vonMesut Bayraktar 04.07.2022

Stil-Bruch

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Letzte Woche wurde der PARITÄTISCHE-Armutsbericht veröffentlicht. Der erschütternde Befund: Mit 16,4 Prozent – das sind 13,8 Millionen Menschen – hat die Armut im vergangenen Jahr einen bisherigen Höchststand in der Bundesrepublik erreicht, 600.000 mehr als vor der Coronapandemie. Insbesondere traf es Erwerbstätige, doch vor allem zeigen sich bei der Kinder- und Altersarmut traurige Rekorde: 17,9 Prozent der Rentner und 20,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind arm. Das ist brutal. Zur Erinnerung: Während der Pandemie, als die Profitlogik gnadenlos gegen Gesundheitsschutz und Gemeinwesen durchgesetzt wurde, haben Groß- und Industriekapital enorme Gewinne eingestrichen, von Daimler über Siemens bis BASF.

Armut bedeutet, jenseits von zu Zahlen abstrahierten Statistiken, die reale Zerstörung von Zukunftsentwürfen und Lebenszusammenhängen, die Reduzierung des Daseins auf den mangelerleidenden Körper, radikale Einsamkeit der Seele, politische Entmündigung, permanente Gesundheitsschädigung durch eine Volkswirtschaft, die die viertgrößte der Welt ist. Sie bedeutet, von Handlungsmöglichkeiten strukturell beraubt zu werden. Konkret heißt das, von Bildung, Wissen, Gesundheit, Ressourcen, Mobilität, Kunst, gesellschaftlichem Leben ausgeschlossen und der deprimierenden Armutsverwaltung der Behörden ausgeliefert zu sein – der Siegeszug sozialer Scham in den unteren Klassen zugunsten der Dekadenz der Bürgerlichen und Geldsäcken.

Währenddessen liest du, dass der Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) seit dem 24. Februar 2022 das 100 Milliarden Euro Hochrüstungsprogramm mit der Predigt vom individuellen Verzicht auf Dauerschleife flankiert, etwa den Verbrauch von Lebensmitteln zu reduzieren, die Heizkörper herunterzudrehen oder die Duschzeit zu verkürzen, um die Energiekrise, die Lieferengpässe und die Inflation einzudämmen. Gleichzeitig erpresst Präsident Russwurm vom BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) mit fadenscheinigen Argumenten die Arbeitenden, Werktätigen, Armen und Jugendlichen, zwischen 42-Stunden-Woche oder erhöhtem Rentenbeitrittsalter zu wählen und findet Zustimmung beim Bundesfinanzminister Lindner (FDP). Und nicht zuletzt wird die Dreistigkeit systematisch von den kommerziellen Medien so oft wiederholt, bis sich eine neoliberale Verzichts- und Fleißdebatte etabliert, sodass die Armut, die Scham, die Ausplünderung, die soziale Gewalt wieder vergessen werden. Die Verzichtsdebatte nützt niemandem außer den Reichen und Besitzenden.

Auch das ist Teil des schleichenden Militarismus und der „Natoisierung Europas“, wie es US-Präsident Biden in Madrid letzte Woche auf dem Nato-Gipfel verkündet hat.

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