vonMesut Bayraktar 18.03.2020

Stil-Bruch

Blog über Literatur, Theater, Philosophie im AnBruch, DurchBruch, UmBruch.

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Ich finde den nationalen und individuellen Egoismus widerlich, der jetzt in bürgerlichen Gesellschaften und im Westen offen zutage tritt. In der Bankenkrise hat man zumindest so getan, als handle man als einheitliche Schicksalsgemeinschaft, als „Europäer“, was, wie allein die Unterwerfung Griechenlands zeigte, eine Lüge war. Was gerade durch die Corona-Pandemie im Schatten einer beginnenden Wirtschaftskrise geschieht, ist eine radikale Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit. Sie zeigt, wie selbstsüchtig und konkurrenzgeil der Kapitalismus macht, in dem „Partner“ sogar über einen noch zu entwickelnden Impfstoff aus Tübingen streiten. Warum schicken sie nicht stattdessen Ärzte und Material in besonders hart getroffene Länder?

Außerdem kann ich nicht mehr hören, dass Corona nicht zwischen Armen und Reichen, zwischen Beherrschten und Herrschern unterscheiden würde. Das tut es. Der Appell vom »Wir« in der Klassengesellschaft ist entweder schizophren oder Ideologie. Ich finde ihn zutiefst arrogant und verächtlich. Die einen können sich ihre Luxushotels und Inseln, ihre Privatärzte und Privatkliniken, ihre Lebensunterhaltskosten mehr als leisten und werden dabei auch mit Milliarden-Zusagen durch den Staat gestützt – die anderen nicht, die selbst zusehen müssen, wo sie bleiben, im Zwangsurlaub ohne volle Lohnfortzahlung oder Rückversicherung beim Auftragsabbruch aufgrund von „höherer Gewalt“. Wer hilft ihnen?

Beeindruckend finde ich nur die gesellschaftliche Solidarität von unten, die sich hier und da vor Ort organisiert. Sie ist Ausdruck des Bedürfnisses nach einer solidarischen Gesellschaft, in der die Unterdrückten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Im Übrigen habe ich großen Respekt vor den Arbeiterinnen und Arbeitern im Gesundheitssektor, der seit Jahren trotz Streik, Personal- und Ressourcenmangel bis heute durch Fresenius & Co. neoliberalisiert wurde, und jenen Arbeitern in Supermärkten, wo Kleinbürger und neurotische Konsumenten ihr Katastrophenbedürfnis endlich ausleben dürfen, nachdem seit Jahren die Kulturindustrie ihre Untergangsfantasien genährt hat.

Leute, bleibt gesund und solidarisch.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2020/03/18/corona-unterscheidet-zwischen-armen-und-reichen/

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kommentare

  • Der Aufenthalt in Luxushotels und auch die Behandlung durch „Privatärzte“ können den Verlauf einer Covid-19 Infektion nicht beeinflussen. Über eine -nicht invasive- Sauerstoffgabe und die Behandlung einer bakteriellen Superinfektion hinaus gibt keine Hilfe.
    Und: Bei aller Wertschätzung für die Pflegenden muss man
    doch auf die Forscher setzen. Die „Unterdrückten“ können auf diesem Feld nicht helfen.
    Die oftmals schlechtere Gesundheitszustand in der Unterschicht (Rauchen, COPD, Übergewicht, Diabetes mellitus, schädlicher Alkoholkonsum, Hypertonus) bringt allerdings eine höhere Gefährdung der Unterschicht mit sich.

  • Bravo!
    Zutiefst christliches, ja christlich-revolutionäres Gedankengut, zusammengefasst in einer Predigt, die jeden Gottesdiener ziert! Eine Lektion in Humanismus, passend zur Osterzeit.
    Andererseits:
    Ein Autor, der wiederentdeckt, was seit Jahrtausenden bekannt ist und erfolglos mit Worten bekämpft wird…Wohlstand bietet Möglichkeiten, Armut, auch die geistige, beschränkt. Klüger Menschen machen keine Selfies am Klippenrand, verzichten absichtlich auf Drogen und unnötige Corona-Kontakte… sie überleben eher als die anderen.
    Sehr ungerecht ist auch der Unfalltod desjenigen, der sich korrekt und vorsichtig verhält. Kanzel oder Parlament, Blog oder Demo… was tun gegen den ungerechten Tod?

  • „Außerdem kann ich nicht mehr hören, dass Corona nicht zwischen Armen und Reichen, zwischen Beherrschten und Herrschern unterscheiden würde. Das tut es.“
    Nonsens!
    Dem Virus ist es egal wie arm oder reich, groß oder klein, dick oder dünn, hell oder dunkel, bi oder tri oder sonstwie ein Mensch ist! Ein Unterschied besteht in der Möglichkeit ihm wie lange fininziell unbescholten zu entgehen. Um diesen Unterschied zu erkennen, muß man lediglich die eingefärbte Brille der Voreingenommenheit absetzen und schon wirds etwas mit dem Durchblick!

  • Es ist ja was dran an den Aussagen. Aber die Luxushotels sind ja nun für alle geschlossen. Und viele andere Gelegenheiten zum Geldausgeben. Jetzt sind alle ein wenig gleicher als vorher – mehr gesellschaftsliche Teilhabe gewährleistet nur ein Streaming-Abo.

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