vonMesut Bayraktar 26.02.2021

Stil-Bruch

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In keinem Land ist der Begriff der Klasse ideologisch aufgeladener als in Deutschland. Denn wer Klasse sagt, sagt zugleich Klassengesellschaft, und wer Klassengesellschaft sagt, sagt zugleich Klassengegensatz und praktisch gewendet Klassenkampf – und schon mit diesem Satz formiert sich im Bauch von Journalisten, Gelehrten, Politikern und Bürgerlichen der emotionale Protest. Was andernorts als politisch-ökonomische und soziologische Kategorie zur Erfassung realer Lebenszusammenhänge zum Einsatz kommt, wird hierzulande seit Jahrzehnten durch schlechte Philosophie disqualifiziert, die da aus Zeitungen, Seminaren und Universitäten seufzt: Klasse in gesellschaftlichen Fragen ist bloß Ideologie aus dem letzten Jahrhundert. Dieselben leugnen die offensichtliche Tatsache der Ausbeutung.

Suche nach Versöhnung mit dem Vater

Christian Barons autobiografischer Roman hingegen trägt den Titel: »Ein Mann seiner Klasse«, der mit dem DDR-Filmtitel aus 1954 »Sohn seiner Klasse« zum Verwechseln ähnlich klingt. Die Filmbiografie handelt von Ernst Thälmann, das Barons Buch von seiner Kindheit in Kaiserlautern, seinem prügelnden Vater und seiner depressiven Mutter, kurz: von einem Leben im Gefängnis der Klassengewalt in den neunziger Jahren.

In elf Kapiteln, betitelt mit Grundgefühlen, die die Fenster in die Vergangenheit öffnen, sucht Baron die Versöhnung mit seinem Vater. Auf der einen Seite beschreibt er, wie etwa eines Tages sein Vater ihn mit auf die Arbeit nimmt. Der Vater ist Möbelpacker. Während Baron mit ihm und seinen Kollegen im erhöhten Fahrerbereich sitzt und auf andere Verkehrsteilnehmer herabsieht, ergreift ihn das Gefühl von Stärke und Überlegenheit. Nach Feierabend bekommt er eine Cola, mit der er mit den Bierflaschen der anderen Möbelpacker anstößt. Er fühlt sich wie ein Mann. Damals war er sich sicher, auch eines Tages Möbelpacker werden zu wollen. Auch wenn der Vater oft das letzte Geld der Familie in einer Kneipe versoff, seine Bewunderung nahm dadurch nicht ab. Sie erschwerte ihm nur seine Verachtung gegenüber dem gewaltbereiten Alkoholsüchtigen, der auch in seinem Vater steckte. An einer anderen Stelle beschreibt Baron, wie ihn sein Vater nach einer Faschingsparty in der Grundschule abholte. Baron hatte sich als Mädchen verkleidet. Er dachte, sein letztes „Stündlein“ hätte geschlagen. Doch der Vater sagte: „Du kannst ein Mann sein, oder eine Frau, schwul oder irgendwas anderes, das ist mir komplett scheißegal (…) Du musst dir immer deinen Stolz bewahren. Wie dreckig es dir auch gehen mag, wer dich auch immer unter der Fuchtel haben mag, wo du auch immer gerade sein magst: Verlier niemals deinen Stolz. Niemals. Das musst du mir versprechen.“ Einige Seiten darauf beschreibt Baron eine andere Szene. Während Baron die Disney Verfilmung von Cinderalla schaut und der engen Welt im Gesang von Cinderalla („Das Leeeben, es laaacht mir daaann zuuu!“) zu entkommen versucht, brüllt derselbe Vater, der von ihm ein ehrenvolles Versprechen verlangt hat, ihm und seiner Mutter „mieses Stück Scheiße“ zu und schlägt die Mutter.

Scham ist eine innerliche Blockade

Auf der anderen Seite beschreibt Baron, wie seine Mutter als Schülerin Gedichte schrieb. Die hat Baron in seine Erzählung aufgenommen, sie bestehen aus Zeilen wie: „Mit den Geschöpfen des Waldes in Einklang leben, / unzerstörbar zum Himmel streben. / Ach, könnt ich sein wie der Baum.“ Doch der Lehrer und die Schule, fügt er sogleich hinzu, „stahlen meiner Mutter das Selbstvertrauen.“ In der einschlägigen Passage beschreibt er, wie der Lehrer seine Mutter vor der Klasse auflaufen lässt, sodass sie den Traum aufgibt, Dichterin zu werden. Die Scham hat gesiegt, die nach innen gebrochene Klassengewalt, die die soziale Reproduktion verwaltet. Denn Scham ist eine innerliche Blockade des Besiegten zur gesellschaftlichen Aufrechterhaltung des als normal Geltenden. Sein Leid soll nicht Leidenschaft werden, das ihn zur Rebellion treiben würde. Deswegen wird Barons Mutter in ihrem kurzen Leben nicht einmal daran denken, den Weg der Dichterin zu beschreiten. So funktioniert Scham wie die Polizei, nicht etwa auf der Straße, sondern in der Seele, wo sie den sozialen Zorn unterdrückt, der im schlimmsten Fall in individuellen Selbsthass umschlägt, zumindest aber Unterwerfung abverlangt. Scham ist die Gewalt der Bürgerlichen eingepflanzt im Körper der Beherrschten. Sich ihr stellen, heißt ihr einen Namen geben: etwa durch Literatur, wie Baron es tut. Dann verschwindet sie und an ihre Stelle bäumt sich das Selbstvertrauen gegen jene auf, die mit ihrer Moral den Leidenden beschämten. Dann erkennt der Geschlagene, dass er keinen Grund hat sich zu schämen. Denn er wird geschlagen. Indem Baron nachträglich die Scham seiner Mutter ausspricht, konfrontiert er nicht nur die Ausbeuter mit der Scham und zerreißt damit den falschen Konsens. Er schafft Platz für sein Selbstvertrauen, das den Dissens der Klassen auszusprechen wagt.

Schau in den Spiegel, um die sozialen Klassen zu sehen

Baron macht kein Geheimnis daraus, dass sein autobiografischer Roman im Windschatten von den französischen Schriftstellern Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis entstanden ist. Insbesondere das 2016 in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Didier Eribon »Rückkehr nach Reims«, das, beiläufig bemerkt, bereits 2009 auf Französisch erschienen war, hat hierzulande den Begriff der Klasse vor dem Hintergrund der einschneidenden EU-Wirtschaftskrise diskutabel gemacht. Einige deutsche Linke hat das Buch regelrecht elektrisiert, als hätte man plötzlich die arbeitende Klasse entdeckt, die immer da war. Die Methode war simpel: Eribon hat dem Kosmos vorherrschender Gedanken die autobiografische Realität gewaltsamer Klassenverhältnisse entgegengesetzt. Dasselbe tut Baron, weniger erklärend, weniger als Coming-out und weniger radikal. Aber die Botschaft ist dieselbe: Wer die Gewalt nicht sieht, der soll in den Spiegel schauen; wer die Klassen nicht anerkennt, der soll seine soziale Herkunft befragen.

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