vonPeter Strack 26.08.2017

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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„Wofür all unsere Opfer?“, fragt Maria Luisa, eine Mutter von 12 Kindern aus dem Indigenen Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro Sécure (TIPNIS) in einem Interview mit der bolivianischen Tageszeitung Página Siete. Vor sechs Jahren hatten rund anderthalb Tausend Tieflandbewohner in einem 500 Kilometer langen Marsch nach La Paz die Verabschiedung eines Gesetzes erreicht, dass die einzigartige Naturreserve und das letzte Rückzugsgebiet der Yuracaré, Mojeño Trinitario und Chimane vor einem Straßenbau hatte schützen sollen.

„Evo Morales sagt, er sei ein Indígena und würde auf das Volk hören“, fährt Maria fort, „doch er arbeitet nur für seine Siedler.“ Wie schon 2011 bezeichnet Evo Morales die Gegner des Straßenbaus, der doch der Versorgung und Entwicklung der Indígenas im TIPNIS mit Schulen und Krankenstationen dienen solle, als Handlanger der USA.

Die Regierung wolle den Straßenbau mitten durch das Herz des TIPNIS nur, um die Kokaanbauflächen auszubauen, sowie Erdöl und Erze auszubeuten, entgegnet Fernando Vargas, damaliger Anführer des historischen Marsches. Irgendwann werde man sicher auch in den Naturschutzgebieten nach Erdöl forschen, bestätigte der Vizepräsident Álvaro García Linera diese Befürchtungen. Dem das Detail hinzuzufügen ist, dass „irgendwann“ bereits heute ist..

Wie sich mancher Kokabauer die „Entwicklung“ vorstellen mag, zeigt das Beispiel des 17jährigen Mojeño Trinitario Joaquín. Der pflückt im sogenannten Polígono 7 jetzt für einen dieser Siedler Koka, wie Beatriz Layme für Página Siete berichtet. Für das Roden neuen Landes bekämen die Indígenas 50 bis 100 Bs (umgerechnet 7 bis 14 Euro) pro Tag. Die 50 Bolivianos entsprechen in etwa dem gesetzlichen Mindestlohn, allerdings ohne Sozialversicherung.

Das Polígono Siete gehörte ursprünglich auch zu dem unter dem Militärpräsidenten Barrientos 1965 geschaffenen Naturpark. Der war dann 1990 vom gewählten Staatschef Jaime Paz Zamora darüberhinaus zum indigenen Territorium erklärt worden. Da die Siedler trotzdem immer weiter vordrangen, kam es schließlich zu einem Kompromiss. Das Polígono Siete wurde aus dem TIPNIS ausgegliedert. Dafür verpflichteten sich die Kokabauern, über diese „rote Linie“ nicht hinauszugehen. Verhandlungsführer der Kokabauer damals: Evo Morales.

Der TIPNIS ist dabei nicht die einzige Region, in der Extraktivismus mit dem Schutz von Natur und indigenen Kulturen derzeit im Konflikt stehen. Es ist aber die Region, die den stärksten Symbolcharakter und Bekanntheitsgrad hat und deshalb geeignet ist, selbst rechte Oppositionsparteien zu mobilisieren, die sich ansonsten kaum für Natur oder indigene Völker interessieren.

Inzwichen bekommen die traditionellen TIPNIS-Gemeinden auch Unterstützung vom legendären Bauernführer Felipe Quispe aus dem Hochland am Titikakasee. Lange Zeit im politischen Abseits, wurde er an die Spitze einer Protestbewegung von Achacachi gewählt, die die Absetzung eines MAS-Bürgermeisters fordert, den sie der Korruption beschuldigen.

Der Konflikt im TIPNIS bietet nun vielen Gelegenheit, ihrer Enttäuschung und ihrem Unmut gegenüber der Regierung Ausdruck zu verleihen. Und den wachsenden Unmut nicht wahrnehmen zu wollen, ist schon früheren Regierungen in Bolivien zum Verhängnis geworden.

„Durch die Koka ist Evo an die Regierung kommen, wegen der Koka wird seine Macht zu Ende gehen“, meint ein Lokalpolitiker aus den Yungas de Vandiola, der traditionellen Kokaanbauzone im Departamento Cochabamba schon seit der Kolonialzeit. Deren Bewohner wehren sich derzeit gegen die Ausrottung ihrer Kokapflanzungen. Eine von vielen Regionen, ehemals Hochburg des MAS, in denen der Präsident durch Klientelpolitik an Legitimität verloren hat und damit die Errungenschaften des gesamten Wandlungsprozess und der neuen bolivianischen Verfassung in Bolivien in Frage stellt oder gar gefährdet werden.

Die Methode, Fakten zu schaffen, um die Gesetze anschließend daran anzupassen, hat der Kokabauernführer wieder nach der Einigung von 2011 auf die Unberührbarkeit des TIPNIS praktiziert. Vizepräsident García Linera wiederholt zwar gebetsmühlenartig, das Gesetz hätte verboten, auch nur einen einzigen Ast aufzuheben. Doch in der Zwischenzeit wurden nicht nur Schulen oder Gesundheitsstationen errichtet, sondern auch neue Wege im TIPNIS erschlossen.

Über diese dringen die Kokabauern immer weiter in den TIPNIS vor. Der umstrittene Straßenbau wurde bis an die Grenze des TIPNIS herangeführt, mit dem Brückenbau im umstrittenen Territorium bereits begonnen. Das sei ihr Territorium, behaupteten Siedler, als sie Pressevertreter daran hindern wollten, die illegalen Bauarbeiten zu dokumentieren.

Damit die millionenschweren Investitionen nicht als Ruinen stehen bleiben, folgte vor wenigen Wochen ein Gesetz zur Ausweitung der legalen Kokaanbauflächen in der Chapare-Region, deren Koka vorwiegend in den Drogenhandel geht, und Mitte August der von der Zweidrittelmehrheit des MAS durchgepeitschte Parlamentsbeschluss, die „Unberührbarkeit“ des TIPNIS aufzuheben.

Seitdem gibt es kaum einen Tag, an dem im Land gegen den Beschluss protestiert wird. In kleinen Gruppen zwar. Zumeist Jugendliche, wie Studenten, die bei einem Vortrag des Vizepräsidenten an der Universität von Santa Cruz lautstark und jenseits der realen Vorkommnisse „El TIPNIS no se toca“ skandierten, oder die Jurastudentin, die am Ende der Verleihung einer Auszeichnung der lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften FLACSO für Evo Morales noch das Wort ergreifen konnte, bevor der staatliche Fernsehsender die Übertragung beendete. Währenddessen wurde weitere Demonstranten vor der Tür von Polizisten mit Tränengas auseinandergetrieben.

Aber auch prominente Ex-Regierungsmitglieder des MAS, wie der renommierte Ex-UNO-Botschafter Pablo Solón melden sich zu Wort, obwohl die Regierrung versucht, ihn mit an den Haaren herbeigezogenen Prozessen zum Schweigen zu bringen.

„Sie verdienen keinen Respekt, sie sind eine kleine Bande von Politikern und NGOs, die sicher Geld aus dem Norden, aus den USA und Europa bekommen“, kommentierte  García Linera. Seine These, die Kritik an Morales sei rassistisch motiviert, weil Morales ein Indigena sei, verfängt aber kaum noch.

Zu deutlich ist die Verletzung der indigenen Rechte durch die Regierung, und die Diskriminierung der TIPNIS-Bewohner durch die Siedler, die ihre naturnahe Lebensweise nicht verstehen. Und zu stark der Widerspruch der auf Ausbeutung der Bodenschätzte setzenden Regierungspolitik gegenüber der eigenen Rhetorik vom „Guten Leben“ und der Natur, die man auf der internationalen Bühne beansprucht, vor dem zerstörerischen Kapitalismus schützen zu wollen.

Dabei ist der Widerstand gegen den Straßenbau im TIPNIS alles andere als einvernehmlich. Auch nicht unter den Tieflandbewohnern. Viele wünschen den Straßenbau. Aber ihre Bedingung, dass über die Straße keine weiteren Siedler eindringen, scheint wenig realistisch. Pedro Vare, der neugewählte Präsident des Verbandes der Indigenen Tieflandvölker CIDOB, der vor Jahren selbst noch Opfer der gewaltsamen Auflösung des Protestmarsches für den Erhalt des Naturschutzgebietes wurde, erscheint heute in den blau-schwarz-weißen Farben des MAS und mit dem Abbild von Evo Morales auf der Brust im Fernsehen.

„Unsere Gemeinden müssen sich entwickeln. Wir sind doch keine Tiere oder schlichte Vögel, die nur von der Natur leben”, argumentiert er heute für den Straßenbau. Und er sei froh, dass er jetzt im TIPNIS den Staatssender empfangen könne, um sein Recht auf Information wahrnehmen zu können. Die jungen Umweltaktivisten aus der Stadt, die den Straßenbau kritisierten, sollten doch in den TIPNIS kommen und sich von den Moskitos stechen lassen.

Wer dies bereits getan hat, ahnt, dass die Erhaltung eines tropischen Regenwaldes ohne Stechfliegen schwer denkbar ist. Es stellt sich aber auch die Frage, warum alle Personen, auch die indigenen Familien und Gemeinden, die für die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensweise im Einklang mit der Natur bereit sind, die Moskitos in Kauf zu nehmen, sich dem dominanten naturfeindlichen Entwicklungsmodell und Lebensstil unterwerfen sollen. Und warum im plurinationalen Staat Bolivien nicht auch für sie noch ein Platz sein sollte. Davon hätte am Ende nicht nur die Natur, sondern auch die von Beton und Asfalt umgebenen Städter einen Nutzen.

Fotos: Industrieller Bereich, Baumaßnahmen am Schutzgebiet, Protestdemo und Karte: Página Siete

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