Beitrag von Taylan Engin
In seinem ersten Drama erzählt Mesut Bayraktar vom Barrikadenkampf junger Widerstandskämpfer im türkisch-kurdischen Konflikt.
„Die Offensive rückt vor … Es sieht schlecht aus für uns. Sie zerstören alles.“ So beginnt der fünfte und letzte Akt von Mesut Bayraktars Erstlingswerk Die Belagerten, gerade beim deutschtürkischen Verlag DialogEdition erschienen. Fünf junge Kämpfer verschanzen sich in einem Bunker. Sie heißen Mecit, Ali, Selda, Kaptan und Can. Die türkische Armee hat sie umzingelt und die Stadt belagert. Zweifel kommen auf. Sollen sie zurückschlagen? Ihr Gegner ist übermächtig und die Straßen sind abgeschnitten. Der Autor deutete gerade eine Wendung an, die vor allem eins deutlich macht: Hier geht es nicht nur um einen politischen Kampf, sondern um die Menschen, die ihn führen.
Bayraktar ist 28 Jahre alt, hat Jura und Philosophie studiert, rezensiert regelmäßig Literatur auf seinem taz-Blog und gründete 2013 Nous. Zeitschrift für neue Literatur. Ein junges Team von Autoren befasst sich dort mit den Schwergewichten unter den modernen Texten. Er selbst hat die Werke von u.a. Dostojewski und Tolstoi, Brecht und Kafka, Weiß und Frisch, Schiller und Hesse, Camus und Garcia rezensiert.
Darum ist sein erstes Werk voll kluger und präzise eingesetzter Motive, die ein Gefühl von Revolution und eine ästhetische Melancholie vermitteln: Die schmerzhafte Erinnerung an einen gefallenen Genossen, eine Gitarre und eine letzte Melodie auf dem sinkenden Schiff, die existentialistische Frage nach Sein und Nichtsein, innere Konflikte zwischen Hass und Idealismus oder zwischen Fernweh und Heimat – und vor allem das Aufeinanderprallen einer tiefen Sehnsucht nach dem Frühling und einem Bild der Kapitulation nach Francisco de Goyas Erschießung der Aufständischen.
Vor allem benutzt Bayraktar hier das Bild einer Barrikade, das absolute Ur-Motiv linker Literatur. Sie erinnert an die Pariser Kommune; In Viktor Hugos monumentalen Werk Die Elenden führt sie alle Erzählstränge zum Kampf um die Republik zusammen, sie steht in der Popkultur für die Rebellion und begegnete uns zuletzt während der G20 Proteste in Hamburg. Die Barrikade ist ein Symbol der Gegensätze, denn sie verkörpert sowohl den amateurhaften Pragmatismus der Kämpfer, als auch deren felsenfeste Überzeugung, eine Utopie zu verwirklichen. In diesem Stück trennt die Barrikade den Keller, in dem die jungen Kämpfer demokratisch zusammenleben, von der Außenwelt, wo ein Krieg herrscht und wo es keine Menschlichkeit mehr gibt.
Orient und Okzident
Die Geschichte spielt „irgendwo im Südosten der Türkei“. Als Vorlage benutzte Bayraktar vermutlich die Ereignisse in der kurdischen Stadt Cizre, die die türkische Armee vor zwei Jahren regelrecht zertrümmerte. Damals berichtete die UN, dass über hundert Menschen lebendig verbrannt wurden, als sie sich in einem Keller versteckt hielten. Bayraktar schrieb damals in seinem Blog: „Hunderte Menschen, darunter Frauen, Kinder, alte Menschen, kurz Zivilisten, sind während der Belagerung ums Leben gekommen. Der Stadtkern wurde mit schweren Waffen, Panzern und Artillerie weitgehend zerstört.“
Hier verschmilzt also westliche Literaturgeschichte mit einem nahöstlichen Plot. Es entsteht eine kurdische Tragödie. Dieses Werk kann und sollte als eine Brücke zwischen Orient und Okzident verstanden werden, die sich heute so eilig voneinander zu entfernen scheinen: Dieses Werk ist westlich, weil die jungen Figuren für „die Vernunft“ kämpfen; und es ist mittelöstlich in seiner Sentimentalität, etwa wegen der Musik des alevitischen Sängers Asik Veysel, die verschiedene Akte begleiten soll. Dieses Verschmelzen der Kulturen hat in der deutschen Kunstgeschichte der vergangenen drei Jahrzehnte eine bedeutsame Tradition. Man denke an die frühen Werke von Fatih Akin oder Selim Özdogan.
Auch Bayraktar lässt die Unterdrückten und Ausgegrenzten sprechen. Und vor allem lässt er sie fühlen. Zwar verzichtet er darauf, jene demokratischen und feministischen, kurdischen Einheiten explizit zu würdigen, die in den letzten Jahren so große internationale Sympathien gewonnen haben, weil sie gegen den IS kämpften. Dafür fordert er die Rhetorik der türkischen Mainstream-Medien heraus, die meinen, Oppositionelle würden nicht sterben, sondern „liquidiert“ werden. Hier werden die Entmenschlichten re-personalisiert.
Vielleicht ist es das Geheimnis des Theaters, dass man nie ganz weiß, wie es zur Wirklichkeit steht. Ob sie gerade gespiegelt oder aufgedeckt wird. Monologe ersetzen hier die beängstigende Stille einer Kriegsnacht, Gedichte ersetzen Mord und Totschlag. Das ist absurd, aber weit weniger als die gelebte Wirklichkeit in der Region. Dieses Drama ist so nostalgisch wie aktuell. Es verbindet zwei Kulturen. Und es ist eine berührende Lektüre.
Die Belagerten. Von Mesut Bayraktar. Verlag: DialogEdition. Hier bestellen.
Titelbild: Quelle