vonMesut Bayraktar 16.04.2020

Stil-Bruch

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In jeder Krise wollen die Bürgerlichen allen weismachen, dass die Krise unpolitisch ist. In der letzten, der Euro-Krise, sollte eine ominöse »Faulheit der Griechen« herhalten, um im Rücken solcher nationalistischen Verblendungsstrategien die Infrastruktur des Landes auszuplündern. Erkämpfte soziale Rechte wurden zerstört und Europa unter deutsche Führung gebracht. Die »Krise« fällt wie ein Schicksal über alle her und die, die materiell den Kopf dafür herhalten, die Arbeitenden und Schwachen, werden in der Sprache der sozialen Gewalt geistig zur Ohnmacht verurteilt. Das gehört zum Leben im Kapitalismus. Du wirst ausgeraubt und der Räuber sagt dir, wir müssen zusammenhalten.

Mit der Corona-Krise wird genauso verfahren. Wenn man nicht gerade die Niederträchtigkeit besitzt, von »Wuhan-Virus«, »chinesischer Seuche« oder »asiatischer Krankheit« zu sprechen, greifen die Herrschenden nach subtileren Techniken und verzerren die Krise zu einem Naturereignis. Ob Politiker, Journalisten, Kulturmacher und Philosophen – durchgängig beobachte ich im bürgerlichen Mainstream, dass mit krampfhaftem Bemühen ein Lagebild vermittelt wird, in dem die Corona-Pandemie als ein rein virologisches und biologisches Phänomen behandelt wird. Auf die Evidenzbasis folgt eine Politik des technischen Sachzwangs, die elementare Grundrechte ohne jeden parlamentarischen Einspruch kassiert und sich rechtsgrundlos Befugnisse im Umfang der Notstandsgesetze von 1968 einräumt, ohne dass ein innerer Notstand ausgerufen wurde. Zudem wird das Inland für die Bundeswehr geöffnet, das Großkapital milliardenschwer mit unserem Geld bezuschusst und die arbeitenden Klassen an die Front geschickt, wo sie teils ohne oder mit nur unzureichender Schutzkleidung (Ernte, Einzelhandel, Versandhandel, Bau, Logistik, Industrie etc.) massiven Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt werden – bei gleichzeitiger Durchlöcherung der Arbeitszeitreglungen. In Krankenhäusern sieht es nicht besser aus. Der Gesundheitssektor wurde über Jahre hinweg der Warenwirtschaft und den zähnebleckenden Privatisierungsideologen von Fresenius & Co. überlassen. (Bei einem qualitativ und quantitativ hochwertig ausgebauten Gesundheitssektor wäre die Strategie des Flatten-The-Curve und die Maßnahmen des Social-Distancing gar nicht erst erforderlich – oder wenn man die Rufe aus China im Januar, spätestens aus Italien im Februar nicht mit selbstherrlicher Arroganz ignoriert hätte, sodass zum richtigen Zeitpunkt Norditalien unter Quarantäne gestellt und durch gesamteuropäischen Einsatz mit Material und Personal unterstützt wäre. Aber in der EU ist »Solidarität« eine Kategorie, hinter deren schönem Klang ein wechselseitiger Betrug der bürgerlichen Klassen um ökonomische und politische Vorteile ausgetragen wird. Die Empörung der Italiener auf ihre Regierung, auf ihre Bosse und auf das deutsche Bürgertum ist vollkommen berechtigt.) Schließlich wird dieser Sachzwang mit einem metaphysischen Gerede vom »Wir« durch die Anästhesistin Angela Merkel vervollständigt. Mit einem sentimentalen Appell an jeden »Einzelnen« greift die Repression der Macht durch. In neoliberaler Manier wird zur Selbstverantwortung gerufen, als wäre jeder Einzelne persönlich schuldig an seiner Lage. Bei Zuwiderhandlung: Bußgeldstrafe.

Um es klipp und klar zu sagen: Corona ist das Virus, Kapitalismus ist die Pandemie, die Corona-Krise ist politisch. Wenn sie eine historische Wahrheit hat, dann diese, dass sie der bürgerlichen Gesellschaft ihren Schleier vom Gesicht reißt, das Klassensystem noch schärfer sichtbar macht und soziale Kämpfe für eine Gesellschaft vorbereitet, in der die Infrastruktur ebenso wie die Produktion unter demokratischer und gesellschaftlicher Kontrolle steht. Solche Ansätze zeigen sich, etwa wenn Teile der Großindustrie binnen weniger Tage auf die Produktion von medizinischem Material und Beatmungsgeräten umzustellen vermag.

Unter diesem Gesichtspunkt ist Corona politisch. Es unterscheidet zwischen sozialen Klassen und Milieus. Die Bürgerlichen ziehen sich in ihre großräumigen Wohnungen, Villen oder Ferienhäusern zurück, bezahlen ihre Privatärzte, schmieden Übernahmepläne der Konkurrenten und handeln auf der begrünten Terrasse am Laptop mit Aktien. Die Zwischenklassen, die hilflos mit ihren Kindern in überteuerten Miet- oder kreditierten Eigentumswohnungen gefangen sind, fürchten ihre Deklassierung aus dem Kleinbürgertum und kompensieren ihre Weltuntergangsfantasien mit Klopapier, weil sie im analfixierten Charakter gefangen sind. Und die Arbeiterklassen, die täglich in direktem Kontakt mit dem Virus stehen, halten allein die Weltfelge in Bewegung und beweisen größte Tapferkeit und Furchtlosigkeit. Sie erfahren ihre Selbstständigkeit und spüren dabei den Betrug, dass die Klassengesellschaft nur einen Applaus des Hohns und – wenn überhaupt – nur eine schändliche Lohnprämie von einigen hundert Euro für uns übrig hat, wohingegen die Bürgerlichen ihre Dividende trotz Staatshilfe ausbezahlt haben wollen, Kurzarbeitergeld beantragen und zugleich die Lüge von der EU als Solidargemeinschaft demaskieren.

Diese Krise erschüttert Deutschland, die EU und die ganze Welt und zerreißt das Märchen vom Ende der Geschichte. Sie ist eine Zäsur. Sie entfetischisiert gesellschaftliche Verhältnisse. Auf die Periode des Erwachens seit 2009 folgt die Periode der Konfrontation ab 2020. Sie zieht die Klassen und Milieus ins Politische.

 

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kommentare

  • Vor 40 Jahren legte ich mich mit meiner Freundin, Chirurgin, vor der Hygieneschleuse eines großen Krankenhauses auf die Lauer, um die Einhaltung der Hygienevorschriften zu kontrollieren. Das Ergebnis war erschreckend: Nur etwa jeder fünfte verwandte die vorgeschriebenen Überziehschuhe. Es wurde einfach mit Straßenschuhen hindurchgestiefelt. Die MRSA-Rate in diesem Krankenhaus ist noch relativ gut und liegt heute bei ca 5%.
    Trotzdem, Deutsche werden in niederländischen Krankenhäusern nicht behandelt, die Infektionsrate ist bei Deutschen viel zu hoch. Gezüchtet wird der deutsche MRSA-Erreger in den deutschen Krankenhäusern. Wahrscheinlich zu hoch geschätzt ist die Zahl der jährlichen MRSA-Toten, alleine in Deutschland mit 40.000.
    In den 40 Jahren 1,6 Millionen wären das. Es gibt keine Resistenz dagegen in Deutschland, weil in unseren unhygienischen Brutstätten laufend nachgezüchtet wird. Ein gutes Geschäft für Krankenhäuser, Mediziner und Krankenversicherungen.
    Ein Bruchteil an Sorgfalt, die für die Corona-Bekämpfung aufgewandt wird, würde die MRSA-Infektionen ausmerzen. Siehe Niederlande.

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