vonMarcus Christoph 23.08.2024

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Cristina Siemsen ist den weiten Weg von Buenos Aires nach Berlin gekommen. Aber die 78-jährige Psychologin hat die Reise über den Atlantik ganz bewusst auf sich genommen. Schließlich hat der Grund dafür mit ihrem Vater Pieter Siemsen zu tun. Dieser hatte Deutschland 1937 aus politischen Gründen in Richtung Argentinien verlassen. Im dortigen Exil lebte er bis 1952, ehe er sich entschied, ein neues Leben in der DDR zu beginnen. Er starb 2014 kurz vor seinem 90. Geburtstag in Berlin.

Der konkrete Anlass ist eine Ausstellung, die derzeit im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum (Adalbertstr. 95A) zu sehen ist. Bei dieser geht es an erster Stelle um den Widerstand einer Gruppe jüdischer Frauen gegen das NS-Regime. Die Protagonistin Eva Mamlok war darüber hinaus Mitte der 30er-Jahre die Partnerin von Pieter Siemsen.

In der Ausstellung wird erzählt, wie das junge Paar sich bei Woolworth Eheringe für „90 Pfennig“ kaufte – zu einem Zeitpunkt, als die Nazis bereits die Heirat zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen verboten hatten. Pieter wanderte alleine nach Südamerika aus.

Kuratorin Alexandra Weltz-Rombach.

Die Familie von Cristina Siemsen hat einen Brief von Eva Mamlok zur Ausstellung beigesteuert. Dieser ist datiert vom 13. Dezember 1937, als Pieter wohl schon in Argentinien angekommen sein müsste, wie Ausstellungskuratorin Alexandra Weltz-Rombach einordnet. In dem dreiseitigen Schreiben begründet Eva, warum sie es für besser hielt, die Beziehung zu beenden und getrennte Wege zu gehen.

„Zwei Jahre, in denen Gefühl und Verstand miteinander kämpften, zermürbten mich. Aber dieses sind die schwersten Kämpfe. Das Gefühl erhielt seine Nahrung aus der Phantasie, der Verstand aus der Wirklichkeit. Endlich hat der Verstand gesiegt.“ In dem Brief beklagt Eva Mamlok, dass ihr Partner versucht habe, ihr Meinung und Moral „einzutrichtern“.

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Die Kreuzbergerin spricht von der „Unmöglichkeit des Zusammenlebens“. Cristina Siemsen vermutet, dass das Schreiben so deutlich formuliert worden sei, damit ihr Vater sich keine Illusionen mehr mache.

Kuratorin Weltz-Rombach meint: „Pieter hat offenbar die Tragweite des Engagements seiner Partnerin nicht richtig eingeschätzt bzw. unterschätzt.“ Siemsen stammte aus einer „großen SPD-Familie“. Sein Vater August Siemsen saß für die Sozialdemokraten im Reichstag – und auch Pieter (Jahrgang 1914) war schon in jungen Jahren ein politisch sehr bewusster Mensch. In dem Vergleich mag die um vier Jahre jüngere Eva als „Mädchen“ erschienen sein, dessen politische Aktivität in jenen Jahren eher „wild“ gewesen sei, erläutert Weltz-Rombach.

Gleichwohl ist Evas Mut bewundernswert. Sie war gerade 14 Jahr alt, als sie 1933 mit großen Lettern ans Dach des Hertie-Kaufhauses am Halleschen Tor „Nieder mit Hitler“ schrieb. Dies war auch der Grund für ihre erste Verhaftung durch die NS-Behörden. Sie wurde dann aufgrund ihres jungen Alters erst einmal wieder freigelassen.

„Es ist auch von heute aus gesehen unheimlich beeindruckend, welche Personen hier aufeinander trafen“, meint die Kuratorin, die selber Historikerin ist. Gleichwohl ist von der eigentlichen Beziehung nicht viel bekannt.

Adrián Feferbaum Siemsen und Cristina Siemsen.

In seiner Autobiographie „Der Lebensanfänger“ erwähnt Pieter Siemsen, wie er ausgerechnet beim Militär in Kontakt zu oppositionellen Kreisen kam. Dadurch lernte er dann auch Eva kennen. „Diese Freundschaft war ungeheuer wichtig für mich, denn ich war bis dahin ziemlich allein“, würdigt er im Rückblick.

Weiter beschreibt Pieter Siemsen: „Eva und ich hatten uns sehr gerne.“ Dabei erwähnt er auch die Eheringe. „Die steckten wir uns stolz an die Finger.“ Er habe den Ring lange getragen. Von Argentinien aus habe er versucht, Eva nachzuholen. Aber die Bemühungen blieben letztlich erfolglos.

Über die Beziehung ihres Vaters zu Eva Mamlok sagt Cristina Siemsen: „Ich wusste von einer Freundin. Aber nicht so ausführlich, dass man hätte wissen können, dass es eine große Liebe war.“ Erst kürzlich fand ihr Sohn Adrián Feferbaum Siemsen im Nachlass des Großvaters den Brief, der in der Ausstellung zu sehen ist. Der 45-jährige Architekt und Fotograf aus Buenos Aires beschäftigt sich sehr mit der Geschichte seiner Vorfahren. Im Mai dieses Jahres hielt er im Polyrama Museum für Lebensgeschichten am Stuttgarter Platz 2 in Charlottenburg einen Vortrag zu diesem Thema.

Die Lebensläufe von Pieter Siemsen und Eva Mamlok verliefen nach ihrer Trennung sehr verschieden. Das Schicksal Evas wird in der Ausstellung schlaglichtartig dargestellt. Sie wehrt sich gegen das NS-Regime durch „Widerständigkeit im Alltag“, wie die Kuratorin beschreibt. Durch Flugblätter oder regimekritische Parolen an Wänden. Gleichgesinnte vernetzten sich und organisierten Treffen, um den Inhalt verbotener Bücher zu diskutieren.

Aufgrund ihres Widerstands wird Eva als 16-Jährige ins niedersächsische Konzentrationslager Moringen gesperrt. Diese schlimme Erfahrung hindert sie nicht daran, sich nach ihrer Freilassung weiter politisch zu engagieren. In den ersten Kriegsjahren musste sie bei einer Berliner Schraubenfabrik Zwangsarbeit leisten. Anfang 1942 erfolgte die Deportation nach Riga. Der Leidensweg der jungen Frau setzte sich im Konzentrationslager Stutthof fort. Dort kam sie Ende 1944 nach offiziellen Angaben aufgrund „allgemeiner Körperschwäche“ ums Leben, was natürlich eine euphemistische Formulierung ist.

Eva Mamlok.

Eine Vita, die einen nicht kalt lässt. Die Schrecken der NS-Herrschaft werden konkret erkennbar an einem Einzelschicksal. „Es ist sehr eindrücklich und nicht abstrakt. So wird eine direkte Identifikation möglich“, so Weltz-Rombach, die zwei Jahre lang mit anderen Historikerinnen und Historikern für die Ausstellung recherchiert hat. Den Anstoß gab die Setzung eines „Stolpersteins“ zu Ehren von Eva Mamlok an deren einstiger Adresse an der Neuenburger Straße 1 in Kreuzberg, die der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck 2011 initiiert hatte.

Die Kuratorin spannt zugleich den Bogen zur Gegenwart, die durch das Erstarken rechter populistischer Parteien gekennzeichnet ist: „Jede neue Woche Nachrichten lässt das Thema der Ausstellung wichtiger werden.“ So könne man sich beim Blick auf die Geschichte fragen: Steht uns so etwas wieder bevor?

Auch am Lebensweg von Pieter Siemsen spiegeln sich die Wirren und Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts wider. Er hatte gemeinsam mit seinen Eltern Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis zunächst in Richtung Schweiz verlassen. Doch dann trennten sich die Wege vorübergehend. August Siemsen, von Beruf Lehrer, nahm 1934 eine Einladung nach Buenos Aires an. Dort hatte der Verleger des Argentinischen Tageblatts, Ernesto Alemann, die Initiative ergriffen, eine deutsche Schule zu gründen, die als liberaler Gegenpol zu den im NS-Geist gleichgeschalteten deutschen Auslandsschulen in Argentinien dienen sollte. Die so entstandene Pestalozzi-Schule besteht heute noch.

Pieter Siemsen musste zurück nach Deutschland, da sich in der Schweiz keine Beschäftigungsmöglichkeit für ihn bot. Er kam in den Arbeitsdienst und später zum Militär. Von Argentinien aus ließ sein Vater ihn 1937 wissen, dass er Deutschland unbedingt verlassen müsse. Denn die deutsche Botschaft in Buenos Aires ließ Recherchen über August Siemsen und seine Familie anstellen. Pieter sei so unmittelbar gefährdet. Mithilfe eines Offiziers konnte der Sohn die zur Ausreise erforderlichen Papiere beibringen und folgte seinen Eltern nach Argentinien.

Arbeit fand Pieter Siemsen beim Zeitungsunternehmen der Familie Alemann, in deren Druckerei er als Maschinensetzer angelernt wurde. Aufgrund der Beteiligung an einem Streik verlor er diesen Posten aber wieder. Es folgten Beschäftigungen bei anderen Druckereien sowie als Lagerarbeiter in einer Kunststofffabrik.

Politisch engagierte er sich unter anderem bei dem 1937 gegründeten Verein „Das Andere Deutschland“, einem Zusammenschluss deutscher Emigranten in Buenos Aires. Zu den Gründern gehörte auch der emigrierte Lehrer Erich Bunke, dessen Tochter Tamara später unter dem Kampfnamen „Tania“ an der Seite „Che“ Guevaras kämpfen sollte.

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Bei der Gruppe ging es darum, sich auf deutsche Kultur – speziell Goethe, Schiller und Brecht – zu besinnen und diese der NS-Ideologie entgegenzustellen. Ein Jahr später entstand auch eine Publikation namens „Das Andere Deutschland“, die von August Siemsen federführend redigiert wurde und einmal monatlich erschien.

Im Rückblick bezeichnete Pieter Siemsen die Jahre in Argentinien als „produktivste Zeit“ in seinem Leben. Die Mentalität der dortigen Menschen habe ihm sehr zugesagt, wie er in einem Interview mit der Informationsstelle Lateinamerika (ila) betont.

Dennoch entschied er sich, das Land am Río de la Plata zu verlassen. Seine Ehe mit Lene Laub, einer jüdischen Emigrantin aus Wien, mit der er zwei Töchter hatte, war zerbrochen. Pieter Siemsen kehrte alleine nach Deutschland zurück. „Meine Mutter bekam die Kinder, mein Vater die Schreibmaschine“, beschrieb Cristina Siemsen, die bei der Trennung von ihrem Vater sechs Jahre alt war. Ihr Vater sei immer ein sehr politischer Mensch gewesen, so Cristina Siemsen. Familie und Kinder habe ihm wohl weniger bedeutet.

Offenbar verband Pieter Siemsen mit der DDR mehr Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Neuanfang nach der Nazi-Zeit als in der Bundesrepublik, wo er die Kräfte der Restauration am Werke sah. „Er war ein Idealist. Er dachte wohl, dass in der DDR der neue Mensch heranwachsen werde. Er glaubte an Demokratie und Gerechtigkeit“, beschreibt Cristina Siemsen die Motivation ihres Vaters.

Pieter Siemsen.

Doch um überhaupt in der DDR leben zu können, musste Pieter Siemsen sich erst einmal gedulden. Denn den Behörden des „Arbeiter- und Bauernstaates“ waren Zuzügler aus der westlichen Hemisphäre scheinbar suspekt. Nur durch eine Heirat mit einer DDR-Bürgerin gelang es Pieter Siemsen, in den östlichen Teil Berlins zu ziehen.

In der DDR fand Pieter Siemsen seine Nische als Spanisch-Redakteur beim Ost-Berliner Verlag „Die Wirtschaft“ sowie als Spanisch-Lehrer in verschiedenen Ministerien. Mehrere Male begleitete er auch DDR-Delegationen als Übersetzer zu Reisen in lateinamerikanische Länder wie Kuba, Uruguay oder Mexiko. 1964 hatte er – von Uruguay aus – auch kurz die Gelegenheit, seinen Töchtern in Buenos Aires einen Besuch abzustatten.

Über die Jahre entstand auch ein reger Briefkontakt. 1976 besuchte Cristina ihren Vater erstmals in Ost-Berlin. Sie erinnert sich noch an das Klima beim Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße. „Man war da eine Nummer. Es wurde viel geschrien. Es war sehr unangenehm.“

Wie rund 40 Jahre zuvor ihr Vater stand auch Cristina Siemsen während ihres damaligen Deutschland-Aufenthalts vor einer großen Richtungsentscheidung. Denn über Nacht hatten sich in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht und waren im Begriff, eine blutige Terrorherrschaft zu installieren. „Da haben mein Mann und ich überlegt, ob es nicht besser wäre, in Deutschland zu bleiben.“ Schließlich entschieden sie sich aber wegen „Familie, Arbeit und Freunden“ doch zur Rückkehr nach Argentinien. „Es war eine schlimme Zeit“, so die heute 78-Jährige im Rückblick auf die Herrschaft der Junta, die erst 1983 endete.

Pieter Siemsen lebte bis 2014 in Berlin, wo er kurz vor seinem 90. Geburtstag verstarb. „Er war ein sehr herzlicher Mensch, ziemlich argentinisch“, erinnert sich Cristina Siemsen. „Es war ein etwas komisches Verhältnis: Er war mein Vater, aber wir haben uns nicht viel gesehen.“ Heute lebt ihre Tochter Sandra in Berlin. Die 39-Jährige hat kürzlich das Projekt „Jetztzeit-Lebenserinnerungen“ auf den Weg gebracht, bei dem es um Immigration zwischen Deutschland und Argentinien geht.

„Es freut mich, dass meine eigenen Kinder sich für diese Geschichte interessieren“, würdigt Cristina Siemsen. Mit einer Generation Abstand scheint der Zugang zu der bewegten, aber auch tragischen Geschichte einfacher zu sein.

Die Ausstellung über die Widerstandsgeschichten um Eva Mamlok ist im Museum Friedrichshain-Kreuzberg (Adalbertstr. 95A) noch bis zum 22. September zu besichtigen.

Der Artikel erschien zuerst im ND.

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