vonMesut Bayraktar 01.03.2020

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

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Du sitzt in einer Shishabar. Du bist 18, 19, 20, 21, in einem Alter also, in dem dir vieles auf den Sack geht. Du chillst mit deinen Freunden und machst deinem Ärger über dich und deinen Arbeitgeber und den Beamten beim Amt Luft. Ihr beschwert euch. Ihr erzählt euch Geschichten mit Mädchen, vielleicht wegen der Liebe, vielleicht auch wegen dem Sex. Einer der Freunde steht auf und will einen neuen Kopf bestellen, weil die Shisha beim Ziehen im Hals kratzt. Ein anderer hält entgegen, dass der Kopf in Ordnung ist und ihr nur neue Kohle braucht. Ihr einigt euch, ihr braucht neue Kohle und der Kellner, ein Freund, ist sofort zur Stelle und … plötzlich betritt Tobias R. die Bar, ein 43-jähriger. Plötzlich zückt er eine Waffe und plötzlich mäht er deine Freunde nieder. Tack. Tack. Tack. Dich erwischt er an der Schulter, während du wegzulaufen versuchtest. Dein Herz rast vor Furcht. Es springt dir aus der Brust. Da liegst du, auf dem Bauch, wehrlos, jeden Augenblick den Kopfschuss erwartend, den er deinem Freund vor deinen Augen verpasst hat. Dann brüllt Tobias R.: Ausländer raus!, und du hörst, wie die Tür in den Türrahmen fällt und deine Angst verliert sich in der Nacht einer traumlosen Stille, mit der du dir den Tod vorstellst. Sedat, Gökhan, Hamza, Said, Mercedes, Ferhat, Kaloyan, Vili, Fatih … Mesut. Tot.

Ich bin sehr wütend. Jetzt sprechen viele von Trauer und verurteilen Hass. Sie sagen, dass sie die Guten sind, dass sie sich die Normalität nicht nehmen lassen. Ich glaube euch kein Wort. Tobias R. ist Produkt bürgerlicher Ideologie, eurer Herrschaft. Ich ertrinke gerade in einem Ozean aus Wut und nichts in meinem Leben, in dieser kapitalistischen Gesellschaft ist normaler als Rassismus. Er ist ihre DNA. Mein Sein, meine Existenz, mein Aussehen steht permanent im Fadenkreuz. Ihr seid nicht die Guten. Ihr seid Heuchler. Es gibt keine Guten, genausowenig gibt es Böse. In der Wiege eurer Ordnung, eurer Wirtschaft, eurer Politik wächst Faschismus und Rechtsterorrismus seit Jahrzehnten, nicht nur seit der AfD, die ihr hofiert, um mit ihnen früher oder später ins Bett zu steigen, weil sie Fleisch von eurem Fleisch sind.

Selbst jetzt spielt ihr die antikommunistische und antisozialistische Drehorgelmusik ab, die alles überlärmt, was sozial und vernünftig ist, selbst jetzt beleidigt ihr all jene, die jahrelang gegen Faschisten und Nazis auf unterschiedlichen Ebenen kämpfen, ihr beleidigt mich mit eurem nutzlosen Mitleid, euren blumigen Worten, die morgen wieder bedeutungslos sind und sich in Waffen der Klassengewalt verwandeln. Diese Worte interessieren mich nicht. Ich will Taten sehen. Euer moralischer Antifaschismus ist hohl und Phrasendrescherei gegen Faschismusanalysen, die die Rolle der Moral im Lichte materieller Gewalt im Blick haben. Selbst dann aber, wenn eure Brut offen hetzt, schikaniert, putscht und mordet oder im Geheimen Strukturen bis in den Staat hinein aufbaut, selbst dann gilt für euch im Zweifel rechts. Tobias R. hätte auch meine Stirn erwischen können. Hanau, das nehme ich persönlich. Wir alle sollten das Attentat persönlich nehmen, meine deutschen und migrantischen Freunde und Bekannten, alle arbeitenden Menschen und Leidenden, die diese Ignoranz und diese systematische Gleichgültigkeit satt haben und nicht mehr ertragen können.

Wer jetzt erst sagt, wir haben ein Problem mit rechts – wer jetzt erst sagt, nun ist die Gefahr real, wer jetzt sagt, der Mörder sei nicht rechts, sondern Einzeltäter und Irrer: der ist selbst die Gefahr, selbst das Problem, selbst rechter Mittäter und Gehilfe. Euch klage ich an.

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