vonDetlef Berentzen 18.07.2016

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Unter Inszenierung versteht man den intentionalen Prozess der Gestaltung, Erprobung und Ordnung ausgewählter Stoffe, Materialien, Handlungen in Raum und Zeit, also allgemein etwas „zur Erscheinung zu bringen“, das im performativen Akt der Aufführung öffentlich wahrnehmbar wird. (Metzler Lexikon Theatertheorie 2005)

Die Frage nach der Inszenierung ist interessant. Wenn man sieht, wie dilettantisch der Putsch gelaufen ist, dann hat man fast den Eindruck, dass da jemand die Drähte gezogen hat. Und eines muss man sagen: Erdogan ist jedes Mittel recht, um seine Macht zu erhalten. Wir haben im letzten Sommer erlebt, wie er bewusst den Kurdenkonflikt instrumentalisiert hat, um einen überwältigenden Wahlsieg auf der nationalistischen Schiene im November einzufahren. Das ist schon stark: um der Macht willen die gesellschaftliche Homogenität, den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Wer sich das traut und das tut, dem könnte man auch zutrauen, dass er einen dilettantischen Putsch instrumentalisiert, um seine Machtposition zu festigen. (Udo Steinbach in: NZZ, 16. Juli 2016)

Ich persönlich würde ein Szenario der Inszenierung nicht unterstützen. Aber letztendlich stimmt es, dass Präsident Erdogan politisch extrem gestärkt aus dieser Situation heraus geht. Und dass er wahrscheinlich auch seine weiteren Pläne ohne großen Widerstand durchsetzen kann. Weil sich die Opposition in der nächsten Zeit immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert sehen wird, dass sie das demokratische System zerstören wolle. (Cem Sey in Deutschlandradio Kultur, 16. Juli 2016)

Die Leute beginnen, sich Fragen zu stellen. Fragen, die im Gespräch mit Bekannten auftauchen, Fragen, die beim Zeitungshändler oder im Caféhaus diskutiert werden. Welcher Putsch beginnt denn freitagabends um 22 Uhr, wenn die Panzer im Feierabendstau steckenbleiben? Warum sind fast alle TV-Kanäle auf Sendung und interviewen ein Regierungsmitglied nach dem anderen? Und vor allem, warum haben die Putschisten offenbar erst gar nicht versucht, einen verantwortlichen Politiker, deren Herrschaft sie ja angeblich beenden wollten, festzunehmen oder sonst aus dem Verkehr zu ziehen? Fragen, auf die es auch am Samstagabend keine Antwort gibt und die im Parlament, das am Nachmittag zu einer Sondersitzung zusammengekommen ist, erst gar nicht gestellt wurden. Stattdessen zirkulieren Informationen, deren Wahrheitsgehalt so gut wie nicht zu überprüfen ist. (Jürgen Gottschlich in: taz, 16. Juli 2016)

Das gesamte Leben der Gesellschaften erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt. Allgemein ist das Spektakel – als konkrete Verkehrung des Lebens – die autonome Bewegung des Leblosen. (Guy Debord in: „Die Gesellschaft des Spektakels“)

Solange die Lage in der Türkei unübersichtlich ist und die Informationen nur spärlich fließen, ist viel Raum für Spekulationen. Einerseits kursieren Vermutungen, nach denen die türkische Regierung selbst hinter dem Putsch stehen könnte, um aus der Türkei endgültig ein Präsidialsystem zu machen. Seit vielen Jahren ist dies das Hauptziel Erdoğans politischer Agenda, bislang verhindert von den demokratischen Mehrheiten im Parlament. Für die erforderliche Zweidrittelmehrheit konnte Erdoğan nie die Unterstützung der Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP gewinnen. Ein vereitelter Putsch könnte die Bevölkerung hinter der Idee eines starken Mannes an der Spitze des Staates versammeln und Abgeordnete der CHP oder MHP zum Umdenken bewegen. (Die Zeit, 16. Juli 29016)

Recep Tayyip Erdogan hat, von außen betrachtet, einen komplexen Charakter: mal fürsorgend, mal despotisch, mal liebevoll, mal knallhart, mal strotzend vor Kraft, aber auch schnell beleidigt. Das führt dazu, dass einige Beobachter ihn nicht für das Opfer des Putschversuchs halten, sondern für den Initiator. Aber selbst wenn Sie nicht dazu gehören: Verschwörungstheorien sind, selbst wenn sie nicht stimmen, intellektuell reizvoll. (shz.de, 18. Juli 2016)

 

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„Es lässt sich leider nicht gänzlich ausschließen, dass er von diesem Putsch wusste und bewusst nicht interveniert hat“, sagte Dr. Burak Çopur, Türkei-Experte und Politikwissenschaftler an der Universität Diusburg-Essen, gegenüber der Huffington Post. (HuffPost, 16. Juli 2016)

Es gibt auch die böse Vermutung, dass Erdogan selbst den Coup inszeniert haben könnte, um die Zügel anschliessend noch straffer zu ziehen. Soviel diabolische Energie muss man dem Präsidenten nicht zutrauen. Wer Erdogan allerdings kennt und weiss, wie hart und unnachgiebig er schon in der Vergangenheit reagierte, wenn seine Macht gefährdet schien, darf nun, nach dem offenbar gescheiterten Putsch auf nichts Gutes hoffen. (NZZ, 16. Juli 2016)

Der Putschversuch in der Türkei – am Sonntagabend war er Thema bei Anne Will in der ARD. Und während sich die Gäste Cem Özdemir von den Grünen, Unions-Politiker Norbert Röttgen, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat und die deutsch-türkische Autorin Seyran Ates sowohl in ihrer Kritik am Staatsstreich als auch an den nun folgenden Maßnahmen von Präsident Recep Tayyip Erdogan einig waren, scherte einer aus: Fatih Zingal. Der stellvertretender Vorsitzender der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten feierte Erdogan. Die Türkei habe am Wochenende eine Bewährungsprobe für die Demokratie überstanden, sagte Zingal und lobt das harte Vorgehen als „Sternstunde der Demokratie“. (Express, 18. Juli 2016)

 
Die Straßen sind leer, auch Polizei ist kaum noch zu sehen. Der Taxifahrer, ein bekennender Sozialdemokrat um die 50, spricht aus, was viele bereits in der Nacht in den sozialen Medien äußern: „Was soll das für ein Putsch sein mit fünf Panzern und zwei Flugzeugen?“, fragt er und redet sich allmählich in Wut. „Dieses Land hat viele Staatsstreiche erlebt, aber so was noch nie. Angeblich ist die Luftwaffe verwickelt. Und dann kann der Präsident mitten im Putsch nach Istanbul fliegen?“ Er sei gegen Machtergreifungen des Militärs, betont er. Doch sein Verdacht lautet: Das hier ist eine Inszenierung. „Erdogan hatte keine Mehrheit für das Präsidialsystem. Und mit seiner Ankündigung, Syrer einzubürgern, hat er auch seine eigenen Anhänger verprellt. Jetzt ist er für alle Zeiten der Held. Ich fürchte, der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst.“ (Deniz Yücel in: Die Welt, 16. Juli 2016)

„Um 22.00 Uhr wird geputscht, um 1.00 Uhr ist die demokratische Ordnung wieder hergestellt“, schreibt Lale Akgün. Sie komme nicht umhin, denen Recht zu geben, die schon um 23.00 Uhr des 15. Juli von einer „Inszenierung“ der Regierung sprachen. „Die Gründe liegen auf der Hand“, schreibt sie. Mit dem inszenierten Putsch wolle Erdogan die Zivildiktatur vorantreiben und die immer stärker werdende Kritik aus dem Ausland zum Schweigen bringen. Der türkische Präsident wolle nun mittels einer Säuberungsaktion beim Militär, der Polizei und in der Justiz die verbliebenen Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen eliminieren. Die Opfer der Putschnacht würden nun wohl „Kollateralschaden“ genannt, kritisiert die SPD-Politikerin. „Wie schade um die jungen Menschen, die man verführt hat, […] ‚Militärputsch‘ zu spielen. Meine Gedanken sind bei den Demokraten in der Türkei.“ (Focus Online 17. Juli 2016)

Inszenierung zielt immer auf Wirkung und Rezeption, kann also ohne RezipientInnen und ZuschauerInnen nicht auskommen. Damit eine Inszenierung zum wirksamen Ereignis wird, bedarf es unbedingt der beiden Dimensionen Aufführung und Wahrnehmung. Letztlich ist es eine Frage der Wahrnehmung und ästhetischen Kompetenz, ob eine Inszenierung als solche erkannt und als theatrale oder soziale Situation gelesen werden kann. (Kulturelle Bildung Online)

 

wag the dog

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