dass frühere Empfehlungen nicht umgesetzt wurden. Justizminister Iván Lima beeilte sich gleichwohl zu versichern, die bolivianische Regierung sehe den Bericht als Grundlage der eigenen Politik an.

Doch das klang so glaubwürdig wie andere Regierungsverlautbarungen in diesen Wochen und Monaten. Etwa, dass die Bevölkerungszählung vom Statistikinstitut nach rein fachlichen Kriterien organisiert wurde. Oder dass die Versorgung mit Benzin, Diesel und US-Dollars garantiert sei. Auch wenn immer wieder Schlangen an den Tankstellen zu sehen sind und Unternehmen wegen fehlendem Treibstoff ihre Aktivitäten reduzieren müssen. Oder wenn ein Consultingbüro auf Kryptowährungen zurückgreifen muss, weil die Bank nicht einmal mit an Wucher grenzenden 25prozentigen Überweisungsgebühren erlaubt, eine Rechnung von weniger als 600 US-Dollar vom eigenen Dollar-Konto in den vertraglich geforderten US-Dollar zu begleichen.

Fortschritte bei den Sozialen Rechten, „Heute wird Würde serviert… alles mit Erinnerungssuppe“, Installation im Kunstmuseum von La Paz, Foto: P.Strack

Politische Gefangene

Eines der Probleme, das die Regierung durch Leugnung zu umschiffen versucht, ist das Thema der politischen Gefangenen und Verfolgung. Minister Iván Lima räumt zwar ein, dass die CIDH den bolivianischen Staat dazu verpflichte, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Verantwortlichen zu bestrafen. Doch diesen Auftrag bezieht er vor allem auf Maßnahmen gegen die bürgerliche oder rechte Opposition.

Von politischen Gefangenen sei im Bericht der CIDH nicht die Rede, behauptet er in einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur ABI. Dass der Minister die Seiten 13, sowie 199 bis 201 des Berichtes nicht gelesen haben sollte, ist wenig wahrscheinlich, denn an anderer Stelle bezieht er sich auf eine Differenzierung der CIDH auf den selben Seiten: Dass, wo Menschenrechtsverletzungen vorliegen, keine Straflosigkeit herrschen dürfe, aber dennoch ein rechtsstaatliches Verfahren garantiert werden müsse. Zum Thema der politischen Verfolgung erwähnt die CIDH die ihr vorliegenden Anzeigen von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Abgeordneten, Betroffenen oder ihrer Familienangehörigen von zwischen 190 und 240 Fällen bis zur Endredaktion des Berichtes.

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Und die CIDH weist darauf hin, dass sie nur mit zuverlässigen Quellen arbeite. Ein neuer Fall dürfte Marcel Rivas sein.  Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er als Direktor der Migrationsbehörde unter der Regierung Añez in über 440 Fällen unbefugt, sprich ohne Gerichtsbeschluss, die Grenzbehörden angewiesen habe, die Ausreise von Anhänger*innen der MAS zu verhindern. Nach drei Jahren Haft im San Pedro-Gefängnis in La Paz wurde er dennoch nicht freigelassen. Und nach vier weiteren Monaten ordnete der Richter nun noch einmal Hausarrest rund um die Uhr an. Das müsste auch dem Justizminister merkwürdig erscheinen, der schließlich selbst Jurist ist.

Allerdings weichen die Autor*innen der CIDH die Kritik in ihrem Bericht selbst mit dem Argument auf, dass strukturelle historische Defizite des Justizwesens von politischer Verfolgung zu unterscheiden seien. Wie ist das zu verstehen? Wenn ein Oppositioneller gefoltert wird, wäre das nicht so sehr politische Verfolgung, weil es eine seit langem übliche Praxis der bolivianischen Polizei ist? Oder wenn ein Richter Vorgaben der Regierung folgt oder von dieser unter Druck gesetzt wird, dann erklärt sich das allein aus der historisch fehlenden Unabhängigkeit der Justiz? Auch würden sie selbst diese Fälle nicht aufklären oder einordnen. Das sei die Aufgabe anderer Gremien, etwa des interamerikanisches Menschenrechtsgerichtshofes, der bereits eine Reihe diesbezüglicher Klagen angenommen hat.

Strafverfahren wegen Kritik an der Stimmenauszählung

Noch nicht in der Liste dabei ist der Informatiker Édgar Villegas. Gegen den hat die Staatsanwaltschaft jüngst eine Anklage wegen „öffentlicher Anstiftung zu Straftaten“ erhoben. Villegas hatte nach dem gescheiterten Wahlprozess im Jahr 2019 detailliert anhand offizieller und öffentlicher Dokumente der Wahlbehörde gezeigt, wie Wahlprotokolle zugunsten von Evo Morales und seiner MAS im Laufe der Registrierung und elektronischen Weiterverarbeitung verändert worden waren.

„Oktober 2019, der Betrug und was danach kam“, Buchtitel von Carlos Valverde

Falsche Summen, Verdrehung der Ergebnisse, mehr Stimmen als Wahlberechtigte … Solche „vorsätzlichen“ oder „betrügerischen“ Manipulationen wurde später von der Wahlbeobachtungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) bestätigt. Evo Morales hatte die OEA selbst zur Überprüfung angefordert. Bei ihren Stichprobenanalysen wiesen etwa 5 Prozent der untersuchten Wahlprotokolle solche Fehler auf, wie sie Villegas identifiziert hatte. Da hilft es auch nicht viel, dass der Journalist Iván Bustillos in der Tageszeitung La Razón vom 7. April für ein Dutzend der von Villegas in seiner 196-seitigen Studie veröffentlichten Fälle Erklärungen aufführt, die darauf hinweisen, dass die Fehler in diesen Protokollen nicht vorsätzlich entstanden sind.

Was Villegas noch nicht wusste, als er seine Studie vorlegte: Es gab einen externen Server, der bei der Weiterverarbeitung der Originalunterlagen Zugriff auf den Rechner des Wahlinstituts hatte: im Auftrag der Regierung eingeflogene Informatik-Spezialisten aus Mexiko. Das hat der Journalist Carlos Valverde ausführlich in seinem Buch „Octubre 2019 – Fraude y después“ dokumentiert. Doch von all dem will die Staatsanwaltschaft nichts wissen. Sie beruft sich auf ein späteres von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten einer Arbeitsgruppe der Stiftung der Universität Salamanca. Doch der Professor, der anders als die OEA-Wahlprüfungskommission nicht selbst in Bolivien war, spricht ebenfalls von kritischen Mängeln bei der Datensicherheit und bestätigt darüber hinaus allein, dass der Datensatz, den die Regierung der MAS ihm später nach Spanien geschickt hat, in sich konsistent sei. Nun also die Anklage gegen Villegas wegen Anstiftung zu Straftaten. Nur, weil die Veröffentlichung der Dokumente durch Villegas ein wenig zu den Protesten gegen die Wahlfälschung und schließlich dem Rücktritt von Evo Morales beigetragen haben mag, die schon Tage vorher begonnen hatten. Untätig bleibt die Staatsanwaltschaft dagegen in Bezug auf die damaligen Aufrufe zum „Bürgerkrieg“ oder die Anleitungen von Evo Morales aus dem mexikanischen Exil, wie die im Protest befindlichen Städte eingekreist und von der Lebensmittelzufuhr abgeschnitten werden sollten. Der Informatiker Villegas selbst spricht in Bezug auf die Anklage gegen ihn von einem Angriff auf die Meinungsfreiheit. Er habe nur informiert, und zu keinen Straftaten augerufen. Und manche fürchten, es sei als Drohung gegen all die gedacht, die sich darauf versteifen, die Auswertung der gerade stattgefundenen Bevölkerungszählung durch das nationale Statistikinstitut begleiten zu wollen, von dessen Ergebnissen auch der Zuschnitt der künftigen Wahlkreise abhängt, sowie die nachfolgenden Wahlen selbst.

Auch an der Basis gibt es Mangel an rechtsstaatlichem Denken: Die Graffiti-Maler vor dem Frauengefängnis in Miraflores haben je nach politischer Couleur ihre jeweils eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit,  Foto: P.Strack

Internationale Gerichte ordnen Entschädigungen an

Dass sich die Staatsanwältin noch für solche politisch motivierten Prozesse hergibt, überrascht allerdings schon. Wurde doch gerade ein Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren eingebracht, der die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen persönlich für mögliche künftige Entschädigungszahlungen haftbar machen soll. Denn selbst wenn der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof meist viele Jahre bis zu einem Urteil benötigt – in Kolumbien etwa bis frühere Opfer jetzt selbst in die Regierung gekommen sind und sich nun im Namen des Staates für die Taten ihrer damaligen Widersacher entschuldigen – ist es bislang immer der Staat, der die Reparationsleistungen zu zahlen hat. Und zumeist sind es Nachfolgeregierungen. Es sei denn, ein autokratisches Regime hält sich über Jahrzehnte an der Macht.

Man werde die Interamerikanische Menschenrechtskommission um Unterstützung bitten, damit die von den Angehörigen von Michael Dwyer geforderte Entschädigungssumme von 2 Millionen US Dollar reduziert werde, ließ laut Correo del Sur vom 9. April der für die Rechtsvertretung des bolivianischen Staates zuständige Procurador César Siles verlauten. Der Ire Dwyer war einer von drei Europäern, die am 16. April 2009 im Hotel „Las Américas“ in Santa Cruz bei einem Polizei-Einsatz im Morgengrauen erschossen wurden, obwohl sie überrascht worden waren und keinen Widerstand geleistet hatten. Die angebliche „Separatistische Terrorgruppe“ war von Evo Morales Regierung selbst ins Land geholt worden. Man habe damals die Integrität des nationalen Territoriums gesichert, sagt Morales. Die Flüge hatte ein venezolanischer Botschaftsangehöriger mit seiner Kreditkarte bezahlt. Ziel der Aktion: Mitglieder oppositioneller Gruppen in Santa Cruz mit der Gruppe in Verbindung und anschließend ins Gefängnis zu bringen und damit den massiven Widerstand gegen die Regierung im Tiefland zu brechen. Einer von 39 Betroffenen ist der Rechtsanwalt Alejandro Melgar. Wegen ungerechtfertigter über dreieinhalbjähriger Auslieferungshaft auf Antrag Boliviens wurde ihm gerade von einem Gericht in Uruguay eine Entschädigung von 230.000 US-Dollar zugesprochen. Die zahlt nun der uruguayische Staat, in den er geflohen war. Andere saßem über 10 Jahre ohne verurteilt zu sein im Gefängnis, bis die Anklage gegen die 39 in der Zeit der Übergangsregierung von Jeanine Añez zurückgezogen wurde. Doch in Bolivien geht es nicht nur um Entschädigungen. Auch der Anordnung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, die Folterungen und außergerichtlichen Erschießungen im Hotel Las Americas zu untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und sich offiziell zu entschuldigen, war die bolivianische Regierung in der ihr gesetzten Frist nicht nachgekommen. Das hat manche zu der These verleitet, dass die Spaltung der Regierungspartei nur vorübergehend oder ein vorgeschobenes Spektaktel sei. Denn bei einer derart abhängigen Justiz dürfe es für die Regierung Arce gar nicht so schwer sein, den Konkurrenten Evo Morales wie so manchen Oppositionellen mit Gerichtsverfahren aus dem Verkehr zu ziehen. Und dabei geht es nicht nur um Morales Bekenntnis vor laufenden Kameras neben Hugo Chávez in Venezuela, den Einsatz im Hotel „Las Américas“ angeordnet zu haben. Und die einzige Chance, die Behandlung des Falles beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof hinauszuschieben, ist ein Verfahren in Bolivien selbst, das die Regierung besser kontrollieren und bei dem sie auf Zeit spielen kann. Am 13. April wurde von den überlebenden Opfern des Einsatzes im Hotel bekannt gegeben, dass der bolivianische Staat nach fast 15 Jahren eine Untersuchung gegen die Verantwortlichen in Gang gesetzt habe. Wer weiß, ob die MAS noch an der Regierung ist, wenn am Ende von bolivianischen oder bei deren Scheitern dann doch internationalen Gerichten ein Urteil gefällt wird.

Vereint für die Menschenrechte? Auch der Ombudsbehörde fehlt es an Unabhängigkeit, Foto: P. Strack

20 Millionen Dollar für Gefängnis und das Ende einer Boxkarriere?

Den Weg zur internationalen Gerichtsbarkeit kündigt auch der Ex-Polizist und unter dem Spitznamen „Matador“ bekannte Boxer Franklin Mamani an. Laut Staatsanwaltschaft soll er während der gewaltsamen Konflikte nach dem Rücktritt von Evo Morales 2019 einen Anhänger der MAS getötet haben. Doch die Anklage steht auf schwachen Füßen. Mamanis Anwalt spricht von Beweisen, dass der Polizeileutnant zum fraglichen Zeitpunkt woanders eingesetzt war. Und die Hauptzeugin bestätigte zunächst, Mamani nicht am Tatort gesehen zu haben. Später änderte sie ihre Aussage und bekam eine Anstellung im staatlichen Seilbahnunternehmen. Mamani steht im Fokus des Innenministers wegen eines Fotos, das ihn gutgelaunt und gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten des Bürger*innen-Komitees von Santa Cruz Luis Fernando Camacho zeigt. Den habe er damals in den Wirren des Übergangs auf Befehl seiner Vorgesetzten beschützen sollen, wie er sagt. Wie der im Jahr 2021 zum Gouverneur von Santa Cruz gewählte Camacho ist auch Mamani seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Mamani will 20 Millionen US-Dollar Entschädigung einklagen, weil neben seiner Polizei- auch seine Boxkarriere zerstört worden sei.

Neue Verfahren gegen Oppositionelle

All das hindert Regierung, Staatsanwaltschaft und Gerichte aber noch nicht daran, neue Verfahren gegen Oppositionelle aufzugleisen. So das Verfahren gegen die Abgeordnete Luciana Campero. Oder gegen den Rektor der staatlichen Universität von Santa Cruz, Vicente Cuellar, wegen seiner Koordinationsrolle während des 36 Tage dauernden Generalstreiks und den Straßenblockaden in Santa Cruz im Jahr 2022 für eine zeitnähere Durchführung der Volkszählung, um die Budgets den veränderten demographischen Verhältnissen anzupassen. Jüngst hat er sich als Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl ins Spiel gebracht hat. Ein Anklagepunkt gegen ihn ist „Terrorismus“. So viel zur Frage, ob die Empfehlungen der CIDH Grundlage des Regierungshandelns sind. Auf Seite 175 ihres Berichtes äußert sich die CIDH besorgt darüber, dass im bolivianischen Strafrecht immer noch Straftatbestände wie „Terrorismus“ so schwammig formuliert seien, dass sie zu Prozessen führen würden, die rechtlichen Standards und den Anforderungen einer unabhängigen Justiz nicht genügen.

Zum Niveau der Rechtsstaatlichkeit in Bolivien siehe auch diesen früheren Beitrag auf Latinorama.

 

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