vonPeter Strack 03.02.2024

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Ist der Ruf erst ruiniert, richtet sich´s weiter ungeniert… scheint das Motto der obersten Justiz in Bolivien. Das Verfassungsgericht hatte im Jahr 2017 die Kandidatur für eine dritte mögliche Amtszeit in Folge für Evo Morales noch „endgültig und unanfechtbar“ zum Menschenrecht und die Amtszeitbegrenzung in der Verfassung für irrelevant erklärt. Im Dezember 2022 entschied das gleiche Gericht, dass der frühere Präsident Evo Morales bei den nächsten Wahlen nicht als Kandidat antreten dürfe, dies ebenso endgültig und unanfechtbar wie bei dem Urteilsspruch von 2017 und ebenso entgegen dem Verfassungstext. In dem ist nur eine Begrenzung der Wiederwahl für amtierende Präsidenten vorgesehen. Präsident/in und Vizepräsident/in, heißt es im Artikel 169, „können nur einmal in unmittelbarer Folge wiedergewählt werden.“ Hintergrund ist der Streit zwischen Evo Morales und Präsident Luis Arce um die Kontrolle der Partei und damit eine erfolgversprechende Kandidatur bei den nächsten Wahlen.

Doch da Evo Morales selbst dafür gesorgt hat, dass die Gerichte an Unabhängigkeit verloren haben (siehe auch diesen Beitrag auf Latinorama) hat nun der aktuelle Präsident Luis Arce die Kontrolle. Und es ist Evo Morales, der die neue UN-Berichterstatterin für die Unabhängigkeit der Justiz um eine Überprüfung der Urteile des Verfassungsgerichtes bittet. Mit einer 12 Tage andauernden Straßenblockade in seiner Hochburg, der zentral gelegenen Cochabamba-Region, wollten seine Gefolgsleute den Rücktritt aller obersten Richter erzwingen. Deren offizielle Amtszeit war Ende Dezember ausgelaufen, ohne dass neue Richter*innen gewählt worden waren. Eigentlich verpflichten bolivianische Gesetze dazu, solange im Amt zu bleiben, bis Ersatz bereit steht. Trotzdem fällten die obersten Richter ein weiteres rechtlich fragwürdiges Urteil, mit dem sie sich selbst ihre Amtszeit verlängert haben.

Torpedierte und verschobene Wahlen

Zuständig für die Vorauswahl der Kandidat*innen für die höchsten Gerichtsposten ist das Parlament. Früher hatte eine geeinte MAS die nötige Zweidrittelmehrheit, um ihre Kandidat*innen für die obersten Gerichte durchzuwinken. Oppositionelle oder gar unabhängige Kandidat*innen hatten keine Chance, auf die Wahllisten zu kommen. Aber nicht nur die Zweidrittelmehrheit ging bei den vergangen Parlamentswahlen Ende 2020 verloren.

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Auch stimmt heute ein erheblicher Teil der Evo Morales nahestehenden MAS-Abgeordneten bei gewissen Fragen nicht mehr zusammen mit der Regierung, sondern mit den Oppositionsparteien. So musste die Fraktion um Präsident Arce im letzten Jahr das oberste Gericht bemühen, um den im Parlament beschlossenen Auswahlprozess der Kandidat*innen für die Richterwahlen zu stoppen. Man wolle verhindern, das die Richterposten unter den Parteien quotiert würden, und stattdessen die besten Kandidat*innen dem Volk zur Wahl stehen würden, so das offizielle Argument von Justizminister Ivan Lima. Und gegen den Protest der Mehrheit der Abgeordneten, die einen verbesserten Entwurf zum Wahlprozess einbringen wollten, verordnete der Vizepräsident David Choquehuanca dem Parlament jüngst vor Weihnachten erst einmal Ferien. Wieder war es das oberste Gericht, das dem Senatspräsident Andrónico Rodríguez (ebenfalls MAS und eine Alternative oder Konkurrenz für das Präsidentenamt im Hintergrund) zeitweise die Ausübung seiner Kompetenzen entzog. Er  hatte zu einem Treffen eingeladen, um zwischenzeitlich einen Kompromiss zu erarbeiten. Dafür sei allein der Vizepräsident zuständig. Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, dass das Verfassungsgericht mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu fremdeln scheint.

„Richterwahlen Sofort“, Plakat im Eingangsbereich des neuen Parlamentsgebäudes, Foto: Julia Gabriela Strack Diaz

Straßenblockaden für die Verfassung oder für Evo Morales?

In Wochen nach Ferienende blockierten sich dann aber die Chefs des Senats und des Abgeordnetenhauses gegenseitig, indem sie sich wechselseitig die Verantwortung zuschoben. Dies geschah wie zumeist vordergründig wortreich mit der Bekräftigung in sich widersprüchlicher Verfahrensregeln. Erst als über 20 Blockaden von Überlandstraßen, 17 verletzte Polizisten und wirtschaftliche Millionenverluste registriert waren, sah sich der laut Verfassungsgericht allein zuständige Vizepräsident bemüßigt, die Fraktionen im Parlament zu Verhandlungen einzuladen. Ergebnis: Die streitenden Parteien arbeiteten nun gemeinsam einen verbesserten Vorschlag für die Richterwahlen aus. Am Tag nach dieser Einigung, stieg die Zahl der Blockaden auf über 30. Es gehe Evo Morales gar nicht um die Unabhängigkeit der Justiz, seine Anhänger*innen seien die Neue Rechte, die es nur auf Eskalation und den Sturz der Regierung abgesehen hätten, heizten Regierungsvertreter den Konflikt an. Und Justizminister Iván Lima verplapperte sich mit der Äußerung, schon 2019 sei Evo Morales für die Konflikte und Toten verantwortlich gewesen. Warum sie dann angeklagt sei, fragte die damalige Übergangspräsidentin Jeanine Añez aus dem Gefängnis heraus, und nicht Evo Morales? Vielleicht, weil sie damals ihren Innenminister mit seiner harten Linie der Repression gewähren ließ, während die aktuelle Regierung – trotz zunehmender Forderungen von Transportfirmen, Unternehmerverbänden und auch der eigenen Basis einzugreifen – auf Ermüdung bei den Blockierenden setzt.

Dafür mag sprechen, dass die Basis von Evo Morales, der selbst jede Verantwortung für die Blockaden zurückweist, obwohl er öffentlich die Bedingungen für deren Beendigung nennt, weit schwächer ist als in der Zeit der Übergangsregierung. Viele der Blockaden werden nicht von Anwohner*innen vor Ort organisiert, sondern von angereisten Delegationen. Nicht wenige auch gegen Bezahlung oder unter der Androhung, sonst zu Hause das eigene Kokafeld zu verlieren. Und wo trotzdem Personal fehlt, wird wie schon 2020 auch der Berg am Straßenrand gesprengt, um die Fahrspur mit Felsbrocken zu blockieren.

Sorgen um die Wirtschaft und den Karneval

Nachdem am 10. Tag die Zahl der Blockaden wieder leicht rückläufig war und die Verhandlungen im Parlament schneller als erwartet voran gingen, meldete sich auch wieder das Verfassungsgericht zu Wort. Man dürfe nicht weiter verhandeln, ordneten die Richter an, bevor das Parlament ihre sich selbst erteilte Amtszeitverlängerung nicht bestätigt hätte. Der Umgang mit der Amtszeitverlängerung war einer der beiden noch offenen Punkte der Verhandlungen, dessen Ergebnis und einem möglichen parlamentarischen Absetzungsverfahren man mit dem Urteil in eigener Sache anscheinend zuvor kommen wollte. Und während Wirtschaftsminister Marcelo Montenegro ökonomische Verluste von 680 Millionen Dollar beklagte und meinte, die Volkswirtschaft verkrafte keine weiteren Blockaden mehr, brandmarkte Präsident Luis Arce die Proteste als Attentat gegen den bevorstehenden Karneval. Seine Sorge dabei dürfte etwa angesichts der Stornierungen von Hotelbuchungen auch durchaus wirtschaftlicher Natur sein.

Während die Hauptverkehrsachsen des Landes noch blockiert sind und hundert Meter weiter Abgeordnete im Hungerstreik sind, eröffnet die Kultusministerin Sabina Orellana (im hellen Rock in der Mitte) mit einem traditionellen Ritual den Karneval, Foto: Julia Gabriela Strack Diaz

Am 11. Tag blockierten dann Transportunternehmen mit Bussen und Lastwagen kurzzeitig die Innenstadt von La Paz. Ihre – durchaus landesüblich – paradoxe Forderung: Die Staatsgewalt solle endlich eingreifen und die Straßenblockaden auflösen. Ankündigungen sozialer Organisationen, dies selbst zu tun, waren bis dahin weitgehend Ankündigungen geblieben. Auch Strafverfahren sind derzeit eher die Ausnahme. Nicht so wie Ende 2022, als zahlreiche Verfahren gegen Oppositionelle in Gang gesetzt worden waren, die gegen die Verschiebung der Volkszählung in Santa Cruz wochenlang den Verkehr lahm gelegt hatten. Schließlich sind demnächst die konkurrierenden Fraktionen der Regierungspartei nach der Klärung des Führungsanspruchs wieder aufeinander angewiesen, will man die kommenden Wahlen gewinnen.

Eine vorläufige Einigung und Blockadepause

Immer wieder musste die Polizei bei handgreiflichen Auseinandersetzungen vor dem Gebäude des Vizepräsidenten einschreiten, in dem die Verhandlungen stattfanden, Foto: Peter Strack

Am 12. Tag der Blockaden meldete sich die interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu Wort, um die Regierung aufzufordern, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit und friedliche Demonstrationen zu achten. Die Blockierenden sollten von der Regierung geschützt werden. Bei Räumungen hatte es Verletzungen bei einzelnen Demonstrierenden gegeben, aber auch Dutzende Polizisten mussten wegen Steinwürfen ins Krankenhaus gebracht werden. Gleichzeitig forderte die CIDH den bolivianischen Staat auf, die Rechte der gesamten Bevölkerung auf Unversehrtheit, das Leben und die Versorgung der Gesamtbevölkerung zu garantieren. Doch die stünde in der Diktion der CIDH der Ausübung des Demonstrationsrechtes entgegen.

Der 12. Blockadetag war aber doch der Tag einer Einigung unter den Parteien über das Gesetz zur Durchführung der Richterwahlen. Mit Ausnahme der Abgeordneten, die Fernando Camacho nahe stehen, dem inhaftierten Gouverneur von Santa Cruz. Denn die Entscheidung über den strittigen Punkt, ob die derzeitigen obersten Richter im Amt bleiben dürften, wurde erst einmal verschoben. Die Regierung signalisierte mögliche Zugeständnisse für den Fall, dass das Parlament eine Reihe von Auslandskrediten genehmigen werde. Das eine hat inhaltlich mit dem anderen zwar wenig zu tun, zeigt aber Prioritäten, bzw. den klammen Zustand der Staatsfinanzen. Und am Abend kündigte dann auch die Anhängerschaft von Evo Morales an, die Straßenblockaden erst einmal aufzulösen. An elf Blockadepunkten wollen sie allerdings noch warten, bis Präsident Arce das Gesetz auch unterzeichnet. Sie trauten ihm nicht. Vermutlich aber nur noch eine Frage weniger Tage. Auf jeden Fall soll am Regierungssitz in La Paz eine Mahnwache eingerichtet werden. Dabei sind sie sich dann auch wieder mit der dem Präsident Arce nahestehendem Teil der Kleinbauernorganisation einig, die eine „friedliche Besetzung des Parlaments“ bis zur Verabschiedung des Gesetzes angekündigt haben.

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