Auf einer Holzinsel sitzt Nikolas (Benjamin Grüter) auf einem Sarg, umflutet von Wasser. Am Ende der Bühne ist eine Projektion aus der Vogelperspektive zu sehen, die den einheitsstiftenden Blick des Allgemeinen öffnet, der die Besonderheiten auf der Bühne erkennen lässt. So entdeckt man eine Schusswaffe. Sie und der Gestus des Grübelnden ergeben: Mord, möglicherweise Selbstmord.
Michael (Peer Oscar Musinowski) tritt auf, der »Businessmanager«. Er fragt den Hochverschuldeten: »Kriegen die Arbeiter ihr Geld?« Nikolas antwortet, dass er keines hat. Auch leidet der lebensüberdrüssige Bourgeois unter Depressionen. Er will seine Ruhe. Denn alles ist, wie kurz darauf konstatiert wird, ganz und gar sinnlos, auch das Leben selbst – das Leben jedenfalls, wie es der Bürgerliche heute sieht, der alles verloren hat und doch alles besitzt.
Robert Icke hat im Schauspiel Stuttgart »Iwanow« nach Anton Tschechow inszeniert. Er hat versucht – Premiere war am 17. November –, die feinmaschige Bühnendramatik der Sozialtragödie ins Deutschland des 21. Jahrhunderts zu versetzen. 1889 verhandelte Tschechow die Barbareien der rückständigen, verfaulenden Klassengesellschaft im endenden Zarenreich. In Ickes Aufführung hingegen gibt es bloß eine Bürgergesellschaft, die keinen Antagonismus kennt, vielmehr an ihrem konfliktlosen Dasein leidet und herumjammert. Die Beteiligten wissen, dass sie »Vollidioten und Diebe« sind. Wer aber bestohlen wird, weiß niemand. Icke übersieht, dass Tschechow heute kein Tschechow von damals sein kann. Diese Diskrepanz prägt der Tragödie, die mit der Komödie schäkert, Nachlässigkeit und Kurzsichtigkeit auf.
Nikolas, der gescheiterte Intellektuelle und Gutsbesitzer bei Tschechow, soll die heutige deutsche Version von Iwanow sein. Als abgewirtschafteter Geschäftsmann bleibt er Teil der besitzenden Klasse. Seine Frau ist krebskrank. Sie liebt ihn. Er empfindet nichts für sie. Schließlich lässt er sich auf eine Affäre mit der achtzehnjährigen Sascha (Nina Siewert) ein. Sie ist die Tochter der reichen Lehmanns, wo er abends Zuflucht sucht, weil »in meinem Haus zu leben Folter ist«. Sein Haus steht an einem See. Und obwohl er sieht, dass diese Affäre kitschig ist, lässt er sich darauf ein. Derselbe Kitsch greift leider auch auf die Aufführung über. Wenn Benjamin Grüters Blick in den Aktwechseln aus der Vogelperspektive erscheint, hat man den Eindruck, der gedankenlose, gezierte Blick von Till Schweiger starre das Publikum an. Daneben plustert Nina Siewert Sascha zuweilen emotional auf, wie um über die innere Leere der Figur hinwegzutäuschen, während das Groteske ihres Vaters (Michael Stiller) mehr ins Lächerliche kippt, als dass es zu einer Synthese mit dem Erhabenen gebracht wird.
Das energische und gestenreiche Spiel des zur Kriminalität neigenden Michael (Peer Oscar Musinowski) ebenso wie die Verlegenheiten und moralischen Plädoyers des linksliberalen Arztes Eugen (Felix Strobel) retten die Aufführung nicht vor der Anmutung einer Seifenoper. Da ist die Liebe ein Investment, Krieg die Schnapsidee für die Rettung Europas, die Immobilienblase eine unsichere Geldanlage für ein Erbe und antisemitisches Geschrei der Notbehelf eines Soziopathen, der nicht weiß, warum er mental bankrott ist, obwohl ihm die Antwort auf der Nase herumtanzt: sein privatwirtschaftlicher Bankrott.
Die Stille, die sich in die Dialoge mischt, enthüllt sich so als Stille einer Verwesung, die jeden sozialen Konflikt neutralisiert und den psychologischen verflacht. Der realistische Anspruch von Icke regrediert zu einer naturalistischen Schablone, aus der Hegels unglückliches Bewusstsein vorscheint, dem »sein wirkliches Tun zu einem Tun von Nichts, sein Genuss Gefühl seines Unglücks« wird. In diesem Zustand greift Nikolas letztlich zur Waffe. Denn ihm, wie Hegel schreibt, »kann daher nur das Grab seines Lebens zur Gegenwart kommen«. Dass das unglückliche Bewusstsein aus Herrschaft und Knechtschaft folgt, entgeht Icke.
Nächste Aufführungen: 1., 14., 26. Dezember