vonPeter Strack 22.07.2022

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Mit der 2009 verabschiedeten neuen Verfassung Boliviens wurden die Mitspracherechte der indigenen Bevölkerung erweitert. So gibt es autonome indigene Selbstverwaltungszonen und spezielle Wahlbezirke für indigene Abgeordnete im nationalen wie in den regionalen Parlamenten. Auch im Wahlgerichtshof sind Posten für Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung reserviert. Zudem gibt es in der Tieflandregion Santa Cruz ein Sekretariat für die fünf angestammten indigenen Völker. Ihre Leiterin wurde nicht vom rechtsgerichteten Gouverneur, sondern von den Guaraní, Chiquitano, Guarayo, Yuracaré-Mojeño sowie Ayoréode ausgewählt.

Doch der Handlungsspielraum ist begrenzt. Nach Rücktritten haben im nationalen Wahlgerichtshof die Vertreter*innen der Regierungspartei wieder die Kontrolle übernommen. Auch der Justiz hat der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Diego García-Sayán jüngst fehlende Unabhängigkeit attestiert und Reformen eingefordert. Und nach wie vor kontrolliert die Zentralregierung über 80 Prozent der staatlichen Mittel und behält sich vor, die jeweiligen Haushaltsentwürfe der dezentralen und laut Verfassung eigentlich autonomen Verwaltungseinheiten zu genehmigen.

Im Regionalparlament herrscht zwischen den Abgeordneten der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) des bolivianischen Präsidenten Luis Arce Catacora und der Regionalpartei Creemos des Gouverneurs Luis Fernando Camacho Vaca trotz 17% mehr Stimmenanteil von Creemos aufgrund der territorialen Sitzverteilung ein Patt. So wurden die fünf indigenen Abgeordneten zum Zünglein an der Waage und zum politischen Streitobjekt.

Judith Sánchez Rivera, die Guaraní Juristin beim Wahlgerichtshof von Santa Cruz, Foto: P.Strack

Die indigenen Abgeordneten werden zwar nach den jeweils eigenen Sitten und Gewohnheiten gewählt, was auch eine jederzeit mögliche Abwahl beinhaltet, sie benötigen aber die Anerkennung durch den Wahlgerichtshof. Und dadurch gerät Judith Sánchez Rivera als Schiedsrichterin mitten in die Auseinandersetzungen. Die Rechtsanwältin ist im Chaco in der Gemeinde Yapiroa am Parapetí-Fluss aufgewachsen, die zum autonomen indigenen Territorium Charagua Imbayae gehört. Ihren Titel als Juristin hat sie an der staatlichen Universität Gabriel René Moreno von Santa Cruz erworben. „Danach habe ich die indigenen Organisationen und Gemeinden bei der rechtlichen Konsolidierung ihrer angestammten Territorien unterstützt. Deshalb haben sie mir vertraut. Trotzdem war ich am Ende überrascht, dass ich vom nationalen Parlament schließlich zum Mitglied des Wahlgerichtshof von Santa Cruz gewählt wurde. Denn ich war nie parteipolitisch aktiv. Aber nach den Konflikten war es noch nötiger, dass Personen diese Ämter besetzen, die nicht aus dem politischen Spektrum kamen, damit die Bevölkerung wieder Vertrauen gewinnen kann.“

Hoher Erwartungsdruck nach den manipulierten Wahlen von 2019

Sánchez Rivera hat am 19. Dezember 2019 ihr Amt angetreten. Der Wahlgerichtshof stand nicht nur wegen der Manipulationen bei den vorangegangenen Wahlen unter hohem Erwartungsdruck, sondern auch weil die Zahl der Mitarbeitenden in großen Departamentos wie Santa Cruz genauso groß ist wie in den kleinen. 29 Personen mussten bei den nationalen Neuwahlen 2020 die Wahlunterlagen in 9000 Wahlbüros bis in die letzten Ecken der Region bringen und später auszuzählen. „Bei den späteren Regional- und Kommunalwahlen Anfang 2021 waren es bereits 19.000 Protokolle“, so Sánchez Rivera. „Da konnten wir maximal 2 Stunden pro Tag schlafen. ‘Wie bin ich nur darauf gekommen, mich auf dieses Amt zu bewerben?’, dachte ich damals. Bei diesen Wahlen wurden dann auch die indigenen Abgeordneten für das Regionalparlament gewählt. Bei den Chiquitano kam es zu einer Spaltung. Der Kazike Carlos Guasáse hatte in Concepción erfolglos für den Stadtrat kandidiert. Nun beanspruchte er den Abgeordnetensitz im Regionalparlament, obwohl die Vertreterin bereits vorher gewählt worden war. Dieser Konflikt konnte bis heute nicht gelöst werden, obwohl klar ist, dass Guasáse nicht die Mehrheit der Gemeinden hinter sich weiß.“

Chiquitanas bei einer Versammlung in San José,, Foto: Kamila Paredes Faldin

San José de Chiquitos: Traditionen in rechtlicher Grauzone

Wie erwähnt, sollen die indigenen Abgeordneten gemäß der Sitten und Gebräuche gewählt werden. Im Munizip San José gibt es Turubó. Der Kleinbauernverband entstand im Rahmen eines Entwicklungsprojektes. Ihm gehören zwar auch fast ausschließlich Chiquitano an. Doch die traditionelle Organisationsform der Chiquitano in San José ist das Cabildo Indigenal. Se geht auf die Zeit der Missionssiedlungen der Jesuiten im 18. Jahrhundert zurück. Doch Turubó und nicht das Cabildo ist an dem Auswahlprozess für den indigenen Parlamentssitz beteiligt. Das liegt auch an dem geringen Verständnis für die indigenen Kulturen des Tieflands bei der Gestaltung der Gesetze und Regeln. Turubó ist anders das Cabildo Indigenal rechtlich registriert und hat schriftliche Statuten. Deshalb sei Turubó Mitglied des Dachverbandes der Chiquitano-Gemeinden OICH, der wiederum die indigenen Abgeordneten bestimmt, sagt die Juristin Sánchez Rivera: „Wir mischen uns da als Wahlgerichtshof nicht ein. Bei den Guaraní ist das anders. Da sind die traditionellen Capitanías Teil der Vertretungsstruktur des Dachverbandes des Guarani-Volkes (APG). Das hat auch damit zu tun, dass die Cabildos in der Chiquitanía stärker von den Missionaren beeinflusst und kontrolliert waren, während die Guarani rebellischer waren.“

Das Cabildo Indigenal bei einer Versammlung der Chiquitano von San José, Foto: Kamila Paredes Faldin

Indigene Organisationen – von den Parteien geliebt, umworben oder unter Druck gesetzt

All das wäre zu lösen, wenn die indigenen Gemeinden vor Ort ihre Statuten anpassen würden, meint Sánchez Rivera. Sie seien jetzt die „geliebten Kinder“ von allen. Spätestens seit den Konflikten um den Straßenbau durch das indigene und Naturschutzgebiet TIPNIS hat die regierende MAS jedoch eine Strategie der Kooptation indigener Gemeinden begonnen. Dort wo sich Widerstand regte wurden – zum Teil mit Unterstützung der Polizei – Büros besetzt oder Parallelorganisationen geschaffen. Regierungsnahe oder Mitglieder der Basisorganisationen, die unzufrieden waren, weil sie selbst nicht als Sprecherin oder Sprecher gewählt worden waren, wurden mit Fördermitteln belohnt. Verbotenerweise gingen Gelder auch auf Privatkonten.

Geld auch auf Privatkonten, Besuch von Evo Morales bei der regierungsnahen CIDOB nach der Spaltung

Die regierungskritischen Gemeinden und Organisationen wurden dagegen übergangen. Man versuchte ihnen sogar die Förderung durch internationale Geldgeber abzuschneiden, um sie auf Regierungslinie zu bringen.

Judith Sánchez formuliert das zurückhaltender: „Das Problem wurzelt in der Einmischung der politischen Parteien in die internen Prozesse der indigenen Gemeinden. Bei den Yuracaré-Mojeño und dem Ayoréo-Volk ist das offensichtlich. Es hat auch mit den jeweiligen direkten Kontakten der Sprecher*innen zu den staatlichen Autoritäten zu tun. Man muss dann klar unterscheiden zwischen den regulär nach den Statuten gewählten Vertreter*innen und den sogenannten ‘autoconvocados’, die sich mit Unterstützung eines Teils der Gemeinden ‘selbst organisieren’ und Parallelorganisationen schaffen.“

Parallelorganisationen: Wer sind die legitimen Vertreter*innen?

Derzeit gibt es einen Konflikt, wer die legitime Vertretung der Ayoréode im Regionalparlament ist. Der Wahlgerichtshof steht dabei im Verdacht, nicht die Neutralität gewahrt zu haben.

Tatsächlich sind wir bei beiden Versammlungen gewesen“, erklärt Sánchez Rivero. „In der einen, der in meinen Augen legitimen Organisation, haben sie in geheimer Abstimmung eine neue Vertretung für das Regionalparlament gewählt. Und in der gleichen Sitzung wurde eine Ersatzperson für ihn innerhalb der Organisation gewählt. Der Irrtum war jedoch, dass sie in der gleichen Versammlung zwei neue Gemeinden zugelassen haben. Das hätte aber in einer vorherigen Sitzung geschehen müssen, damit sie wahlberechtigt sind. Wir haben sie deshalb aufgefordert, eine neue Versammlung anzuberaumen, um die Vertretung für das Regionalparlament zu wählen. Aber bevor diese stattfand, wurde eine Parallelorganisation gegründet. Diese hat dann Straßen blockiert, mit Abgeordneten gesprochen und unsere Entscheidung angefochten. Die wurde damit an den Nationalen Wahlgerichtshof weitergeleitet. Ohne die Unterlagen zu prüfen hat dieser dann dem Einspruch stattgegeben, die Parallelorganisation anerkannt und uns angewiesen, deren Versammlung zu begleiten.“

In den Mühlen der Wahlgerichtsbarkeit

Ist das nun eine juristische Fehleinschätzung gewesen oder gab es parteipolitische Einflussnahme?

Beides dürfte eine Rolle gespielt haben“, meint Sánchez Rivera. „Der oberste Wahlgerichtshof hätte besser die Akten studiert. Ich als indigene Vertreterin habe meine abweichende Meinung dokumentiert und mich nicht bereit erklärt, seine Entscheidung umzusetzen. Die anderen Mitglieder des regionalen Wahlgerichtshofs hatten damit aber keine Probleme und sind deshalb zur Versammlung der Parallelorganisation gegangen. Damit haben sie jedoch das Gesetz 026 gebrochen, das die Achtung der internen Regeln und die Nichteinmischung des Staates vorschreibt. Ergebnis ist die Wahl einer parallelen Vertreterin, die jetzt diesen Abgeordnetensitz verteidigt. Ich habe auch nicht ihre Akkreditierung unterschrieben. Die legitime Gruppe hat wiederum Einspruch beim nationalen Wahlgericht erhoben. Erst da hat dieser bei uns die Unterlagen angefordert, dann in einem Bericht seine Irrtümer schöngeredet, seine Entscheidung widerrufen und an uns die Entscheidung zurückverwiesen, wer die legitime Vertretung ist. Wenn Menschen, die politische Ämter ergreifen, beginnen, ihre persönlichen Interessen zu verfolgen und dabei ihre soziale Basis vergessen, dann verlieren sie die Orientierung, verlieren sich bei den Mächtigen und es entsteht Streit. Im Fall der Ayoréode gab es inzwischen die Neuwahlen, die wiederum angefochten wurden und alles liegt erneut beim Obersten Wahlgerichtshof. 45 Tage hatte das Gericht für seine Entscheidung. Doch die steht nun schon wieder zwei Monate aus. Bei den Yuracaré hat es sechs Monate gedauert.“

Dorfversammlung in der Chiquitanogemeinde Quituquiña, Foto: P.Strack

Manchen steigt das Amt zu Kopf, sie wollen ihrer Basis nicht mehr folgen“

Janeth Menacho, die in der Regionalregierung von Santa Cruz eine Art Ministerin für die indigenen Völker ist und selbst zum Volk der Yuracaré-Mojeño gehört, scheint allerdings keine allzu großen Hoffnungen in die indigenen Abgeordneten zu setzen:

Es sind zwar Abgeordnete der indigenen Völker, aber sie haben nicht die gleichen Chancen. Immer sind auch welche dabei, die einer bestimmten Partei folgen. Die einen stimmen mit der MAS, andere mit Creemos und schon steht der Parteienstreit im Mittelpunkt. Eigentlich schulden sie ihren Völkern Loyalität, aber wenn sie diese Posten haben, steigt manchen das zu Kopf und sie wollen ihrer Basis nicht mehr folgen. So war es im Fall der Abgeordneten der Chiquitano, mal versuchte sie es mit der einen Partei, mal mit der anderen. Am Ende stand sie alleine da. Dann hat sie versucht, wieder eine Anbindung zu ihrer Basis zu bekommen. Aber verschüttete Milch kann man nicht mehr aufheben. Und es ist die Organisation, die den größten Schaden davon trägt,“ sagt die für ihren Posten in der Regionalregierung beurlaubte Lehrerin.

Janeth Menacho vom Volk der Yuracaré-Mojeño

Direkt mit den Gemeinden statt mit ihren gewählten Vertretungen reden?

Wegen dem Parteienstreit komme Bolivien nicht voran. Es seien die Politiker*innen, die die Spaltungen unter den Indígenas verursachen, meint Menachos Berater Timoteo Yacuiri. Es gibt derzeit drei parallele Dachverbände der Tieflandvölker (CIDOB). Manchmal bekomme die Regionalregierung von den drei Organisationen verschiedene Anträge für die gleichen Gemeinden. Man müsse direkt mit den Leuten vor Ort reden, am besten direkt mit den Dorfbewohner*innen. Dann bestünden die besten Chancen, das die Unterstützung bei den Leuten ankommt, meint der Guaraní Yacuiri.

Auch die regierungsunabhängige CIDOB orgánica setzt auf direkte Arbeit in den Gemeinden. Hier ein beginnendes Agroforstprojekt in Quituquiña, u.a. mit Kaffee, Foto: P.Strack

Wir bringen die Projektvorschläge aus den Gemeinden in die Planungen ein“, erklärt seine Chefin. „Diese Vorschläge werden im Regionalparlament verabschiedet und ich muss mich dann wieder um die Umsetzung kümmern. Derzeit ist das in meiner Region ein Hühner- und ein Fischzuchtprojekt, ein Nähprojekt, eine Büffelzucht sowie ein Kakao-Projekt. Die einzelnen Projekte unterscheiden sich je nach Region. Mit dem Forschungsinstitut CIAC setzen wir auch ein Projekt zum Anbau von Kochbananen um, für die es inzwischen in Santa Cruz einen Markt gibt. Wir fördern den Anbau von Ananas, Maracuya, Copoazu, Mango und Kaffee…“

Öffentliche Gelder zum parteipolitischen Stimmenfang

Jüngst hat die Zentralregierung den bereits genehmigten Etat der Regionalregierung reduziert. Das hat auch zu Kürzungen bei den Projekten für die indigenen Völker geführt, berichtet Menacho, die damit überhaupt nicht einverstanden ist. Es seien nicht nur die Abgaben aus den Erdgasverkäufen, sondern auch die Überweisungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt reduziert worden.

Jeder weiß, dass die nationale Regierung Luis Fernando Camacho nicht als Gouverneur wollte. Aber er wurde gewählt. Da kann er sich noch so anstrengen. Nun sagen die Leute, dass er nichts für sie tut. Wir haben die ganze Zeit mit ihm, den Subgouverneuren und den Bürgermeister*innen koordiniert, die unterschiedlichen Parteien angehören. Wir indigene Völker sind nicht parteipolitisch gebunden. Egal von welcher Partei Unterstützung kommt, ist diese willkommen.“

Das Rahmengesetz zu den regionalen und indigenen Autonomien aus dem Jahr 2010 sieht eine Umverteilung der Mittel vor, damit die dezentralen Behörden ihre in der Verfassung neu hinzugekommenen Aufgaben erfüllen können. Doch die Verhandlungen zu diesem sogenannten „Fiskalpakt“ blieben bislang ohne Ergebnis.

Die Regionen könnten doch selbst Steuern einführen, argumentierte die Zentralregierung. Als der Bürgermeister von La Paz dieses Jahr die Umlage für Stadtreinigung um umgerechnet zwischen 10 und 25 Eurocent pro Monat und Haushalt erhöhen wollte, waren die Anhänger*innen der MAS die ersten, die wegen dieses „Attentats auf das Familieneinkommen“ einen Hungerstreik organisierten und im Stadtrat die Erhöhung zu Fall brachten.

Und damit die zentralstaatlich angeordneten Kürzungen nicht gerade in den von der MAS regierten Munizipien in Santa Cruz wirksam werden, hat es in den letzten Monate zum Teil wochenlange Blockaden wichtiger Überlandstraßen gegeben, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte. Die Infrastrukturprojekte in Santa Cruz seien blau gefärbt, verkündete Präsident Luis Arce Catacora stolz bei einer der Einweihungen. Das bezieht sich nicht nur auf die verbreitete Praxis, neue Gebäude mit den Farben der regierenden Partei anzustreichen, sondern auch auf die Strategie, mit öffentlichen Geldern die Unterstützung der Wähler*innen für sich zu sichern. Vor den Regionalwahlen hatte Präsident Arce die Bevölkerung gewarnt, sich für solche Parteien zu entscheiden, mit denen die Zusammenarbeit schwierig sei.

Auch wegen der anhaltenden starken Migration in das Departamento Santa Cruz hätte es schon lange eine Umverteilung nicht nur der Parlamentssitze, sondern auch der Staatsfinanzen geben sollen. Die dafür nötige Volkszählung wurde jedoch nicht nur wegen der COVID-Pandemie immer wieder hinausgeschoben: Zuletzt auf das Jahr 2024, so dass die Ergebnisse für die nächsten Wahlen nicht mehr relevant wären.

Landkonflikte: „Wir werden uns nicht vertreiben lassen“

Was noch grün ist… Landschaft in Chiquitos bei Chochis, Foto: P.Strack

Besonders benachteiligt sehen sich die indigenen Tieflandvölker durch die zentralstaatlichen Instanzen bei der Landfrage (siehe hierzu auch diesen früheren Beitrag auf latinorama). Das in der Verfassung zugesicherte eigene Territorium ist essentiell für das Überleben ihrer Kultur. Und deshalb gibt Janeth Menacho bei diesem Thema im Gespräch auch jegliche diplomatische Zurückhaltung auf:

Die Invasion der Interculturales (Siedler aus dem Hochland) in die indigenen Territorien richtet großen Schaden an. Was noch grün ist, will die Regierung an diese Gruppen überschreiben. In meiner Region versuchen sie es auch. 54 Jahre lebe ich schon dort, und nie vorher hat es so etwas gegeben. Ob mit Dokumenten der Agrarreformbehörde oder ohne deren Genehmigung fordern die Landbesetzer, dass das Agrarreforminstitut ihnen dieses Land zuschreibt. Obwohl sie nur daran interessiert sind, die Grundstücke später zu verkaufen. Das (interinstitutionelle in der Verfassung dafür vorgesehene) Departamentale Agrarkomitee hätte die Grenzen klären müssen. Das ist aber nicht geschehen. Denn es hat keine Zusammenarbeit mit dem Agrarreforminstitut als oberster Autorität in Landfragen und mit der Forstbehörde gegeben. Die Agrartribunale funktionieren auch nicht, wie sie sollen. Denn die aktuelle Regierung handelt nur im Interesse der Anhängerschaft der eigenen Partei. Aber wir werden uns nicht vertreiben lassen. Wir koordinieren mit dem Ministerium für Landfragen, damit die Regierung den Menschen zuhört. Mancherorts funktioniert das auch, aber nur mit Druck, mit Demonstrationen oder Straßenblockaden. Wenn die indigenen Dachverbände und die staatlichen Stellen versagen, dann müssen die Gemeinden ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wenn nötig mit Pfeil und Bogen können die Landbesetzer rausgeworfen werden.“

Statt Polizei gegen die indigenen Verteidiger*innen der Wälder, des Wassers und des Sauerstoffs einzusetzen, hätten diese vielmehr Kompensationszahlungen verdient, meint Menacho, zum Beispiel um damit Aufforstungen zu finanzieren. (Zur Verteidigung der natürlichen Ressourcen im Naturpark von Tucabaca siehe diesen Bericht von Zoila Zeballos).

Konflikte für die Regierung an mehreren Fronten

Mitte Juli hatte die Regierung nach sieben Jahren Pause erstmals wieder ein nichtöffentliches interinstitutionelles Treffen zur Landfrage in den indigenen Territorien einberufen. Allerdings nur mit dem regierungsnahen Dachverband sowie Basisvertreter*innen der indigenen Territorien. Doch selbst dort entlud sich lange angestauerter Unmut. Seit 20 Jahren gebe es keine Fortschritte bei der juristischen Absicherung der indigenen Territorien, dagegen immer wieder die Vergabe von Landtiteln für Siedler aus dem Hochland, kritisierte Justo Molina, Präsident der regierungsnahen CIDOB. Es mangele an politischem Willen (siehe hierzu diesen weiteren Beitrag auf latinorama).

Justo Molina von der regierungsnahen CIDOB spricht auf dem interinstitutionellen Treffen zu den indigenen Territorien,, Foto: Erwin Melgar

Anders als die Siedler würden sie nicht gleich die Straßen blockieren und Ultimaten setzen. Aber er hoffe, dass der anwesenden Landwirtschaftsminister die Vereinbarungen dem Präsidenten vorlegen werde. Der war so wie einige andere Autoritäten anders als ursprünglich angekündigt nicht erschienen. Anscheinend habe man den Ernst der Lage noch nicht erkannt, so Molina.

Der Präsident des Dachverbandes der Guaraní (APG) kündigte im Vorfeld gegenüber der Zeitung „El Andaluz“ Demonstrationen an, falls auf dem Treffen nicht endlich konkrete Aktionen gegen die illegalen Landnahmen auf indigenen Territorien vereinbart würden. Und wie es aussah, hätten sich zahlreiche Gemeinden der Chiquitanía und der Amazonasregion dem angeschlossen.

Angesichts zunehmender Proteste gegen die politische Verfolgung von Oppositionellen mit Hilfe der Justiz, angesichts der Mobilisierung der Regionalregierung und ziviler Organisationen von Santa Cruz gegen die erneute Verschiebung der Volkszählung, der Unzufriedenheit des informellen Handels, einer wichtigen Basis der Regierungspartei, gegen Antischmuggelmaßnahmen, angesichts der fast wöchentlich bekannt werdenden Skandale um die Verwicklung staatlicher Autoritäten in Drogenhandel oder Korruption, und angesichts der offen zu Tage getretenen internen Konflikte innerhalb der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) mit den Gefolgsleuten des Ex-Präsidenten Evo Morales, angesichts der Protesten der Siedler aus dem Hochland, denen die Landvergabe im Tiefland noch viel zu langsam geht, kann die Regierung wenig Interesse daran haben, dass auch die indigenen Organisationen von Santa Cruz wieder in die Offensive bei der Verteidigung ihrer Rechte gehen. Vereinbart wurde auf dem Treffen in Santa Cruz schließlich der Abschluss der Landtitulierungsprozesse für die indigenen Territorien bis spätestens Ende 2024 und das strikte Vorgehen gegen Landbesetzungen. Eigentlich ein lange überfällige Umsetzung geltender Gesetze. Wenn es endlich geschähe, wäre viel gewonnen.

Wenn es endlich geschähe, wäre viel gewonnen: Blick in ein Chiquitano Haus, Foto: Ana Diaz

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