Auch das Theater ist ein sozialer Raum, der durch die Klassenherkunft und die in den Habitus eingegangenen Dispositionen Menschen einlädt oder ausschließt. Hier werden Unterschiede gemacht und bestehende hervorgehoben – feine Unterschiede, würde der französische Soziologe Pierre Bourdieu hinzufügen, auf den das Konzept des sozialen Raums zur Analyse von Klassenstrukturen zurückgeht.
Ende November 2021 waren meine Mutter und mein Vater das erste Mal in ihrem Leben in einem Theater, im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg, also in einem großen Theater. Aus freien Stücken hätten sie sich niemals dafür entschieden. Das Geld hätte man anderswo gebraucht, die Zeit mit Praktiken zur Erholung ihrer Arbeitskraft gefüllt. Den Anlass gab die Erstaufführung meines auf Interviews, Gesprächen, Streikprotokollen und Fiktion basierenden Theaterstücks »Gastarbeiter-Monologe« in der szenischen Einrichtung durch Michael Weber.
„Alles ist echt“
Die Anwesenheit meiner Eltern war für mich eine besondere Erfahrung, waren sie doch zugleich ein Seismograf für das Befinden des Publikums. Denn obwohl durchaus durchmischt, saßen im Parkett überwiegend migrantisch-stämmige Menschen aus der arbeitenden Klasse, wie meine Eltern. Wer mit Theaterbesuchen vertraut ist, weiß, dass das Publikum im Parkett über den sozialen Charakter eines Theaterabends entscheidet. Insbesondere Premieren oder Uraufführungen sind dafür exemplarisch.
Natürlich spielte eine entscheidende Rolle, dass ihr Sohn das Stück verfasst hatte. Dies galt allerdings nicht für den Rest. Entscheidender war vielmehr die Kombination aus dem, was auf der Bühne gezeigt wurde, mit dem, wer im Publikum saß. Beides hatte mit meinen Eltern zu tun, sodass mein Vater in der Premierenfeier sagte: „Theater ist besser als Fernsehen. Alles ist echt. Da stehen echte Menschen auf der Bühne, nicht wie im Fernsehen, und sie erzählen echte Geschichten. Ich kenne diese Geschichten sehr gut. Ich habe sie auch erlebt. Von nun an werde ich ins Theater gehen.“ Ich war überrascht. Sagte er das aus der Unverbindlichkeit des Hochmuts, aus einem Anpassungszwang einer kulturellen Institution? Sollte ich ihm glauben, dass er von nun an wirklich das Theater besuchen würde?
Unsichtbares Sicherheitspersonal
Es ist lange her, meinen Vater so euphorisch gesehen zu haben, von einer Mischung aus Dankbarkeit, Freude, Selbstbesinnung, aber auch gewisser Trauer bewegt. Ich denke, dass er – und das gilt auch für meine Mutter und alle anderen, die mit ähnlichen Gefühlen das Gespräch mit mir suchten – auf der Bühne die kritische Verdoppelung seines Lebens sah, eine Verdoppelung, die nicht belehrt, sondern den Realitätssinn schärft. Für einen Abend war das Theater keine fremde Welt, wo sich arbeitende Körper einsam fühlen, weil das Theater als Ort der Scham mit unsichtbarem Sicherheitspersonal schon vor der Ticketkontrolle selektiert, wer rein darf und wer nicht.
So habe ich das Theater als Jugendlicher erlebt – imposante Gebäude, die für mich keine Türen besaßen. Ich ging an ihnen vorbei wie an einer hochgezogenen Wand am Fußgängerweg. Wenn ich die Augen öffnete und mich plötzlich in einem Theater (oder einer Oper) wiederfand, lähmte meinen Körper der Blitz der Scham, sodass ich mich fluchtartig nach dem Ausgang umsah. Noch heute geschieht das manchmal und dann mit einer Plötzlichkeit, die einem Faustschlag aus einem verborgenen Winkel gleicht. Einkörperung sozialer Gewalt.
Wo ist die arbeitende Klasse im Theater
Rund 3% der bundesdeutschen Bevölkerung besuchen regelmäßig Theater, Oper und Museen. Noch weniger sind an den Diskursen beteiligt. Wenn im Theater die gesellschaftliche Selbstbefragung stattfindet, wie immer wieder zu hören ist, dann muss sich auf der Bühne, im Ensemble und im Publikum auch die Gesellschaft wiederfinden können – und die Gesellschaft besteht nicht aus 3%.
Sie besteht aus Menschen mit sozialer Herkunft und bestimmtem Habitus, aus der arbeitenden Klasse und ihren widersprüchlichen Merkmalen, aus großen und kleinen Unterschieden der kapitalistischen Klassengesellschaft – feine, würde Bourdieu hinzufügen. Dann würde mein Vater vielleicht ein zweites Mal das Theater besuchen.
Der vorliegende Text erschien erstmals in dem Theatermagazin TOI TOI TOI (Nr. 12-2021) der Bühnengewerkschaft GDBA. Mit freundlichem Einverständnis der Redaktion ist der Text nun auch im taz.stilbruch zu lesen.
„Rund 3% der bundesdeutschen Bevölkerung besuchen regelmäßig Theater, Oper und Museen. Noch weniger sind an den Diskursen beteiligt.“
Kann ich dafür mal ne Quelle haben?
Danke!