Am 28. Mai war der Welttag des Spiels. Er wurde geschaffen, um die Freude am Spielen zu foerdern und die Erwachsenen und Kinder mit Spielen einander naeher zu bringen. Das Recht zu spielen ist auch in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert. „Wo Zuneigung endet, beginnt das Recht“, sagen laendliche Partnerorganisationen von terre des hommes in Peru. Die bolivianischen Kinder in unserer Strasse in einem Viertel ehemaliger Bergarbeiter in Cochabamba brauchen keinen Welttag des Spiels und auch kein gesetzlich verankertes Recht auf Spiel. Noch nicht…
Auch wenn ich erst zu spaeter Abendstunde nach Hause komme, sehe ich haeufig noch Kinder auf der Strasse. Vor einigen Monaten wurde der frueher gepflasterte Weg asphaltiert. Der geringe Verkehr haette das nicht noetig gemacht. Das Regenwasser fliesst jetzt direkt in die Kanalisation. Das verstaerkt die Uebeschwemmungen in der Regenzeit, statt den Grundwasserspiegel fuer die Trockenzeit anzuheben. Dann wird das Wasser jedes Jahr knapper. Den Kindern aber kommt der Asphalt entgegen: Jetzt wird nicht nur Nachlauf, Murmeln, Seilspringen oder Fussball gespielt. Auch Skateboardfahren und Fahrradrennen sind jetzt moeglich. Unserer Tochter ist dort allerdings nicht zu sehen. Sie soll ja frueher ins Bett gehen, um am naechsten Morgen in der mehr als eine halbe Autostunde entfernten Schule frisch und aufnahmebereit zu sein. Und ihre Klassenkameraden erreicht sie um diese Zeit ohnehin nur ueber WhatsApp oder Facebook. Die bieten ein anderes Freizeitprogramm.
Bei einem Projektbesuch in einem abgelegenen Weiler im Andengebirge im Norden von Potosí schlug der Dorflehrer vor, eine weitere Wasserquelle nahe an der Schule zu erschliessen. Die verfuegt naemlich nicht nur ueber einen meist verlassen vor sich hinrostenden Spielplatz mit Schaukel und Rutschbahn. Sie hat auch ein kleines Gewaechshaus. Die Kinder giessen die Tomaten, Gurken und den Salat, der darin spriesst. Das Wasser holen sie in den Pausen bislang von einer 200 Meter weiter entfernten eingefassten Quelle. Auf dem Weg dorthin, begruendete der Lehrer seinen Vorschlag, wuerden die Kinder zu viel Zeit mit Spielen vertroedeln.
Die Sproesslinge nehmen sich offensichtlich ihr Recht zu spielen, auch wenn sie wahrscheinlich noch nie davon gehoert haben. Und dafuer brauchen sie nicht einmal die Rutschbahn und die Schaukel. “Wir spielen, dass wir arbeiten und wir spielen beim Arbeiten”, hiess es in einer kleinen, Ende der 90er Jahre fuer terre des hommes erstellten Studie zum Thema. Der Titel: “Ich spiele mit den Froeschen”. Manchmal geht ein Schaf aus der Herde verloren, wenn die jungen Hirten zu wild herumtoben, statt aufzupassen. Aber die Sorge fuer ein kleines Schaf ist fuer ein Bauernmaedchen nicht nur nuetzlich, sondern kann viel schoener sein, als mit einer Barbie zu spielen. Meine Kollegin in Deutschland, deren Enkel auch bei Wind und Wetter in einen Waldkindergarten gehen, weiss, wovon die Rede ist.
Und der Sohn einer Journalistin wollte beim letzten Recherchebesuch in den Doerfern im Norden von Potosí, den er begleiten durfte, unbedingt den Hammelunterkiefer mit nach Deutschland nehmen. Auch wenn er dort in den Geschaeften bestimmt Plastikpistolen bekommt, die den Originalen viel aehnlicher sind. In den Dorfgemeinden bekommen sechs- oder siebenjaehrige Jungen manchmal spezielle kleine Kinderhacken, mit denen sie ihre Eltern auf dem Feld beim Unkrautjaeten oder der Kartoffelernte begleiten. Nicht,weil das die landwirtschaftliche Produktivitaet sonderlich steigern wuerde, sondern weil Spiel und Arbeit, Spielen und Lernen dort zusammen gehen. Und da diese Werkzeuge ihrem koerperlichen Wachstum angepasst sind, dienen sie bestimmt genauso gut zur koerperlichen Ertuechtigung wie Sportplaetze.
Die werden derzeit fast ueberall in Bolivien angelegt. Mit dem Sonderprogramm “Evo cumple” (der Praesident Evo Morales haelt, was er verspricht). Zumindest in den groesseren laendlichen Zentren. Und haeufig einschliesslich Kunstrasen. Auch bei uns Zuhause im Viertel wurde die sportliche Infrastruktur juengst wieder verbessert. Das nur zwei Strassenecken weiter gelegene Basketballfeld wurde mit einem Zaun umgeben und einer grossen Metallkonstruktion ueberdacht, um die Kinder vor Sonne oder Regen zu schuetzen. Doch die spielen meist weiterhin vor ihren Haeusern auf der Strasse. Den Eltern ist das auch lieber. Drei kleine Laeden, ein Internet und ein Essenverkauf sind nach der nach der Strasse hin offen. So sind die Kinder im Blick der Verkaeuferinnen. Die Zeiten haben sich geaendert. Es gibt immer wieder einmal Meldungen von Kinderraub oder sexuellen Uebergriffen in der Stadt.
Wenn meine bolivianischen Verwandten von ihrer Kindheit im Bergwerkszentrum Kami reden, dann kommen sie meist ins Schwaermen. Dabei waren die Armutsziffern damals weit hoeher als heute. Sie berichten vom Nachlaufspielen auf dem Friedhof, bei dem sie die aeltere Schwester hinter einem Busch beim Schmusen mit dem Freund erwischen konnten. Davon, wie sie mit der Steinschleuder Voegel abgeschossen und sie anschliessend gebraten haben. Fuer die Tiere fatal, aber bestimmt harmloser als die Autorennen unter 18-Jaehriger oder die Belaestigung von Bettlern durch gelangweilte Jugendliche heute in den grossen Staedten.
Beim Erzaehlen erinnert sich der Schwager auch an die aus alten Sardinenbuechsen mit nichts mehr als einem Messer selbst gefertigten Autos. Kronkorken wurden mit einer Zange zu kleinen Platten gepresst und dann in Tischchen und Stuehle verwandelt. „Tio“ Francisco probiert gleich aus, ob er es auch noch kann. Playmobil made in Bolivia. Wenn die Bergarbeiterkinder in den 1970er Jahren in Kami jedoch Western- oder Actionfilme sehen wollten, brauchten sie dafuer Geld. Das besorgten manche sich praktischerweise als Ausrufer fuer die zum Kino umfunktionierte Lagerhalle. Der Werbebedarf des Kinobetreibers, der ueber das Monopol in Kami verfuegte, war allerdings begrenzt. So mussten einige dann doch draussen warten. Trotzdem strahlen noch heute ihre Augen, wenn sie davon erzaehlen, wie sie deshalb Kieselsteine auf das Wellblechdach oder ihrer Phantasie freien Lauf liessen.
Das ging und geht nicht immer gut. “Flieg, Batman, flieg!” hoerte man spaeter im Kami-Viertel in Cochabamba meinen Neffen René rufen. Er hatte sich ein Tuch um die Schultern gebunden und auf einen Baum begeben. Zu spaet. Schon lag er mit verletzter Wirbelsaeule am Boden. Auch mit krummen Buckel ist er inzwischen ein von den Patienten hoch geschaetzter Arzt in Kuba geworden. Trotzdem machen solche Ereignisse nicht nur den eigenen Eltern Angst. Dann ziehen sie fuer ihre Kinder besser geschuetzte Raeume – wie die eingezaeunten und nach Sicherheitsnormen gestalteten Spielplaetze – den Abenteuern der Freiheit vor.
Und so lehrt das Projekt “Educar es Fiesta” (Erziehung als Fest) in Cochabamba nicht nur den Kindern aus den Randvierteln Theater, Pantomime, Musik und Akrobatik unterm Zirkuszelt. Die Mitarbeiter gehen mit ihrer Spiel- und Kunstpaedagogik auch in die oeffentlichen Schulen. Damit die Kinder ein wenig von dem Spiel und der Lebensfreude zurueckgewinnen, die sie mit ihrer Institutionalisierung und einem von Lehrpersonal und Eltern falsch verstandenen Leistungsprinzip verloren haben. Vielerorten kommt das freie, selbstaendige, kreative Spielen – die in der UN-Konvention als Recht verankerte freie (!) Zeit – im Konkurrenzkampf um Zukunftschancen unter die Raeder. Die industrielle Entwicklung und Urbanisierung mit dem ueberbordenden Strassenverkehr zerstoert immer mehr Natur und grenzt die Freiraeume von Kindern weiter ein. Deshalb entstehen hier und dort Initiativen fuer das Recht auf Spiel, gibt es wissenschaftliche Studien und Kongresse und Organisationen, die sich hauptamtlich dem Thema widmen. Bisweilen fuehrt es sogar zu politischem Streit oder sozialer Mobilisierung.
“Was ist gutes Leben fuer Dich”, fragte ich eine Zwoelfjaehrige aus einem Randviertel der noerdlichen Huegel der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. “Wenn ich abends vor dem Haus auf der Strasse spielen kann,” kam die spontane Antwort. Doch das ist derzeit ein Traum. Bewaffnete Banden kontrollieren das Viertel ab den Abendstunden. Die Kinder muessen deshalb weggesperrt werden. Auch in der boomenden Millonenstadt Medellín dient mancher mit guter Absicht gebaute Sportplatz heute vor allem als Umschlagplatz fuer Drogen. Er wird von der Mafia kontrolliert, oder von paramilitaerischen Gruppen. Diese laden die Kinder und Jugendlichen der Armenviertel bisweilen sogar zu Spielenachmittagen ein.
Nicht so sehr, um der UN-Kinderrechtskonvention Genuege zu tun. Sondern dort wird Nachwuchs rekrutiert. Zunaechst wird Vertrauen aufgebaut, auch um zu erfahren, welche Eltern vielleicht kritische Ansichten hegen und in den Blick genommen werden sollen. Dann werden die Kinder zum Transport von Drogen oder Kleinwaffen eingesetzt, um sich spaeter ganz den bewaffneten Gruppen anzuschliessen. Und manche von den Kindern aus diesen Konfliktzonen koennen nicht einmal in die Schule gehen, ohne Gefahr zu laufen, erschossen zu werden. Weil die im Nachbarviertel liegt, das von einer konkurrierenden Bande kontrolliert wird.
Das ist bedrohlich. Und so ist es wichtig, solchen Kindern und Jugendlichen Schutz zu geben. Langfristig kann es jedoch nicht Ziel sein, die Kinder in besonders geschuetzten Raeumen einzuschliessen. Es muss darum gehen, dass sie sich in der Mitte der Gesellschaft, auf der Strasse vor der Wohnung oder im Stadtzentrum mit allen ihren Rechten bewegen koennen: Dem Recht auf Bildung, dem Recht auf soziale und politische Beteiligung, dem Recht auf Gesundheit und auch dem Recht auf Spiel und freie Zeit. Am besten ist es, wenn sie dafuer auf gar kein Recht Bezug nehmen muessen. Naemlich dort, wo das alles fuer ihre Familie, die Nachbarschaft, die Institutionen, und die Gesellschaft, im Rahmen eines ruecksichtsvollen und liebevollen Umgangs, ganz selbstverstaendlich ist.
Fotonachweis: Spiel auf der Strasse im Kami-Viertel (Peter Strack), Spielgeraete an Dorfschule und Maedchen mit Schafherde (Jhonny Herbas/Pusisuyu), Sportplatz im Kami-Viertel und Spielmoebel aus Kronkorken (Peter Strack), Rueckgewinnung der Strasse in Bogotá, Taller de Vida (Ralf Willinger, terre des hoemmes), „In der Mitte der Gesellschaft“, Bauernjunge mit Oca (Jhonny Herbas/Pusisuyu).
Als wir in Cochabamba einen Film zum Thema Müllvermeidung und Recycling drehten, entschieden wir uns für zwei kindliche Laiendarsteller als Protagonisten. Unser Drehbuch begann damit, dass sie draußen auf einer Wiese mit Flaschendeckeln spielen und sich dann Fragen stellen, z.B. „Was passiert wohl mit dem Müll?“ Dazu meinte ein bolivianischer Freund später, diese Szene sei total westlich und unrealistisch für den bolivianischen Alltag. Kaum ein Kind in Cochabamba kenne das Spielen in dieser Form.
Vielen Dank für Ihren Artikel! Er wirft bei mir wieder die Frage auf, welche Konsequenzen einerseits das reine Ausleben der Phantasie im Spiel ohne Nutzungswert und andererseits die Verbindung existentieller Aufgaben und Spiel (z.B. Kinder helfen mit kleinen Hacken ihren Eltern auf dem Feld und lernen so spielerisch die Arbeit)langfristig hat?
Jedenfalls schienen die bolivianischen Erwachsenen, die ich kennenlernte, oft einen wirklich schönen Humor mit kindlichen Zügen zu haben. Und auch die Gesellschaftsspiele, die wir aus Deutschland mitbrachten, wurden sehr gerne gespielt.