Der 10. Dezember ist der Internationale Tag der Menschenrechte. Die Achtung der Rechte anderer ist Verantwortung jedes und jeder Einzelnen. Die Garantie und Durchsetzung der Menschenrechte ist jedoch Verpflichtung der Staaten.
Die Staatsorgane sind folglich nicht nur bei aktiver Verletzung von Menschenrechten sondern auch bei Untätigkeit verantwortlich zu machen. Doch – ohne die Bemühungen zahlreicher Personen oder jüngste Fortschritte wie bei den Rechten arbeitender Kinder kleinreden zu wollen – die aktuelle Tendenz in Bolivien ist zumindest in Bezug auf die bürgerlichen Freiheitsrechte und bei den Rechten der indigenen Völker besorgniserregend: Statt mit der versprochenen Justizreform die Menschenrechte zu stärken, hebelt die bolivianische Regierung rechtsstaatliche Mechanismen aus, um ihre politische Hegemonie zu sichern oder Großprojekte durchzusetzen. Wo sich Protest regt, wie jüngst bei den Straßenblockaden gegen ein neues Geldwäschegesetz, werden Gerichtsverfahren gegen Oppositionelle auf den Weg gebracht und die eigenen Anhänger*innen auf die Straßen geschickt. Dies geschieht mal als friedliche Großdemonstration wie jüngst beim „Marsch für das Vaterland“, der wohl 100.000 Anhänger*innen der Regierung mobilisiert hat. Es geschieht aber auch mit gewaltbereiten Stoßtrupps, deren Aktionen von der Polizei toleriert werden.
Das Beispiel Marco Aramayo
Die Durchsetzung der Menschenrechte dürfte jedoch davon nicht abhängig gemacht werden, wie viele Menschen sich dafür oder dagegen mobilisieren lassen. Dies gilt auch im Fall von Marco Aramayo.
Für den früheren Direktor des FONDIOC, des Fonds für Indigene und Kleinbauerngemeinden setzt sich abgesehen der Psychologen des ITEI, des privaten Instituts für Foltertherapie und Forschung, und seiner Rechtsanwälte kaum jemand ein. Eine der Ausnahmen ist Andrés Gomez. Auf seinem elektronischen Portal Rimay Pampa bezeichnet der Journalist Gomez den früheren MAS-Funktionär Aramayo als Kandidaten für das Guiness-Buch der Rekorde. Aramayo hatte zahlreiche Korruptionsfälle im FONDIOC aufgedeckt. Doch statt Aramayo dafür zu danken, wurde gegen ihn, der selbst keinen Centavo veruntreut hat, mindestens 259 verschiedene Gerichtsverfahren eröffnet. Laut eigener Buchführung hat er mindestens 84 Richterinnen und Richter und 91 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte kennengelernt. Über tausende Kilometer wurde Aramayo in Handschellen gefesselt durchs Land gefahren. In bislang nur einem dieser Verfahren wurde er verurteilt. Zunächst zu vier, dann auf Intervention der Regierung zu acht Jahren Gefängnis. Dies wegen angeblicher Vernachlässigung seiner Dienstpflichten und für den Staat schädlichen Verträgen. Dabei war er gar nicht im Amt, als die fraglichen Verträge unterschrieben wurden. Wohl aber der aktuelle Präsident Luis Arce, der es damals als Wirtschaftsminister zuließ, dass Fondsgelder widerrechtlich auf Privatkonten überwiesen wurden.
Die Ankläger verzeihen Marco Aramayo nicht, sagt Gómez, dass er die Korruption der selbsterklärten „moralischen Reserve der Menschheit“ aufgedeckt hat. Ein Beispiel ist die Abzweigung von umgerechnet 37.000 Euro aus dem Fonds für die andine Feier in Tiwanaku zur Amtseinführung von Evo Morales. Die tatsächlich Verantwortlichen für laut Bericht der Interventorin insgesamt etwa 13 Millionen Euro Schaden im FONDIOC sind dagegen derzeit frei. Die Gelder waren von der Regierung eingesetzt worden, um widerspenstige Gemeinden zu spalten und sich politische Gefolgschaft zu sichern. Aramayos Rechtsanwalt bereitet derzeit eine Eingabe bei der Arbeitsgruppe für willkürliche Festnahmen der Vereinten Nationen vor. Nach inzwischen mehr als 6 Jahren im Gefängnis, drängt die Zeit. Aramayo hat nach Informationen des ITEI ernsthafte Gesundheitsprobleme, unter anderem einen besorgniserregenden Verlust der Sehfähigkeit.
Zunehmende Internationale Kritik
In den letzten Jahren häufte sich die Kritik an der Verletzung der Menschenrechte in Bolivien. Als Schlüsselfaktor wird dabei die fehlende Unabhängigkeit des Justizsystem identifiziert. In 2021 stand dies unter anderem im Bericht der Unabhängigen Expertenkommission (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Amnesty International, Human Rights Watch und auch die Europäische Union und jüngst das Anti-Folter Komitee der Vereinten Nationen legten den Finger in die gleiche Wunde.
Die Kritik gilt für die Regierung unter Evo Morales ebenso wie für die Übergangsregierung unter Jeanine Añez, oder besser gesagt ihrem Innenminister Arturo Murillo. Trotz anderslautender Wahlversprechen gilt es auch für die neue Regierung unter Luis Arce, spätestens seitdem die MAS empfindliche Verluste bei den Regionalwahlen vom März 2021 hinnehmen musste (siehe diesen früheren Beitrag auf Latinorama)
Gummiparagraphen zur Verfolgung der Opposition
Die Dehnbarkeit von Delikten wie „Terrorismus“ und „Aufstand“, die fehlende Präzision in der Gesetzgebung wie auch ihre willkürliche Verwendung sind ebenso Punkte der Kritik von seiten der Menschenrechtsinstitutionen. Die derzeit prominenteste Angeklagte ist Jeanine Añez. Als Übergangspräsidentin war sie im Jahr 2020 selbst mit verantwortlich für Instrumentalisierung der Justiz und Folterungen von Oppossitionellen durch die Polizei. Das Anti-Folterkomitee der UNO kritisiert diese Vorgänge ebenso wie die Tatsache, dass Añez nun selbst unter der Anklage “Terrorismus und Aufstand” in Untersuchungshaft sei.
Dies sei gar nicht der Fall, argumentierten die bolivianischen Regierungsvertreter. Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft der Inhaftierten in acht Monaten nichts dergleichen nachweisen können. Weil ohnehin die gesetzliche vorgeschriebene Höchstdauer der Untersuchungshaft bereits überschritten war, wurde eine weitere Anklage erhoben. In der gleichen Sache, aber mit einem neuen Tatbestand, der sich auf das Prozedere der Amtsübernahme bezieht.
Das Verfassungsgericht, das damals das Vorgehen bei der Amtsübenahme abgesegnet hatte, spielt seine Entscheidung inzwischen als irrelevant herunter. Die MAS-Abgeordneten, die die Präsidentschaft von Añez ihrerseits im Parlament bestätigt hatten, begründen nun, dass sie dies im Sinne des höheren Gemeinwohls getan hätten. Dies Argument wollen sie für die Mitglieder der derzeitigen Opposition jedoch nicht gelten lassen.
Und weil auch Alvaro Coimbra, der frühere Justizminister unter Añez, längst aus der Untersuchungshaft hätte entlassen werden müssen, wurden auch gegen ihn neue Anklagen erhoben. Zuletzt wegen der laut Anklage illegalen Einrichtung einer Untersuchungskommission für Menschenrechtsverletzungen unter der Regierung von Evo Morales. Hunderte Betroffene hatten der Kommission für „Gerechtigkeit und Frieden“ seines Ministeriums ihre Beschwerde eingereicht.
De-Institutionalisierung der Justiz
Guider Arancibia, Journalist der Tageszeitung El Deber, deckte jüngst auf, dass Stoßtrupps in Zivil mit Unterstützung der Regierung in zuvor vom Drogenhandel konfiszierten Fahrzeugen gegen die Blockaden in Santa Cruz vorgegangen waren. Doch nicht die Verantwortlichen für den Einsatz der Fahrzeuge, sondern Arancibia wurde als Beschuldigter vor Gericht zitiert. Dies ist nicht nur eine Verkehrung der Vorfälle, sondern auch eine Verletzung des Pressegesetzes. Die Presse wird immer wieder an der Arbeit gehindert. In diesem Fall war der Protest der Medienschaffenden gegen die Einschüchterungen immerhin erfolgreich.
„Einen Schlag gegen die Demokratie“ nannte der Senator Rodrigo Paz, Sohn des früheren sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora, einen von Präsident Arce im Parlament eingebrachten Gesetzentwurf, nachdem künftig der Staatspräsident die Kandidat*innen für die Leitung der Richterausbildungsstätte benennen soll. Das klingt zunächst harmlos. Doch diese Person wäre ebenfalls für die Ernennung der Richterinnen und Richter verantwortlich.
Dabei ist fraglich, ob eine solche Gesetzesänderung zur Kontrolle der Justiz überhaupt nötig ist. Immer wieder drohen Mitglieder der Regierungspartei oder verbündeter sozialer Organisationen Richter*innen oder Staatsanwält*innen mit Verfahren oder Entlassung, wenn sie mit deren Vorgehen nicht einverstanden sind. Jüngst warf der Staatsanwalt der Provinz Tarija das Handtuch. Aus der Regierung sei er immer wieder unter Druck gesetzt worden, Verfahren gegen Oppositionelle zu eröffnen. Ersetzt wurde er durch eine frühere Ministerin von Evo Morales. Sie betont, ihr Amt vollkommen unabhängig ausüben zu wollen.
Es geht nicht nur um die politische Kontrolle, sondern auch um materielle Interessen
Im Departamento Santa Cruz wurde der Polizist, der seit zwei Jahren gegen die Landmafia in der Provinz Guarayos ermittelt, dieser Aufgaben entbunden. Den letzten einer ganzen Reihe von ihm untersuchter Fälle gab es in Las Londras. Dort hatten Maskierte eine Gruppe von Journalist*innen und Angestellten lokaler Agrarbetriebe auf einer Visite mit Waffen bedroht und einige Stunden als Geiseln genommen.
Sie wurden erst freigelassen, als sie ein Dokument unterschrieben, in dem sie sich verpflichteten, nie mehr an den Ort zurückzukommen und den Anspruch der Landbesetzer anzuerkennen. Als vier Rädelsführer der Bewaffneten nach massivem Protest der Öffentlichkeit später in San Julian festgenommen werden sollten, gab es erneut Schüsse auf die Polizei und Staatsanwälte dieses Einsatzes und eine erneute Geiselnahme eines Polizisten durch Bewaffnete. Staatsanwaltschaft und Polizei mussten fliehen. Drei der vier mit Haftbefehl Gesuchten konnten so entkommen. Der einzige in San Julian Festgenommene, Heber Sixto Canaza von der Organisation der Siedler in San Julian, hatte schon Ende letzten Jahres an einer ähnlichen Gewaltaktion wie in Las Londras teilgenommen. Damals hatte man den ermittelnden Staatsanwalt entlassen. Die Anklage wurde nicht weiter verfolgt.
Schon in früheren Berichten des nun Anfang Dezember von seinen Aufgaben entbundenen Chefermittlers war davon die Rede, dass es sich immer wieder um Mitglieder der zumeist gleichen bewaffneten Gruppe handelt, die mit schwerem Gerät und Waffen auf das begehrte Land kommen, dabei auch Personen entführen und foltern. Doch das hindert seinen obersten Dienstherr, den bolivianischen Innenminister, nicht daran, die Existenz bewaffneter Gruppen in der Region zu leugnen.
Es geht bei der Kontrolle von Polizei und Justiz also nicht nur um die politische Hegemonie der Regierungspartei, sondern auch um handfeste wirtschaftliche Interessen ihrer Basis, wie in diesem Fall der Siedlerorganisationen oder sogar der Landmafia.
Angriffe auf die Unabhängigkeit des Wahlgerichtshofs
Für Außenstehende schwer durchschaubar die Verhältnisse am Wahlgerichtshof, in Bolivien ein Verfassungsorgan. Auch dort haben Ankündigungen von Anklagen zu Rücktritten von zwei Mitgliedern des obersten Gremiums geführt. Der frühere Vorsitzende Salvador Romero tat dies aus „persönlichen Gründen“. Eine der Beisitzerinnen, Rosario Baptista, sprach jedoch von Druck der Regierungspartei und dass faire Wahlen in der Zukunft nicht mehr gewährleistet seien. Ihr Hauptargument ist das Wahlregister, dessen Bereinigung von ihr schon früher gefordert und von Fachleuten ebenfalls empfohlen worden war.
Klar ist zumindest, dass Präsident Luis Arce jeweils ein Mitglied der regionalen Wahlbehörden, die für die Wahlen 2020 verantwortlich waren, inzwischen abgesetzt hat. Nämlich diejenigen, die von der Interimspräsidentin ernannt worden waren. Wie so viele Fälle liegt auch dieser beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof zur Prüfung. Denn der Präsident hat zwar das Recht, jeweils ein Mitglied zu ernennen, nicht aber, Mitglieder des Wahlgerichtshofes abzusetzen.
Internationalen Menschenrechtsgremien – ein stumpfes Schwert
Schon in früheren Fällen hat die Regierung der MAS und die von ihr abhängige Justiz den Urteilen der Internationalen Menschenrechtsgremien nur dann Folge geleistet, wenn sie den eigenen Wünschen entsprechen. Der Verfassungsgerichtshof weigert sich bis heute, seine Fehlinterpretation des Paktes von San José zu korrigieren, mit der er einen Paragraphen der bolivianischen Verfassung als verfassungswidrig erklärt hatte. Die MAS hatte sich damit den Weg für die erneute Kandidatur von Evo Morales im Jahr 2019 freiräumen lassen.
Immerhin hat die Regierung Arce das Amnestie-Gesetz für die eigenen Anhänger*innen nach der Kritik des GIEI wieder annulliert. Gleichwohl wurden die Fälle der amnestierten Personen danach auch nicht wieder aufgenommen.
Eine wirkliche Justizreform ist nicht in Sichtweite
Auch wenn die UNO-Gremien im Fall Marco Aramayo irgendwann eine Überprüfung oder Korrektur anfordern, ist unter den derzeitigen Umständen nicht zu erwarten, dass die Justiz ihre Irrtümer korrigiert. Wenn das Urteil dann nicht ohnehin zu spät kommt. So wie in der Frage der erneuten Kandidatur von Evo Morales, über die erst lange nach den umstrittenen Wahlen von 2019 entschieden wurde.
Dass die bolivianische Justiz reformbedürftig ist, bestreitet wohl niemand. Nun hat der zuständige Minister Iván Lima für März einen nationalen Gipfel zur Justizreform anberaumt. Nur wurden bislang nicht einmal die Beschlüsse des letzten Gipfels umgesetzt. Der fand noch unter der Präsidentschaft von Evo Morales statt. Und eine Expertenkommission, die der Minister Lima vor einem Jahr zum Thema einberufen hatte, war nach Kritik aus den Reihen der MAS, die eine Beteiligung der Basisorganisationen reklamierten, gleich nach der ersten Sitzung wieder eingestampft worden.
Die MAS betont immer wieder ihr politisches Projekt, die diskriminierenden kolonialen oder republikanischen Strukturen zu überwinden. Doch ein Abbau bestehender Institutionen bedarf auch der Transformation oder Schaffung neuer, besserer Institutionen und Mechanismen auf der Grundlage der geltenden neuen Verfassung.
Ohne eine einigermaßen funktionierende und unabhängige Justiz sind nicht nur die Legitimität der aktuellen Regierung, sondern auch die Verfassung und die Demokratie selbst in Gefahr. Und auch wenn die Regierungspartei das als Destabilisierung denunziert, ist zu erwarten, dass Betroffene sich weiter auf der Straße gegen Machtmissbrauch wehren und für die Durchsetzung der Menschenrechte engagieren. Wenn sie nicht wie Marco Aramayo selbst schon im Gefängnis sitzen und – zumindest derzeit – mehr Chancen zu haben scheinen, wegen massiver Verfolgung und Verletzung der eigenen Rechte ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen zu werden, als die Freiheit wieder zu erlangen.