vonChristian Ihle 28.10.2009

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Liegt es am Ende gar am eigenen Alter? Früher hatte ich Element Of Crime immer als Altherrenmusik missachtet, deren bemühte Arrangements mir zu gesetzt schienen. Doch gerade in den letzten Jahren konnte ich mich Element Of Crime und Sven Regener nicht mehr entziehen: ob mich jetzt – natürlich am offensichtlichsten – Regeners Buchautorenkarriere oder die brillante Verfilmung seines „Herr Lehmann“s mitriss, die viel Gutes für die realistische Darstellung trunkener Thekengespräche in der Welt des Films vollbrachte, „Delmenhorst“ vom letzten Element Of Crime – Album mich berührte oder die kleinen Gastauftritte von Element Of Crime überraschten. Zunächst gab es ein tolles Bob-Dylan-Cover im (weniger tollen) „NVA“-Film, die Veredlung von Tomtes „Geigen bei Wonderful World“ dank Regeners Bläsereinsatz und – vielleicht am wichtigsten für meine neugewonnene Zuneigung – der über all den anderen prominenten Teilnehmern turmhoch thronende Tribute-Beitrag „Der Himmel weint“ zum Fehlfarben-Jubiläumsalbum (unter dem Pseudonym „Die falschen Farben“).
Nachdem nun zum ersten Mal ein ganzes Album bei Veröffentlichung von mir gespannt angenommen wurde, frage ich mich: womit habe ich eigentlich all die vergangenen Jahre verschwendet? EoC

Musikalisch nähern sich Element Of Crime noch mehr Calexico an, im Titelsong wird gar Blues-Rock zitiert, zu dem auch Jackie White anerkennend nicken würde, und in seinen besten Momenten spielt „Immer da wo du bist bin ich nie“ eine altersweise, lebensgeplagte Melancholieversion von Beirut aus.
Aber die Instrumentierung verblasst natürlich neben den Texten Regeners, der wie kein anderer hierzulande das Saufen mit dem Sehnen verbinden kann. Von vielen brillanten Texten ist „Kaffee und Karin“ der beste – und kann wohl auch als Paradebeispiel dafür herangezogen werden, wie Regener es schafft, das Prätentiöse mit dem Profanen derart gut zu verbinden, dass selbst Texte, die gelesen noch bemüht klingen mögen, gesungen zwingend und schlüssig werden; die Niederlagen mit einem Stolz zelebrieren, der berührt ohne falsches Pathos zu benutzen, weil Regener immer wieder aufs neue erstaunliche Bilder findet, Szenen wie in Zeitlupe beschreibt und ganze Charaktere mit kürzesten Textstellen erschafft. Haben wir hierzulande sonst irgendeinen, der so beredt Alkohol und die bittersüße Tragik des aufrechten Niedergangs romantisieren kann?

Dass das Bier in meiner Hand alkoholfrei ist,
ist Teil einer Demonstration
gegen die Dramatisierung meiner Lebenssituation.
Doch andererseits sagt man, das Schweinesystem
sei auf nüchterne Lohnsklaven scharf *
darum steht da auch noch ein Whiskey,
weil man dem niemals nachgeben darf

Wenn die Sonne noch weiter nach rechts rückt –
und ich fürchte, sie wird das noch tun –
scheint sie mir voll in die Augen;
und dann mach ich die einfach mal zu
und hör mir in Ruhe den Rentner an,
der am Nachbartisch ungefragt schreit
dass er ’76 schon Punk war und immer zum Pogo bereit.

Ich leg meine Hand in das Feuer
vom Würstchengrill unten am Fluß
dafür, dass nicht alles umsonst war
und jeder nur tut, was er muss
Deinen Namen hab ich vergessen,
deine Nummer fällt mir nicht ein,
einen Ring hab ich niemals besessen
und einsam will ich nicht sein.

Wenn der in diesem Song beschriebene Rentner 1976 so alt war wie ich es jetzt bin, wäre er nun tatsächlich 65. Dann mag meine neu entdeckte Verehrung von Element Of Crime meinetwegen ein Altersding sein, zum Pogo bin ich dennoch immer bereit. (Christian Ihle)

Anhören!
* Kaffee und Karin
* Deborah Müller
* Euro und Markstück

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=DBlTdSdKvYA[/youtube]
.

Im Netz:
* Indiepedia
* Homepage
* MySpace

Edit:
* sei auch nüchterne Lohnsklavenschaft
Wir sind uns nicht einig, wie die Textstelle genau heißt – der Nachteil einer Onlinebemusterung durch Plattenfirmen liegt eindeutig am fehlenden CD-Booklet mit den Textchen! Wenn jemand aufklären kann: bitte gerne.

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https://blogs.taz.de/popblog/2009/10/28/album_des_monats_september_platz_2_element_of_crime_immer_da_wo_du_bist_bin_ich_nie/

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kommentare

  • Es heißt :
    “sei auf nüchterne Lohnsklaven scharf”

    So steht es jedenfalls im Booklet und so verstehe ich es auch.

  • Das macht vom Satzzusammenhang fast mehr Sinn. Die Nachteile einer Online-Bemusterung: es gibt kein Booklet mit den Textchen…

    Ich habe es mal geändert. Falls jemand endgültig klären kann, bitte Hinweis.

  • Heißt es nicht “Doch andererseits sagt man, das Schweinesystem
    sei auf nüchterne Lohnsklaven scharf” ? oder höre ich das immer falsch? Egal, toller Song, wenn auch nicht der beste auf dem Album.

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