Amyl & The Sniffers – Guided By Angels
Das Debütalbum von Amyl & The Sniffers hatte für meinen Geschmack immer eine Spur zuviel L.A.-Rock der hairsprayigen End80er, als dass er mich ganz uniornisch überzeugt hätte, aber die neue Single „Guided By Angels“ ist in ihrer direkten Rotzigkeit nun wirklich das wilde Punk-L.A. der frühen X-Platten. Sängerin Amy Taylor ist angemessen hyperkinetisch, ein unbändiger Punkrock-Springball. Zudem völlig richtiger YouTube-Kommentar: „This video is the equivalent of being the only one on coke while all your mates are on weed.“
Christin Nichols – Today I Choose Violence
Aus den Trümmern von Prada Meinhoff steigt bald das Soloalbum von Frontfrau Christin Nichols, die nach der bereits sehr guten Single „Neon“ nun mit „I Chose Violence“ ein vertontes Kneipengespräch mit einem besonders exemplarischen Mitglied der Patriarchatsgattung nachlegt. Nichols zitiert die schönsten Hinweise und Vorhaltungen, die ihr als Frau auf der Bühne und im Leben gemacht werden und antwortet darauf in einem schönen Hole-End90er-Refrain: „Fünf Finger… eine Faust“…
Whispering Sons – Surface
Eines der stärksten Alben des Jahres kommt aus Belgien. Whispering Sons spielen Post-Punk der Joy-Division-Prägung – also düster gefärbt und erinnern dabei an die irische Band The Murder Capital, die letztes Jahr die beste Platte in dieser speziellen Nische veröffentlichten.
In vielen Songs (besonders bei „Flood“) spielen die Belgier aber zusätzlich mit EBM-Electro-Elementen, so dass das Album sich zwischen den erwähnten Joy Division und DAF einrichtet.
Girl In Red – Rue
Die ersten Singles wie der tolle 2018er Song „I Wanna Be Your Girlfriend“ der jungen Norwegerin Marie Ulven aka Girl In Red klangen wie Indie-Jingle-Jangle-Musik in schönster Bedroom-Manier, DIY, schrammelig – aber in der Offenheit ihrer Lyrics damals schon bemerkenswert: „I don’t wanna be your friend, I wanna kiss your lips“. Bedroom-Indie-Pop also gleich in mehrfacher Hinsicht. Auf den verschlungenen Pfaden des Internet ist Ulven in der Zwischenzeit aus dem kleinen norwegischen Indie-Ghetto ausgebrochen und zum weltweiten Meme geworden: die Formulierung „do you listen to Girl In Red?“ ist nun die verklausulierte Frage nach der sexuellen Orientierung. Ihr Debütalbum „If I Could Make It Go Quiet“ ist nun deutlich näher an zeitgenössischem Pop zwischen Taylor Swift und Billie Eilish, aber immer noch angenehm rauh und direkt.
Billie Eilish – Getting Older
Eine der erfreulichsten Erfolgsgeschichten der letzten Jahre ist sicher die Karriere von Billie Eilish, die mit einer faszinierenden Soundsprache und selbstbewussten Außenseiter-Lyrics zum wichtigsten Popstar der Welt wurde. Auch wenn das neue Album vielleicht den einen oder anderen Song zu lang geraten ist, sind Lieder wie „Getting Older“, die Minimalismus mit Pop verbinden, ein Ereignis.
Olivia Rodrigo – Good 4 U
Hey, wenn es tatsächlich mal eine gute Nummer 1 Single in Deutschland gibt, muss sie ja auch hier erwähnt werden. Die – wie Miley, Britney und Justin Timberlake vor ihr – aus dem Disney-Umfeld stammende Olivia Rodrigo ist der große neue Popstar. Mit einem Song wie „Good 4 U“, der an die guten Momente von Avril Lavigne erinnert, auch zurecht.
BSI – Vesturbæjar Beach
Das erste Mini-Album (oder EP?) von BSÍ – Silla Thorarensen (Schlagzeug & Gesang) und Julius Pollux Rothlaender (Bass & Zehen-Keyboard) – hat sicherlich den besten Titel des Jahres: „Sometimes Depressed But Always Antifascist“.
BSÍ haben zu diesem Titel auch ein passendes Konzept erarbeitet. Die erste Seite der Platte – „Sometimes Depressed“ – besteht aus ruhigen, verletztlichen Lieder, während die Rückseite – „But Always Antifascist“ – besten Lofi-Indiepop-Punk spielt, der an Gurrs erstes Album erinnert.
Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen – Männer mit schönen Haaren
Vor zwei Jahren veröffentlichte die Liga der gewöhnlichen Gentlemen mit „Fuck Dance, Let’s Art“ das beste Album ihrer Karriere und legten im letzten Sommer mit „Ferien für immer“ einen Strand-und-Sonne-Hit nach. Letzterer ist auch auf dem gerade erschienen neuen Album „Geschichterln aus dem Park Cafe“ enthalten, auf dem neben „Ferien für immer“ vor allem der Soulstampfer „Yo Zwanie!“ und „Männer mit schönen Haaren“ überzeugen.
Zwanie Jonson – We like it
A propos „Yo Zwanie!“: der Mann hinter dem seltsamen Ausruf der Liga der gewöhnlichen Gentlemen ist Zwanie Johnson, ehemaliger Drummer der Gruppe und seit 2011 als Solokünstler im entspannten sophisticated Pop unterwegs. Da macht auch das neueste Album keinen Unterschied und mit „We like it“ ist Jonson sein vielleicht größter Hit gelungen. Früh-70er-West-Coast-Pop, der den Groove der Soulbands der gleichen Ära besitzt.
Sault – London Gangs
Laut Eigenankündigung soll die neue Sault-Platte nur 99 Tage lang erhältlich sein wird. Wie bei Mission:Impossible – sich selbst vernichtende LPs nach Anhören?
Jedenfalls, Marketing-Gimmick hin oder her, der erste Song ist schon wieder ein Kracher, wieder mehr in der No Wave Richtung.
Ozan Ata Canani – Alle Menschen dieser Erde
Das Staatsakt-Sublabel Fun In The Church hat mit Ozan Ata Canani einen ganz erstaunlichen Fund ausgegraben. Canani ist als sogenannter „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen und hat in deutscher Sprache einige Songs aufgenommen, doch zu einem Album ist es trotz eines Auftritts bei „Bios Bahnhof“ nie gekommen. Auf der Compilation des Trikont-Labels „Songs Of Gastarbeiter“ erschien verspätet vor einigen Jahren das bemerkenswerte Lied „Deutsche Freunde“ und nun legt Canani mit „Warte mein Land, warte“ ein ganzes, neu aufgenommenes Album nach. Neben „Deutsche Freunde“ und dem Titelsong ist vor allem „Alle Menschen dieser Erde“ ein zentraler Song, der im Gewand eines orientalischen Garagesongs, der an die Fusion von Mdou Moctar erinnert, viel über Cananis humanistische Weltsicht erzählt.
Hawel / McPhail – Come Around Again
„This is all happening for the love of fuzz! A band made by fuzz pedals!“: so kündigt sich das neue Projekt des Tocotronic-Mannes Rick McPhail an. für sein neuestes ‚Fuzz‘-Projekt steckt sich McPhail mit Frehn Hawel von Tigerbeat unter eine Decke und zusammen bringen die beiden ein No-Bullshit-Indierock-Album direkt aus der Garage heraus. „Come Around Again“ schaltet einen halben Gang zurück im Vergleich zur restlichen Platte, erinnert aber dafür in seinen New-Wave-Harmonien an Flying Nuns – Platten der frühen 80er.