vonMesut Bayraktar 20.02.2021

Stil-Bruch

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Folgend handelt es sich um mein Redemanuskript im Namen der DIDF-Jugend Stuttgart für die Kundgebung am Schlossplatz in Stuttgart am 19.02.2021, ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag in Hanau.

Wir sind hier, um den Ermordeten aus Hanau durch einen rassistischen Anschlag vor einem Jahr zu gedenken. Wir fühlen aber auch, dass Gedenken nicht nur Trauern heißt. Wir fühlen auch Wut, die in unseren Körpern kocht, wenn wir der Ermordeten gedenken.

Warum fühlen wir diese Wut? Weil in diesem Land weder in den vergangenen Jahren vor Hanau, noch innerhalb eines Jahres nach Hanau Nennenswertes gegen Rassismus und braunen Hass getan wurde. Wir haben nur Worte gehört, aber Taten suchen wir vergeblich.

Ist es schlecht, Wut zu empfinden? Nein, denn diese Wut in unseren Körpern ist politisch. Zum einen zeigt sie, was Politikerinnen und Politiker seit Jahrzehnten mit einer technokratischen Sprache verhüllen, nämlich: dass Politik über Leben und Tod entscheidet, und ausbeuterische Politik in Kassel, Halle und Hanau widerliche Mordgelüste hervorbringt oder am Mittelmeer Menschen ermordet. Zum anderen fordert diese Wut, die lückenlose Aufklärung des Anschlags in Hanau. Sie fordert, die ausnahmslose Entwaffnung von tausenden tatsächlichen und mutmaßlichen Rechtsradikalen. Sie fordert, die Auflösung faschistischer Zellen und rechtsradikaler Strukturen, die bis in staatliche Organe reichen. Sie fordert, Gerechtigkeit für die Familien, Verwandten, Freunde und soziale Klasse der Ermordeten. Sie fordert, dass Künstler, Gelehrte, Intellektuelle und Journalisten ihre Sprache auch mal den Ohnmächtigen bereitstellen, um die Gewalt, unter der sie leiden, zu Wort kommen zu lassen. Kurz gesagt: Diese Wut in unseren Körpern fordert, dass das Gedenken zum Kämpfen werden soll, um ein für alle Mal mit der rassistischen Nazi-Scheiße Schluss zu machen.

Machen wir uns nichts vor: Der Rassismus ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist die breite Blutspur in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, ein Phänomen, als europäische Eroberer begannen, Enteignung, Versklavung und Ausrottung fremder Völker zu rechtfertigen. Im 19. Jahrhundert entstand Rassismus als weiße Ideologie von kapitalistischer und kolonialer Ausbeutung durch den Westen. Inzwischen ist diese Ideologie in die Welt exportiert worden, weil die Welt eine bürgerliche geworden ist. Heute, im Anfang des 21. Jahrhunderts, nach zwei grausamen Weltkriegen, nach Ausschwitz und einer Kette von menschenfeindlichen und faschistischen Anschlägen in Deutschland, vor allem nach 1990, zeigt der Rassismus wieder offensiver seine Fratzen. Er ist nicht nur das direkte Produkt bürgerlicher Klasseninteressen, um diese auf der einen Seite zu rechtfertigen und um auf der anderen Seite die Einheit der Unterdrückten und Geschlagenen zu spalten. Er feiert immer dann Konjunktur, entweder wenn für militärische Kriege die nationalistische Trommel angeschlagen werden muss oder dann, wenn eine Wirtschaftskrise den Wohlstand des Kapitals im eigenen Land gefährdet. Letzteres ist heute in Deutschland und Europa überhaupt der Fall – seit der Wirtschaftskrise 2013, den regionalen Kriegen des Westens im Nahen Osten und den massenweisen Vertriebenen aus ihrer Heimat. Mit diesen geschichtlichen Ereignissen hat sich der Rassismus im letzten Jahrzehnt in Untergrundorganisationen, in Massenkundgebungen, in Betriebsräten, in Polizeinetzwerken, in Bundeswehreinheiten, in Parteien, im Staat und im Bundestag neuformiert, stellenweise bewaffnet. Das ist die Realität! Rassismus ist ein Kontinuum in diesem Land. Eine vollständige Entnazifizierung fand nie statt. Rassismus ist Fleisch vom Fleisch des Kapitalismus.

Heutzutage ist immer wieder zu hören, dass das Elend des Rassismus nur diejenigen kennen, die davon betroffen sind, Menschen also mit Migrationshintergrund, Menschen wie ich. Nur solche wüssten, was es bedeutet, im Fadenkreuz von Rassismus zu stehen. Daher könnten nur sie sinnvoll über Rassismus sprechen und daher müssten sie allein antirassistischen Widerstand gegen die soziale Gewalt leisten.

Es ist richtig. Migrantische Menschen wissen, dass Rassismus tödlich ist und nachweislich die Lebenszeit durch gesteigerten Stress, durch Ausgrenzung, durch Scham und durch Extra-Ausbeutung verkürzt. Man sollte aber nicht verkennen: Menschenhass macht vor keinem Menschen halt, vor keinem Unterdrückten, vor keinem Arbeitenden, vor keinem Andersaussehenden. Ja, migrantische Selbstorganisation ist absolut notwendig! Sie spielt aber Rassisten in die Karten, wenn ihr Reinheit und Identität wichtiger sind als gesellschaftliche Stellung und gesellschaftliche Interessen. Ebenso wie in Nazi-Deutschland deutsche Sozialdemokraten, deutsche Kommunisten, deutsche Pazifisten, nicht-hetero Deutsche, deutsche Menschen mit Behinderung und viele mehr verfolgt und vernichtet wurden, leiden unzählige nicht-migrantische Menschen in Deutschland schon heute selbst am Rassismus. Auch sie können genauso gut über Rassismus reden wie ich. Sie müssen es. Manchmal können sie es sogar besser. Karl Marx oder Bertolt Brecht sprechen über Rassismus sinnvoller als meine Mutter oder mein Vater. Das bedeutet nicht, dass meine Mutter und mein Vater dazu nichts zu sagen hätten. Antirassistischer Widerstand trug immer dann Früchte, wenn migrantische und nicht-migrantische Unterdrückte eine solidarische Einheit waren. Für diese Einheit müssen wir kämpfen. Diese Einheit ist die beste Gewähr, um sowohl unter uns den Rassismus im Keim zu ersticken, auch in migrantischen Milieus ist Rassismus anzutreffen, als auch jenen entgegenzutreten, die sich von Rassisten und rassistischen Strukturen ihren Profit sichern lassen.
Deshalb fordern wir einen solidarischen Antifaschismus, der nicht-migrantische Menschen die Tür nicht vor der Nase zuschlägt, wenn sie Anti-Rassisten sind. Daran ermahnen uns unsere Geschichte und der Anschlag vor einem Jahr. Die skrupellose Abwicklung von Hanau durch die Herrschenden zeigt nur einmal mehr, dass uns niemand helfen kann, außer wir selbst, ob migrantisch oder nicht. Nur zusammen kann die soziale Wahrheit der Getretenen ausgesprochen werden, dass nämlich Rassismus tötet und die Herzen kolonialisiert – wenn wir nicht aufpassen, auch unsere. Deshalb sagen wir: Kein Vergessen! Kein Vergeben! Gemeinsam gegen Rassismus! Wir wollen atmen!

Ich möchte mit einem Zitat von Fred Hampton schließen, einem US-amerikanischen Aktivisten der Black Panther Party, der bei einem vorgeblichen Festnahmeversuch einer Polizei-Eliteeinheit in seinem Appartement in der Nacht des 4. Dezembers 1969 im Schlaf erschossen wurde. Er war 22 Jahre alt: „Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass manche Leute sagen, dass man Feuer am besten mit Feuer bekämpft. Wir hingegen sagen: Feuer löscht man am besten mit Wasser. Wir sagen nicht, kämpft gegen Rassismus mit Rassismus. Wir sagen: Kämpft gegen Rassismus mit Solidarität.“

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