Wäre es nach der regierenden MAS von Evo Morales gegangen, dann hätten die Regionalwahlen 2021 den deutlichen Wahlsieg des Ökonomen Luis Arce Catacora und Vizepräsident David Choquehuanca bei den Nationalwahlen vom Oktober 2020 konsolidieren sollen. Um damit die politische Hegemonie der MAS in den Munizipien und Regionen abzusichern. Dass es dazu nur teilweise kam, lag vermutlich auch an der Rückkehr zu alten Fehlern und nicht erfüllten Wahlversprechen. Dass die Wirtschaft bei anhaltender COVID-Pandemie nur mühsam wieder in die Gänge kommt, kann man der Regierung nicht vorwerfen. Aber die versprochene Justizreform wurde schnell wieder auf Eis gelegt. Und statt sich um Versöhnung zu bemühen, setzte der zurückgekehrte Morales alles daran, über Polarisierung die Kontrolle über die eigene Partei und die (künftigen) Amtsträger*innen zurückzugewinnen.
Präsident Arce und der wieder von der MAS kontrollierte Staatsapparat zogen mit: Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Oppositionspolitiker*innen; Drohungen an die Wählerschaft, dass man mit oppositionellen Bürgermeister*innen einfach nicht zusammen arbeiten könne; Missbrauch staatlicher Mittel für den Wahlkampf; ein vertikaler Stil bei der Besetzung der Kandidaturen… und eine Medienkampagne, die mit Aufklärung und Aufarbeitung wenig zu tun hatte. Das Wahlvolk zumindest hat das mehrheitlich nicht goutiert.
2019: Putsch oder Wahlbetrug?
Man solle nicht dem Irrtum verfallen zu glauben, dass die vielen Fake News von niemandem ernst genommen würden, warnte gleichwohl Andrés Gomez. Der Journalist und Universitätsdozent hatte in der Ära Morales einst seinen Job verloren, weil seine damaligen Arbeitgeber nicht auf die Einnahmen durch Anzeigen der Regierung verzichten konnte. Diesmal bezog er sich auf eine Medienkampagne, die die aktuelle Regierung praktisch am Tag der Amtsübernahme im November 2020 gestartet hatte: Demnach habe es 2019 keinen Wahlbetrug zugunsten von Evo Morales gegeben, sondern einen Putsch seiner politischen Gegner. Die Frage der Legalität der Regierungsübernahme durch Jeanine Añez ist juristisch kompliziert. Doch den Wahlbetrug haben zu viele selbst miterlebt: Die verstorbenen Eltern, die angeblich gewählt hatten. Wahlhelfer, die gezwungen wurden, Akten zu fälschen. Wahlprotokolle, wo eine einzige Person für alle Parteien und gleich für mehrere Wahllokale unterschrieben hat. Stimmenzahlen für die MAS, die über der Zahl der Wahlberechtigten lagen. Wahlunterlagen, die man in Müllcontainern fand oder Unterschiede zwischen den selbst aufgenommen Fotos der Wahlprotokolle und den veröffentlichten Ergebnissen…. Trotzdem scheint es für die Anhänger*innen von Evo Morales im In- und Ausland entlastend zu sein, an einen angeblich sauberen Wahlsieg von 2019 zu glauben.
Nun wurde der Journalist Gomez selbst Opfer einer gefakten Nachricht eines anonymen Internet-Kriegers: 2020 habe er satte Aufträge der Übergangsregierung bekommen. Bei ihm sei nichts davon angekommen, konterte Gomez süffisant. Sein Image als unabhängiger Journalist mit zuverlässigen Informationen soll anscheinend beschädigt werden.
Der Mythos Morales ist zerbrochen
Als weniger zuverlässig sind die Aussagen des Ex-Präsidenten Morales bekannt. Das Versprechen, die vereinbarte „rote Linie“ zum indigenen und Naturschutzgebiet Isiboro Sécure (TIPNIS) zu respektieren, nachdem man seinen Kokabauern das sogenannte „Polígono 7“ als Kompromiss abgetreten hatte. Dass er seine Ex-Freundin Gabriela Zapata, die als Lobbyistin im Präsidialministerium ein und aus ging, nach seiner Trennung nie wieder gesehen habe. Dass er sich „mit einer 15jährigen“ auf seinen Acker zurückziehen würde, sollte er das Verfassungsreferendum vom 21. Februar 2016 auch nur mit einer Stimme Unterschied verlieren. Oder die Aussage direkt nach dem ersten Umlauf der jüngsten Regionalwahlen: Seine MAS habe acht der neun Departamentos gewonnen. Tatsächlich hatte die MAS die Departamentos Cochabamba, Potosí und Oruro gewonnen. Beni und Santa Cruz waren an die Opposition gegangen. Und bei den Stichwahlen in den restlichen vier Departamentos am 11. April reichte es für die MAS dann nirgendwo zum Sieg.
Trotz massivem Einsatz der Regierung und von Evo Morales selbst, war die Botschaft der Wähler*innen klar. Ex-Vizepräsident Alvaro García Linera räumte ein, es sei nicht mehr egal, wen die Partei aufstelle.
Indigene und Basisorganisationen mit neuen politischen Angeboten
Nun wundert sich Evo Morales öffentlich, wie es dazu kommen konnte, dass sechs Departamentos an die „Rechte“ gefallen seien. Andere MAS-Größen weisen dagegen darauf hin, dass drei der vier in der Stichwahl siegreichen Gouverneure eher Teil des „sozialen und Volksblocks“ seien. Etwa Santos Quispe in La Paz. Er ist Sohn des legendären Aymara-Anführers und Mallku Felipe Quispe. Und zwei weitere sind sogar ehemalige MAS-Mitglieder. Aber genau diese, die sich nicht der Gunst von Morales erfreut hatten. Im Pando hatte Morales auf der Kandidatur von Miguel Becerra bestanden. Das frühere Mitglied der rechten ADN Partei des Ex-Diktators Banzers hatte nach der Veränderung der Machtverhältnisse die Seiten gewechselt. Ebenso wie sein mächtiger Verbündeter: Juan Ramón Quintana. Ex-Major, früherer Freund der Banzer-Familie und später der wohl mächtigste Minister von Evo Morales. Becerra und Quintana werden für das Einschleusen von Scharfschützen in eine Gruppe protestierender Bauern im Jahr 2008 in Porvenir verantwortlich gemacht.
Die Tragödie wird in dem Film „Tahuamano – Sterben im Pando“ von André Brie dokumentiert. Demnach eröffneten die Scharfschützen das Feuer. Die Schüsse wiederum waren der Auslöser für ein blutiges Massaker durch Paramilitärs der lokalen Oberschicht an den Kleinbauern. Und am Ende führte es zur politischen Kontrolle des Pando durch die MAS. Becerra bekam für die MAS bei der jüngsten Stichwahl 45% der Stimmen. Sein Gegenkandidat, früherer Bürgermeister der MAS in Porvenir, der nun für die Partei MTS (Bewegung Drittes System) kandidierte, lag mit 55% der Stimmen dann überraschend deutlich vorne.
Die MAS bleibt die bei weitem stärkste Partei
Insgesamt waren die Wahlergebnisse für die MAS durchaus gut. Zumal das Wahlgesetz die größte Partei bevorzugt. Und da es keine Überhangs- oder Ausgleichsmandate gibt, stellt die MAS nun selbst in mnachen Regionen, wo nur eine Minderheit für sie gestimmt hat, die Mehrheit in den Stadträten oder dem Regionalparlament. So auch im Pando.
Und in Santa Cruz sind auf einmal die indigenen Abgeordneten das Zünglein an der Waage zwischen der MAS und der Partei des mit deutlicher Mehrheit gewählten Gouverneurs Fernando Camacho. Gut genutzt wäre das eine Chance, die Landnahme und Zerstörung der indigenen Gemeinden durch Siedler und Agroindustrie zu bremsen. Entsprechend konfliktiv ist die Debatte in den Organisationen der Indigenen darüber, wer sie vertritt. Und entsprechend intensiv die Versuche von außen, Einfluss zu nehmen.
Landesweit etwa 40% der Stimmen der Gouverneurs-Wahlen fielen auf die MAS. Das lag zwar deutlich unter dem Anteil der Nationalwahlen vom Oktober, aber nur wenig unter dem Anteil bei den vorherigen Regionalwahlen von 2015. Auch konnte die MAS 72% der Bürgermeisterposten für sich verbuchen. Allerdings vielerorts ohne eine Mehrheit im Stadtrat. Und die Departamentshauptstädte, in denen die Mehrheit der Bevölkerung lebt, gingen bis auf Sucre und Oruro an unterschiedliche Oppositionsgruppen. In Oruro gewann der MAS-Kandidat mit 30%, in Sucre mit 33% der Stimmen. Eine Stichwahl gibt es in den Munizipien nicht.
Mängel im Wahlverfahren
Das zivilgesellschaftlich Wahlbeobachtungsbündnis „Observa Bolivia“ stellte allerdings Mängel fest: Bei 2% der Wahllokale habe es keine geheime Stimmabgabe gegeben. In 1% der Wahllokale seien die Wahlbeobachter*innen behindert worden. In 3% waren die Delegierten der Parteien nicht zur Kontrolle zugelassen worden. Und in 4% der Wahllokale sei die Auszählung entgegen der Vorschrift nicht öffentlich gewesen…
Die Wahlbehörde entgegnete: Keine Wahl laufe perfekt. Doch manches Ergebnis lässt Fragen aufkommen. Es ist zwar bekannt, dass in vielen ländlichen Gemeinden das „Voto Campesino“ praktiziert wird: Man einigt sich vorher in der Dorfversammlung auf einen Kandidaten. Dem werden anschließend alle Stimmen gegeben. In manchen Munizipien war ohnehin nur der MAS-Kandidat zur Wahl zugelassen worden. Doch es ist wenig wahrscheinlich dass selbst dort, wo zwei oder drei alternative Parteien zur Wahl standen, manchmal 100% der Stimmen an die MAS gegangen sind. Sollten nicht zumindest die Alternativkandidat*innen selbst für ihre Partei gestimmt haben?
„Tausende“ seien im Süden verbotenerweise in Schlauchbooten über die argentinische Grenze in Wahllokale der Grenzstädte gebracht worden, hieß es aus Kreisen der Opposition. Doch die Wahlbehörde antwortete nur, dass ihre keine Information vorliege und man auf die Arbeit der Polizei vertraue. Die Staatsanwaltschaft bezeichnete die Vorkommnisse als alltägliche Arbeitsmigration. Vermutlich war es tatsächlich nur der an der Grenze grassierende Schmuggel. Santos Quispe von Jallalla präsentierte beim ersten Wahlgang auf einer Pressekonferenz Wahlprotokolle aus La Paz, die wie er behauptete später manipuliert worden seinen. Doch der Leiter der nationalen Wahlbehörde und seine Stellvertreterin verließen noch während der Auszählung das Land Richtung Honduras. Zur Verkündung der Ergebnisse kehrten sie dann zurück.
Schon im Vorfeld war die Wahlbehörde ausgesprochen schweigsam gewesen, als es um Verletzung des Wahlrechts durch die Regierungspartei ging (siehe Vorwahlbericht). Sei es die Nutzung von Staatseigentum für den Wahlkampf oder dass die Kandidatin einer Oppositionspartei in der MAS-Hochburg Entre Rios wenige Tage vor der Wahl gewaltsam an der Durchführung ihrer Abschlussveranstaltung gehindert wurde. Während eine kleine Oppositionspartei der Yungas von La Paz mit 10.000 USD Strafe belegt wurde wegen politischer Belästigung einer Kandidatin der eigenen Partei.
Richtungskämpfe in der Regierungspartei
Dass die MAS mit den Ergebnissen nicht zufrieden ist, hat eher mit internen Richtungskämpfen zu tun. Zahlreiche Kandidat*innen, die vom Ex-Präsidenten, Partei- und Wahlkampfchef Evo Morales gegen das Votum der Basis oder ohne sie zu fragen durchgesetzt worden waren, hatten vergleichsweise schlechte Ergebnisse. Umgekehrt konnten – wie erwähnt – eine Reihe von ehemaligen Mitgliedern des MAS, die von Evo Morales ausgegrenzt worden waren, auf anderen Listen den Sieg einfahren.
Am deutlichsten wurde dies in El Alto, wo die frühere Parlamentspräsidentin Eva Copa über zwei Drittel der gültigen Stimmen bekam. Morales Kandidat der MAS war mit weniger als 20 Prozent weit abgeschlagen.
Auch am benachbarten Regierungssitz La Paz musste sich der MAS-Kandidat César Dockweiler dem Soziologen Ivan Arias geschlagen geben. Der Bauminister unter der Übergangsregierung war für eine selbst organisierte Wählervereinigung angetreten. Schon vor den Wahlen hatte man versucht, seine Chancen nicht nur mit Fake-News im Internet, sondern auch mit Anzeigen und Gerichtsverfahren zu untergraben. Während solche wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung von früheren Mitarbeiterinnen auch wegen der schwierigen Beweisführung hochbrisant sind, gab es auch eher kuriose Anschuldigungen: Er habe als Minister keine Strafverfahren gegen Mitarbeiter der Vorgängerregierung eröffnet, die sich nicht korrekt verhalten hätten. Das sei Vernachlässigung von Amtspflichten. Ausgerechnet die MAS, die sich landauf landab, national und international über die Verfolgung ihrer Anhänger durch die Übergangsregierung beschwert hatte, nimmt eine Nichtverfolgung jetzt als Vorwand, um die politische Niederlage bei den Wahlen auszuhebeln. Warum die Gerichte und die neuen Autoritäten sich nicht einfach prioritär um die Strafverfolgung derjenigen Parteifreunde kümmern, die angeblich das Recht gebrochen haben, bleibt ihr Geheimnis.
Auch beim Rechtsaußen und Ex-Militär Manfred Reyes Villa, der mit deutlicher Mehrheit das Bürgermeisteramt der der viertgrößten Stadt Boliviens, Cochabamba, gewonnen hat, gab es schon im Vorfeld der Wahlen juristische Auseinandersetzungen. Um ihn direkt von den Wahlen auszuschließen. Da seine fehlende Residenzpflicht auch einige MAS-Kandidat*innen von der Wahl ausgeschlossen hätte, grub man ein altes Verfahren aus dem Archiv. Als Präfekt von Cochabamba waren vor etwa 15 Jahren statt der bewilligten Pickups Limousinen angeschafft worden. Tatsächlich musste Reyes Villa nun den gesamten Neuwert bezahlen, um noch zur Wahl zugelassen werden. Obwohl die Limousinen die ganzen Jahre bei der Regionalregierung im Einsatz waren. Mit einer Ausnahme: Ein Fahrzeug, das der frühere MAS-Gouverneur Canelas für geraume Zeit der Familie einer Freundin von Evo Morales ausgeliehen hatte.
Neue Konflikte statt Lösung von Problemen?
Es sei nicht gut gewesen, Evo Morales so zu vergöttern, meinte Segundina Flores, die jüngst ihr Mandat als Sprecherin der Organisation der Kleinbäuerinnen beendet hat. Zur internen Wahlanalyse wurde sie nicht mehr eingeladen. Aber auch andere Parteimitglieder fordern, dass auch das Auftreten und die Strategie von Evo Morales im Wahlkampf zu analysieren sei, fordern gar Erneuerung der Spitzenpositionen. Die MAS hat die Chance dazu. Nur müsste dafür der aggressive polarisierende Kurs geändert und Fehler der Vergangenheit korrigiert werden.
Jetzt müsse es nach dem Wahlmarathon endlich darum gehen, die Probleme der Menschen zu lösen, heißt es von vielen Seiten, die die permanente politische Konfrontation leid sind. Doch viel spricht derzeit nicht dafür. Schon nach dem ersten Durchgang der Wahlen setzte vielmehr eine Klagewelle gegen Oppositionelle ein. Allen voran gegen die Übergangspräsidentin Jeanine Añez, der die Staatsanwaltschaft Terrorismus und Umsturzversuche vorwirft. Und nach der Stichwahl scheinen jetzt auch noch parteiinterne Konflikte der MAS über Gerichte ausgetragen werden zu sollen. All dies wird Thema eines zweiten Teils dieses Beitrags auf Latinorama werden.