“Man kann keine wirkliche Selbstbestimmung erreichen“, sagte Boliviens Vizepräsident David Choquehuanca jüngst in New York, „wenn die indigenen Völker von Strukturen erfasst werden, die sie wieder zu freiwilligen Opfern eines Systems machen, dass sie ausnutzt, spaltet, manipuliert und erneut kolonisiert“. Die Kritik auf dem 23. Forum der Vereinten Nationen zu indigenen Fragen war an die kapitalistischen Staaten des Nordens gerichtet. Sie hätte genauso gut auf die eigene Politik der bolivianischen Regierung gegenüber den indigenen Völkern des Tieflands gepasst.
Anlässlich einer erneuten Landbesetzung in der Provinz Guarayos führte Latinorama ein Interview mit dem Soziologen Erwin Melgar. Darin spricht er auch von staatlicher Diskriminierung und Rassismus gegenüber den indigenen Kulturen des Tieflandes.
In den vergangenen Monaten hatte es keine Nachrichten von neuen massiven Landbesetzungen im bolivianischen Tiefland mehr gegeben. Das hat sich Anfang April mit der Besetzung des Landgutes El Encanto in Guarayos geändert. Es war schon der vierte Versuch der selben Gruppe seit 2018, sich dieses Land anzueignen. Erst nach einem wiederholten Einsatz von 200 Polizisten, haben die Besetzer das 4500 Hektar große Landgut verlassen.
Melgar: Die Landbesetzer haben je nach Region unterschiedliche Strategien. In Guarayos handelt es sich um bewaffnete Gruppen. Sie besetzen landwirtschaftliche Betriebe, dringen aber auch in indigene Gemeinden ein. Manchmal kommen sie bereits mit Landtiteln, die die Agrarreformbehörde ausgestellt hat. In anderen Fällen dienen die gewalttätigen Besetzungen und wie jüngst sogar Geiselnahmen dazu, Druck auf die Behörde auszuüben, damit solche Besitztitel ausgestellt werden. Da es Anhänger der Regierungspartei sind, geben die staatlichen Stellen in der Regel schnell nach. In Guarayos gehören diese bewaffneten Gruppen inzwischen zum Straßenbild. In der Provinzhauptstadt Ascensión fahren sie mit Kleintransportern durch die Straßen und zeigen offen ihre Waffen größeren Kalibers, wie sie die Guerilla in Kolumbien benutzt. Die Polizei sieht das, aber sie tut nichts dagegen. Wogegen ein Kleinbauer, der auf dem Land mit seinem Jagdgewehr angetroffen wird, deswegen im Gefängnis landen kann.
Immerhin gibt es jetzt ein Verfahren gegen die Anführer wegen illegaler Landnahme und versuchten Mordes. In der Tageszeitung El Deber war nur von der Besetzung des privaten landwirtschaftlichen Betriebs El Encanto die Rede. Du warst vor Ort. Was hast du da als Berater indigener Organisationen gemacht?
Melgar: In der Nähe gibt es auch acht indigene Gemeinden, darunter Itaí, Cerro Esperanza, Rio Negro und El Carmen, die ebenfalls betroffen sind. Sie gehören zum Indigenen Territorium von Guarayos.
Strategie der Einschüchterung
Die Landbesetzer sagen, sie seien Kleinbauern von Monteverde. Das ist ein Ort, an dem es schon vor langem Konflikte zwischen Siedlern und der angestammten Bevölkerung gegeben hat.
Melgar: Damit soll nur Verwirrung gestiftet werden. Monteverde ist keine Kleinbauerngemeinde, sondern ein indigenes Territorium der Chiquitano. Tatsächlich sind ein Teil der jüngsten Landbesetzer in Guarayos Kinder der Siedlerfamilien aus San Julián (an der Straße nach Santa Cruz), die auf der Suche nach neuem Land umherziehen. Die anderen sind erst kürzlich aus der Koka-Anbauregion Chapare in Cochabamba hierher gekommen.
Es sind etwa fünfzig Erwachsene. Im angetrunkenen Zustand behaupten sie, sie wären von bewaffneten Gruppen im Chapare geschult worden. Nicht nur die Agrarbetriebe in Guarayos sollen eingeschüchtert werden, sondern auch die indigenen Gemeinden, die sich gegen eine Vereinnahmung durch die Regierungspartei widersetzen.
Der Regionalabgeordnete der Guarayo, Roberto Urañavi, hat immer seine Unabhängigkeit gegenüber den politischen Parteien bewahrt. Das gefällt der Regierungspartei, der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), nicht.
Du hast die Siedler erwähnt, die aus dem Chapare, der Hochburg von Evo Morales kommen. Ist der derzeitige Machtkonflikt zwischen Morales und dem Präsidenten Arce eine Chance, um Rückendeckung der Regierung gegen die Landbesetzer zu bekommen?
Die Regierung schert sich nicht darum, ob jemand aus dem Chapare kommt, solange er Präsident Arce Unterstützung zusagt. Für die Indigenen vor Ort ergibt sich auch das Dilemma, welcher Seite sie sich anschließen sollen. Ob sie der Regierung Treue schwören, um sich und ihrer Familie einen Vorteil zu verschaffen, oder ob sie neutral bleiben und das Wohl der Gemeinde im Mittelpunkt stehen soll.
Was tut der Staat gegen die Landnahmen?
Auf Latinorama wurde mehrmals auf den emblematischen Fall der Landbesetzungen auf dem Gut Las Londras in Guarayos eingegangen. Auch auf das Versagen der Justiz dabei. Wie haben die staatlichen Stellen auf die jüngsten Besetzungen in der Region reagiert?
Am Samstag nach der Besetzung hat sich eine Regierungsdelegation – der Vizeminister für Wasser und Umwelt, der Vizeminister für ländliche Entwicklung sowie die Landreformbehörde – in Ascención mit den Landbesetzern und der Organisation der Siedler getroffen. Es kam aber zu keinem Gespräch mit den Betroffenen, den Guarayo und der Organisation, die sie vertritt, der COPNAG. Es ist eine verkehrte Welt. Die Opfer werden zum Schweigen gebracht und die Justiz entscheidet am Ende zugunsten der Landbesetzer. Man hat den Besetzern versprochen, ihnen bald Titel auf Land auszuhändigen, das innerhalb des indigenen Territoriums der Guarayo oder der Forstreserve Guarayos liegt.
Eigentlich dürften diese Landtitel juristisch ungültig sein. Sie widersprechen geltendem Recht.
Melgar: Selbstverständlich ist das nicht legal. Aber eine Klage hat wenig Erfolgsaussichten. Es gibt keine Trennung von Regierung und Justiz. Sie machen, was sie wollen. Anderswo kommen sie nicht in größeren Gruppen wie diesmal in Guarayos, sondern etappenweise. Erst komme eine Familie als Vorhut, dann die nächste. So merken das die Gemeindeautoritäten erst, wenn diese Familien sich am selben Ort eine Hütte gebaut und Wald gerodet haben. So war das in San Ignacio oder im Naturschutzgebiet Noel Kempff Mercado. Auch in San Miguel, San Rafael und im Tucabaca-Tal bei Roboré ist dies derzeit die Vorgehensweise.
Zurück nach Guarayos: Was ist in den nächsten Wochen zu erwarten?
Melgar: Wir hoffen, dass der Abgeordnete der Guarayo im Regionalparlament mit Unterstützung des Gouverneurs erreicht, dass sich die Regierung mit den Guarayo an einen Tisch setzt, um nach einer langfristigen Lösung zu suchen, wie die Landbesetzungen in indigenen Territorien gestoppt werden können. Es gibt einen Vorschlag der Akteure vor Ort, wie die Region nachhaltig bewirtschaftet werden kann. Die Regierung wurde von dem Vorschlag in Kenntnis gesetzt. Aber die Rechtsunsicherheit verhindert derzeit, dass die indigenen Gemeinden wirtschaftliche Initiativen starten können, etwa öko-touristische Projekte. Der Gouverneur hat sich verpflichtet, den Kontakt zu den Regierungsstellen aufzunehmen. Im Grunde geht es darum, dass die geltenden Gesetze auch angewandt werden. Das ist die gemeinsame Sorge der indigenen Gemeinden wie auch der landwirtschaftlichen und Forstbetriebe. Alle sehen, wie die Waldreserve von Guarayos immer weiter zerstört wird.
Alte und neue Großagrarier
Auf einer Veranstaltung mit der Siedlerorganisation im letzten Jahr, hatte Vizepräsident David Choquehuanca den Migranten aus dem Hochland versichert, dass die Territorien im Tiefland ihnen als Quechua oder Aymara von altersher gehören würden, was historisch gesehen mehr als fragwürdig ist. Für Choquehuanca sind die Großgrundbesitzer und Agroindustriellen aus dem Tiefland die Verantwortlichen dafür, dass Bolivien derzeit weltweit an dritter Stelle der Länder mit der meisten Waldzerstörung steht und die Hitze zunimmt. Erst jüngst gab es wieder Schlagzeilen um ein Landgut von 33.000 Hektar, das ein Agrargericht der Familie des Oppositionspolitikers Marincovic und Mitglied des Regionalparlaments von Santa Cruz abgenommen hatte. Das Verfassungsgericht gab nun einem Einspruch der Familie Marincovic statt. Die Verfassung sehe zwar eine Höchstgrenze von 5000 Hektar vor, doch nicht für Ländereien, deren Besitz bereits vorher bestanden hat.
Melgar: Auch auf diesem Grundbesitz hat es bereits Landbesetzungen gegeben, einschließlich des Diebstahls von Maschinen und Vieh.
Was geschieht mit dem besetzten Land?
Melgar: Mir haben Siedler erzählt, dass sie die Böden „verbessern“, sprich die Bäume fällen, und das Land nach einer gewissen Zeit an Agroindustrielle verkaufen. Meist sind es Käufer, die wie sie selbst auch aus dem Hochland Boliviens kommen. Leute mit Geld. Es können Transportunternehmer*innen oder Händler*innen sein. Sie bilden ein neues Unternehmertum. Es ist ein ähnlicher Prozess wie zuvor mit den Zuckerrohrplantagen in San Pedro, Minero, Hardemann nördlich von Santa Cruz.
Nur jetzt produzieren sie Soja. Vor fünf Jahren schon war der Präsident der Vereinigung der Sojaproduzenten ein Siedler aus dem Hochland. Er verfügte in San Pedro über 1200 Hektar Land und ist Anteilseigner der Zuckerfabrik Aguaí. Zum Teil finanzieren solche Unternehmer, die über gute Kontakte zur Regierung verfügen, auch die Aktionen der Landbesetzer.
Und der Drogenhandel?
Im Norden von Santa Cruz gibt es den nicht, in Guarayos schon. Und was ist die beste Form, Geld zu waschen? Es in Ländereien zu investieren und dann als Unternehmer dazustehen.
In den letzten Monate hat es eine Annäherung der Zentralregierung mit den Agrarunternehmen von Santa Cruz gegeben. Der Stopp der Landbesetzungen, von denen – wie El Encanto zeigt – auch die Großagrarier betroffen sind, war eines der Themen.
Melgar: Es war nicht mehr als ein runder Tisch, ein Event für die Presse und das Abschlussfoto. Aber vor Ort ist man mit dem Dialog keinen Schritt vorangekommen. Selbst der Vizepräsident David Choquehuanca war gekommen, um sich mit dem Verband der Viehzüchter und der Agroindustrie zu treffen. Er versprach, gegen die Landbesetzungen vorzugehen. Das war am Morgen. Am Nachmittag hat er sich mit den Siedlern getroffen und einen Tag darauf begann die Landbesetzung in El Encanto und den indigenen Nachbargemeinden. Wie soll man das interpretieren?
Hoffnung auf Dialog
Man weiß nicht, was sie miteinander verhandelt haben. Vielleicht hat er versucht, sie von den Landbesetzungen abzubringen, aber nichts erreicht?
Wir hoffen, dass es zu dem von uns vorgeschlagenen Dialog der Regierung mit allen Akteuren kommt. Ich habe die Hoffnung noch nicht verloren. Die Agrarunternehmer sind interessiert an unseren Vorschlägen, weil sie ein Interesse daran haben, in Ruhe arbeiten zu können.
Aber vielleicht ist im Augenblick noch nicht überall die Bereitschaft dafür da. Die Regierung hat einseitig für die Landbesetzer Partei ergriffen, während die Guarayos marginalisiert werden. Ganz entgegen ihrer wohlklingenden Gesetze gegen Diskriminierung und Rassismus. Das habe ich selbst erlebt und sehe es bei jeder Landbesetzung.
Wie kann man in einem Umfeld arbeiten, wo sich bewaffnete Banden offen auf den Straßen zeigen?
Es ist eine Frage des Vertrauens und der Kontakte zu den indigenen Organisationen. Wenn sie dir vertrauen, dann schützen sich und begleiten dich auch zum Beispiel zu Treffen mit den Siedlern. Und das wird von den Landbesetzern bis zu einem gewissen Punkt auch respektiert. Sie haben natürlich einen Riesenvorteil: Sie verfügen über die neuesten Allradfahrzeuge und bewegen sich schneller als die indigene Bevölkerung, die auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen müssen, die nicht überall hinkommen. Und wenn ich selbst mir ein Fahrzeug leihe, um nicht erst anzukommen, wenn die Auseinandersetzungen schon vorbei sind, dann kann es wie diesmal sein, dass ich keinen Treibstoff bekomme.
Das kann auch auf die derzeit üblichen Versorgungsmängel zurückzuführen sein.
Ein Zufall? Es gibt Landbesetzungen, aber kein Benzin. In Guarayos gibt es eine Tankstelle. Um eine Tankstellenlizenz zu bekommen, muss man Beziehungen zur Regierungspartei haben. In den Orten, die näher an Santa Cruz liegen, wie San Ramón oder San Julián gab es diesmal keine Probleme mit der Versorgung. Es ist nicht das erste Mal, dass ich während eines Konflikts an der Tankstelle keinen Treibstoff bekommen habe. Seit dem massiven Polizeiaufgebot in El Encanto herrscht derzeit eine angespannte Ruhe. Es bleibt abzuwarten, wie die Landbesetzer reagieren, sollte die Regierung ihre Versprechungen ihnen gegenüber nicht erfüllen. Sie haben sich auf andere Neusiedlungen in der Nähe zurückgezogen.
Zum Thema siehe auch diesen früheren Beitrag auf Latinorama.