vonDetlef Georgia Schulze 14.06.2022

Theorie als Praxis

Hier bloggt Detlef Georgia Schulze über theoretische Aspekte des Politischen.

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Teil II meiner Anmerkungen zu dem DLF-Interview mit Nancy Fraser vom 29.05.2022

Vom 14. bis 16. Juni wird Nancy Fraser die Walter-Benjamin-Lectures im Haus der Kulturen der Welt in Berlin halten – Titel der Vorträge: Three Faces of Capitalist Labor: Uncovering the Hidden Ties among Gender, Race and Class.

Diese drei ‚Gesichter‘ der – laut Fraser – „kapitalistischen“ Arbeit, so können wohl Frasers Thesen, die bereits am 29. Mai Thema eines längeren Deutschlandfunk-In­terviews waren, zusammengefaßt werden, seien:
▪ Die Lohnarbeit in der offiziellen Ökonomie,
▪ (vor allem) weibliche care-Arbeit
und
▪ (vor allem schwarz rassifizierte) versklavte und andere abhängige Arbeit. Von allen drei Arbeitsarten profitiere ‚der Kapitalismus‘ / ‚die offizielle Ökonomie‘:

„Ich würde argumentieren, daß man keine offizielle Ökonomie im kapitalistischen System haben kann, wenn man nicht gleichzeitig eine große Menge Arbeit und an­dere Aktivität und andere Formen von Reichtum hat, die sich in Bereichen befinden, die außerhalb der offiziellen Wirtschaft verortet werden, die diese aber unterstützen und stärken – also Beiträge leistet, die die Wirtschaft nach ihrem Normalstandard nicht bekommt.“ (ab Min. 10:58)

Darum (und um Einwände gegen diese These) ging es bereits im ersten Teil dieser Interview-Besprechung: Alles Kapitalismus – oder was? (taz-Blogs v. 09.06.2022).

Im hiesigen zweiten Teil dieser Interview-Rezension wird es nun vor allem um Fra­sers Antworten auf fünf der sechs kritischen Nachfragen, die die Interviewerin, Simo­ne Miller, in der zweiten Hälfte des Interviews stellte, gehen. (Die Antwort auf die vierte Frage in der zweiten Hälfte des Interviews war – was einen hypothetischen „öko-feministischen Kapitalismus“ anbelangt – bereits im ersten Teil dieser Interview-Rezension besprochen worden.)

Frage 1:

  • Wenn Sie z.B. sagen, es kann keine Lohnarbeit geben ohne enteignete Ar­beit – lassen sie mich besser verstehen: Sind die Gründe für diesen Zusam­menhang – aus Ihrer Perspektive – von wirtschaftlicher oder von politischer Natur? Ist es also die Politik, […] die Gesellschaft so formt, daß der Kapitalis­mus dann von diesen politisch vorgeformten Arbeitstypen profitieren kann? Oder ist es andersherum: Ist es der Kapitalismus selbst, der Gesellschaften in diese drei verschiedenen Arbeitsareale hineintreibt, und Politik verstetigt dann nur, was ökonomische Kräfte bereits bewirkt haben?“ (ab Min. 15:42)

Nancy Fraser antwortete auf diese Frage u.a.:

„Für mich ist Kapitalismus, wie gesagt, die Bezeichnung eines kompletten Gesell­schaftssystems, nicht der Wirtschaftsform. Politisches System und wirtschaftliches System sind Teil des Kapitalismus.“ (ab Min. 16:43)

„Ich biete keine historische oder kausale Erklärung. Mein Gedanke dazu ist, daß es gute Gründe gibt – nicht für den Kapitalismus, aber für das Kapital […], unfreie oder halbfreie Arbeit zu nutzen, wenn diese für sie erhältlich ist, weil sie so billig ist. Es paßt in ihre Logik als Trittbrettfahrer, von der günstigen Haus- oder care-Arbeit zu profitieren, ohne dafür zu bezahlen. Das erlaubt ihnen, die Kosten der Arbeit gering zu halten und Profite zu erwirtschaften.“ (ab Min. 17:08)

Zu beiden Zitaten ist jeweils eine Anmerkung zu machen:

Fraser: „keine historische oder kausale Erklärung“

Die Formulierung, „Ich biete keine […] kausale Erklärung“, wirft folgende Frage auf: Wie paßt sie zur These, „daß man keine offizielle Ökonomie im kapitalistischen Sys­tem haben kann, wenn man nicht gleichzeitig eine große Menge Arbeit und andere Aktivität und andere Formen von Reichtum hat, die sich in Bereichen befinden, die außerhalb der offiziellen Wirtschaft verortet werden“ (ab Min. 11:00)? Ist die These ab Min. 11:00 nicht sehr wohl eine kausale These:
Entweder in dem Sinne (was aber vermutlich nicht Frasers Auffassung ist), daß die Bereiche „außerhalb der offiziellen Wirtschaft“ die „offiziellen Wirt­schaft“ (aka Lohnarbeit etc.) geschaffen haben: Daß die Bereiche „außerhalb der offiziellen Wirtschaft“ also die Ursache der offiziellen Ökonomie seien – ohne die also Lohnarbeit etc. nicht entstanden wäre
oder aber in dem Sinne, daß „offiziellen Wirtschaft“ die Bereiche „außerhalb“ geschaffen habe, weil die offizielle Ökonomie auf letztere Bereiche angewie­sen sei? (Letzteres dürfte eher Frasers Auffassung sein, wirft aber die Frage auf, wie etwas [hier: die „offizielle Wirtschaft“] das Subjekt der Hervorbrin­gung/Schaffung seiner eigenen Existenzvoraussetzungen sein kann.)

Wenn es „keine […] kausale Erklärung“ gibt (oder jedenfalls Fraser keine vertritt), ist dann nicht die sich aufdrängende Anti-These:

Wir haben es bei
▪ Arbeit, die im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise geleistet wird (Lohnarbeit);
▪ Arbeit, die im Rahmen der häuslichen Produktionsweise verrichtet wird (un­entlohnte care-Arbeit)
und
▪ SklavInnen-Arbeit
mit drei zwar zeitweilig und regional ko-existierenden Phänomen zu tun, die aber nicht voneinander ableitbar sind – daß also ‚der Kapitalismus‘ nicht ‚das Ganze‘ ist, von dem das patriarchale Geschlechterverhältnisses und der Rassismus bloße (untergeordnete) Teile wäre, sondern daß die kapitalistische Produktionsweise – ge­nauso wie die häusliche Produktionsweise – bloß ein Teil des aktuellen gesellschaft­lichen Ganzen ist / daß die Klassenverhältnisse – ebenso wie Patriarchat und Ras­sismus – bloß ein Teil des gesellschaftlichen Ganzen sind?

Oder zugespitzter gefragt: Ist also Frasers Primat des Antikapitalismus ein blo­ßes ‚Sprachspiel‘: „Der Kapitalismus“ meint nichts Spezifisches, sondern das aktuel­le (seit wieviel Jahren bestehende?) „Gesellschaftssystem“? (Allein darauf, daß – je­denfalls: manche – EinzelkapitalistInnen „Trittbrettfahrer“ [Min. 17:54] von Sexismus und Rassismus sind, läßt sich jedenfalls keine kausale oder strukturelle [sondern al­lenfalls eine historisch-kontingente] Aussage über das Verhältnisse von race, class und gender bzw. von Sklaverei und kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise gründen.) – Damit können wir zu dem anderen gerade angeführten Fraser-Zitat übergehen.

Fraser: „Kapitalismus [ist …] die Bezeichnung eines kompletten Gesellschafts­systems, nicht der Wirtschaftsform“

Nun können Definitionen nicht zutreffend oder unzutreffend sein, sondern sie sind nur individuelle oder gesellschaftliche (Sprach)Konventionen; und sie können präzi­ser sein und dadurch für Klarheit sorgen oder vager und dadurch für Mißverständ­nisse anfälliger sein. Definitionen können also nicht nach dem Kriterium der Wahr­heit beurteilt werden, sondern allenfalls nach ihrer Konventions-Konformatität und/oder ihrer heuristischen Nützlichkeit (z.B.: Vagheit oder Klarheit). – Im Grenz­fall mag gesagt werden, daß eine individuelle Sprachkonvention, die nicht der hege­monialen entspricht, ‚falsch‘ ist; aber niemandE ist gehindert, Änderungen der hege­monialen Sprachkonvention vorzuschlagen (oder Abweichungen von der hege­monialen Sprachkonvention individuell zu praktizieren – ob und ggf. wie sinnvoll dies ist, sei an dieser Stelle offengelassen).

Nicht also, um Fraser Kapitalismus-Definition zu ‚widerlegen‘, sondern um ihre heu­ristische Nützlichkeit zu prüfen, sei sie mit dem Sprachgebrauch von Karl Marx ver­glichen: Karl Marx sprach nur sehr selten von „Kapitalismus“. Im ganzen ersten Band des Kapitals (MEW 23) kommt das Wort „Kapitalismus“ – etwaige Digitalisie­rungsfehler außen vorgelassen – ausschließlich im redaktionellen Anhang und Re­gister des Instituts für Marxismus-Leninismus der SED vor. Für den dritten Band (MEW 25) und für den zweiten Band des Kapitals (MEW 24) gilt – mit Ausnahme ei­ner Stelle, an der Marx selbst von „Kapitalismus“ (24, 123) spricht – der gleiche Be­fund. Marx selbst nannte das Objekt, das er so gründlich untersucht hat, „kapitalisti­sche Produktionsweise“. Das Kapital beginnt mit den Sätzen: „Der Reichtum der Ge­sellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“ (MEW 23, 49)

Nun sind – wie gesagt – Definitionen letztlich der individuellen Willkür anheim ange­stellt – aber warum zumindest mir der enge Marxsche Begriffe „die kapitalisti­sche Produktionsweise“ heuristisch nützlicher erscheint als Nancy Frasers wei­ter Begriff „der Kapitalismus“, werde ich am Ende dieser Interview-Rezension be­gründen.

Was ist „[d]as System“, das etwas verlangt?

Frage 2:

  • Würden Sie denn sagen Rassismus und Sexismus sind soziale und politi­sche Voraussetzungen für den Kapitalismus?“ (ab Min. 20:09)

Nancy Fraser antworte auf diese Frage zunächst nicht direkt, sagte dann aber ab Min. 22:32:

„Das System verlangt, daß irgendjemand feminisiert und rassifiziert wird – sonst würde es nicht funktionieren; sonst müßte man allen Menschen die vollen Repro­duktionskosten ihrer Arbeit zahlen.“

Dazu ist zweierlei anzumerken:

1. Ist die These, Das System verlangt, daß irgendjemand feminisiert und rassifiziert wird – sonst würde es nicht funktionieren“, nicht doch (in die eine oder andere Richtung) eine kausale These:
Nihil fit sine causa: Patriarchat und Rassismus sind Ursache ‚des Kapitalis­mus‘. Ohne Patriarchat und Rassismus könnte ‚der Kapitalismus‘ nicht funktionieren – wäre er also auch nicht entstanden / hätte sich nicht durchset­zen können
▪ oder aber umgekehrt: Weil ‚der Kapitalismus‘ auf sie angewiesen ist, hat ‚der Kapitalismus‘ Sexismus und Rassismus geschaffen?

Bzw. noch einmal: Was ist ‚das System‘? Klar: ‚Die Gesellschaft‘ in den USA oder der BRD wäre eine ziemlich andere, wenn es keinen Rassismus und keinen Sexis­mus mehr gäbe. Aber gäbe es dann (zwangsläufig) auch keinen Kapitalismus mehr? Welchen Sinn / welche heuristischen Nutzen hat es also, das „komplette Gesell­schaftssystem“ „Kapitalismus“ zu nennen?

2. Die Formulierung, „sonst müßte“ [Konjunktiv!] man allen Menschen die vollen Re­produktionskosten ihrer Arbeit zahlen“, impliziert die Behauptung, daß dies tatsäch­lich nicht der Fall sei. Diese implizierte Behauptung dürfte aber nicht haltbar sein:

▪ Eine Person, die nicht ihre vollen Reproduktionskosten erstattet bekommt, könnte in aller Regel nicht lange überleben – da sie alsbald überschuldet wäre oder aber ein großes Vermögen (geerbt) haben müßte, von dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten kann.

Das Problem ist nicht, daß manche Leute nicht ihre vollen Reproduktionskos­ten erstattet bekommen, sondern zum einen, daß nicht allen Leute das glei­che (bzw. von ihnen jeweils gewünschte) Reproduktionsniveau zugestanden wird:

„Der Wert der Arbeitskraft, gleich dem jeder andren Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit. […]. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eignen Reproduktion oder Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeits­kraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel. […]. Wenn der Eigentümer der Arbeitskraft heute gearbeitet hat, muß er denselben Pro­zeß morgen unter denselben Bedingungen von Kraft und Gesundheit wiederholen können. Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Indivi­duum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentüm­lichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürf­nisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch we­sentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohn­heiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Ar­beitskraft ein historisches und moralisches Element.“ (MEW 23, 184, 185 – Das Kapital. Erster Band; mein Hv.)

Das andere Problem ist, daß manche (die meisten) Individuen Reproduktions­kosten haben und ihnen Geld (Lohn, Lohnersatzleistungen, Unterhalt etc.) zur Verfügung gestellt wird, mit dem sie diese Reproduktionskosten decken kön­nen, während anderen kein Geld gegeben wird, sondern sie die „Summe von Lebensmitteln“, die zur Erhaltung deren Arbeitskraft notwendig ist, in Natural­form erhalten (SklavInnen und – unvermeidlicherweise – Kinder) – sodaß die­se Menschen kein Geld erhalten (oder nur ein „Taschengeld“), sodaß sie also auch keine (oder nur kaum) Reproduktionskosten haben können – mit der Folge geringerer Dispositionsfreiheit über die eigene Reproduktion.

▪ Sehen wir uns nun eine fordistische ‚Nur-Hausfrau‘ (ohne eigenes Vermögen, von dessen Erträgen sie leben kann) an: Sie bekommt / bekam, soviel Unter­halt, wie nötig, damit ihre Arbeitskraft als Köchin, Putzkraft, Kindererzieherin usw. auch am nächsten Tag wieder einsetzbar ist – und dies auf dem histo­risch-kulturellen Niveau des jeweiligen Landes und der jeweilige Klasse bzw. Schicht innerhalb einer Klasse.

▪ Unter neoliberalen Bedingungen hat diese Frau weniger Kinder, es werden mehr Dienstleistungen in Anspruch genommen, es gibt (jedenfalls in einigen Ländern) mehr öffentliche Kinderbetreuung, sie selbst ist unter Umständen teilzeit-erwerbstätig und bekommt dann einen entsprechend verminderten Un­terhalt. Ihre Reproduktionskosten sind – in den o.g. Variabilitätsgrenzen – durch die Summe von Erwerbsarbeits-Engelt und Unterhalt weiterhin gedeckt.

Der Ehemann bekommt wiederum soviel Lohn, daß er sich – wiederum auf dem jeweiligen historisch-kulturellen Niveau – den Unterhalt für eine Ehefrau und Kinder leisten kann. An Ehefrauen und ‚Ersatzehefrauen‘ hatte Marx zwar nicht gedacht – aber im Prinzip hat er diesen Sachverhalt erkannt: Die Reproduktionskosten umfassen nicht nur die eigenen Reproduktionskosten, sondern auch die Reproduktionskosten von Mitgliedern desselben Haushalts / derselben Kleinfamilie, die (noch) nicht erwerbstätig sind

„Die durch Abnutzung und Tod dem Markt entzogenen Arbeitskräfte müssen zum allermindesten durch eine gleiche Zahl neuer Arbeitskräfte beständig ersetzt wer­den. Die Summe der zur Produktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel schließt also die Lebensmittel der Ersatzmänner ein, d.h. der Kinder der Arbeiter“ (ebd., 186)

Das historisch-kulturellen Reproduktionsniveau ist zwischen Essenslieferan­tInnen, PaketbotInnen, etc. einerseits und FacharbeiterInnen bei Daimler-Benz oder StudienrätInnen an Gymnasium xy andererseits ziemlich unter­schiedlich – aber klar ist: (abgesehen von Vermögensentnahmen) kann auf Dauer kein Mensch höhere Reproduktionskosten als Einnahmen haben. Es bekommen also sehr wohl alle Menschen ihre volle Reproduktionskosten be­zahlt – nur bekommen nicht alle Menschen die gleichen Reproduktionskos­ten zugestanden; das ist ein Unterschied!

Eine drittes Problem ist, daß Ehemänner unter Umständen immer noch mehr oder minder über die Verwendung des Unterhalts von Ehefrauen mitentschei­den (daß der ‚Familienlohn‘ in der Regel durch ihre Taschen fließt, gibt ihnen jedenfalls ein starke inner-familiäre Machtstellung) – dies hat aber nichts mit der kapitalistischen Produktionsweise zu tun, sondern mit dem Patriarchat. (Auch die Unterschiede im historisch-kulturellen Niveau der Lohnabhängigen und anderer Arbeitskräfte ergeben sich nicht [‚mathematisch‘] aus den Funkti­onsmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise [freier und gleicher Warentausch unter den Bedingungen ungleichen Produktionsmitteleigen­tums], sondern das „historische und moralische Element“ der „Wertbestim­mung der Arbeitskraft“ ist eine ‚Schleuse‘, durch die Rassismus und Sexismus in die Wertbestimmung einfließen – was wiederum ein Grund dafür ist, daß die kapitalistische Produktionsweise in aller Regel nicht in ‚Reinform‘ existiert, sondern in historisch-konkreten Gesellschaftsformationen durch andere Herr­schafts- und Ausbeutungsverhältnisse sowie Produktionsweisen mehr oder minder überdeterminiert [überlagert] ist.)

Ein viertes – in allen Gesellschaften, die nicht Gesellschaften des allgemeinen Überflusses sind, nur schwer zu vermeidendes – Problem ist, daß Menschen, für deren Arbeitskraft ein unterdurchschnittlicher Bedarf besteht, nur ein unterdurchschnittliches Reproduktionsniveau zugestanden wird (es gibt insoweit – neben dem historisch-moralischen – auch materielles Element in Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft). Diejenigen, die ihre Arbeitskraft, nur 2 (statt 8 Stunden) am Tag oder gar nicht verkaufen können, bekommen auch nur ca. ¼ Tageslohn bzw. gar keinen Lohn; in Ländern mit gewisser ‚Sozialstaatlichkeit‘ bekommen sie (außerdem) Arbeitslosengeld. Aber auch diese Menschen können (auf Dauer) keine höhere Reproduktionskosten haben, als sie erstattet bekommen, sondern können nur in begrenzten Ausmaß Reproduktionskosten generieren / ihren Bedarf nur begrenzt kostenpflichtig decken.

Die Konstruktion von gender beruht auf einer materiellen Grundlage – aber ist diese Grundlage eine kapitalistische?

Frage 3:

  • Haben wir es hier [bei dem Umstand, daß es in letzten Jahren mehr um se­xuelle Gewalt, Abtreibung, den gender pay gap usw. als um gut bezahlte Sor­gearbeit oder die Abschaffung des Kapitalismus ging] mit falschem Bewußt­sein zu tun?“ (ab Min. 23:38 bzw. 23:26)

Fraser antwortete auch auf die Frage nach „falschen Bewußtsein“ nicht direkt, aber nutzte ihre Antwort, um ihre Hauptthese ein weiteres Mal zu relativieren:

„So wie ich die Behauptung aufstelle, daß Feminismus eine Arbeiterbewegung ist, meine ich nicht, daß tatsächlich jede Forderung der Feministinnen oder jedes Pro­blem, das Frauen haben, im engeren Sinne mit Arbeit verbunden sind. Es bedeutet, daß die Konstruktion von gender und [von12] Weiblichkeit als Gegenstück zu Männ­lichkeit fundamental auf einer materiellen Grundlage beruht.“ (ab Min. 23:53)

Insbesondere dem letzten Satz kann zugestimmt werden – aber die entscheidende Frage lautet: Ist diese „materielle Grundlage“ des patriarchalen Geschlechterverhält­nisses ‚der Kapitalismus‘? Oder hat das patriarchale Geschlechterverhältnisse eine eigene materielle Grundlage? Ist die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung eine kapitalistische oder eine patriarchale? (Wenn wir sagen, daß das Charakteristische der kapitalistische Produktionsweise ist, daß auch die Arbeitskraft eine Ware ist und Warentausch per definitionem zwischen freien und gleichen WarenbesitzerInnen stattfindet, dann läßt sich nicht die These begründen, daß ‚der Kapitalismus‘ die so­ziale und lange Zeit auch juristische Ungleichheit der Geschlechter im allgemeinen und die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung geschaffen habe – dann läßt sich vielmehr nur sagen, daß die kapitalistische Produktionsweise, als sie sich gegen die feudale durchsetzte, bereits ein patriarchales Geschlechterverhältnis vorfand.)

Wider den romantischen Blick auf die vor-kapitalistischen Verhältnisse

Statt auf diese Fragen einzugehen, setzt Fraser dann aber wie folgt fort:

„Das hat zu tun mit der Trennung in sog. produktive und reproduktive Arbeit. Das ist im übrigen spezifisch für den Kapitalismus.“ (ab Min. 24:16)

Letzteres ist zutreffend, da sich erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Pro­duktionsweise und der industriellen Produktion eine örtliche (räumliche) Trennung eines Teils der Arbeit von der Wohnung ergab – jedenfalls, wenn wir die Felder ei­nes BäuerInnenhofes noch zum räumlichen Bereich der bäuerlichen Wohnung zäh­len und, wenn wir davon ausgehen, daß sich Wohnung und Werkstatt von vor-mo­dernen Handwerker(innen) im selben Gebäude befanden.

Dies ist aber für die Beantwortung unserer und auch Frasers eigener Frage (Haben wir es nur mit einem System oder mit mehreren zu tun?) nicht der ausschlaggeben­de Gesichtspunkt – außer es würde behauptet, es habe vor Trennung von häusli­cher und außerhäuslicher (Re)Produktion kein patriarchales Geschlechterverhältnis gegeben. Vielmehr gab es aber
sowohl in Gesellschaftsformationen, in denen die (antike) Sklaverei die (unter Klassen-Gesichtspunkten) herrschende Produktionswei­se war,
als auch in Gesellschaftsformationen, in denen die feudale Produktionswei­se (unter Klassen-Gesichtspunkten) die herrschende war,
ein patriarchales Ge­schlechterverhältnis – dies ist jedenfalls unter MarxistInnen, die sich an Friedrich Engels (der das Patriarchat mit dem Privateigentum und den ersten Klassen begin­nen ließ) orientieren, unstrittig; und auf dem heutigen Forschungsstand wird über­wiegend davon ausgegangen, daß es auch bereits in Nicht-Klassengesellschaften ein patriarchales Geschlechterverhältnis gab.

Gab es aber schon vor-kapitalistische Patriarchate, dann kann die kapitalistische Produktionsweise jedenfalls nicht die Ursache des patriarchalen Geschlechterver­hältnisses sein – auch wenn sie mit diesem „verwoben“ (entangled) (ab Min. 2:23 bzw. Min 2:21) ist.

„Lohn für Hausarbeit“ – war/ist das eine richtige (feministische und linke) Forde­rung?

Fraser sagte dann noch:

„Ich denke […], es gibt eine ganze Reihe von feministischen Kämpfen, die sehr eng mit dem Thema ‚Arbeit‘ verbunden sind, darunter Forderungen nach großzügigerer Elternzeit, nach Altenpflege, nach Kinderbetreuung – all das sind Kämpfe für die Neubewertung reproduktiver Arbeit – nicht […] in einem profit-orie­nierten Rahmen. Es geht darum zu sagen, daß die Gesellschaft diese Arbeit wert­schätzt und bereit ist, dafür zu zahlen und sie zu organisieren – und das großzügig und auf hohem Niveau, was bedeutet die Menschen über den Profit zu stellen. […]. An­statt diese [care-Arbeit] als bloße Stütze der echten Arbeit anzusehen, sagen wir: Laß uns das Ganze umkehren – laß uns profit-basierte Arbeit als Stütze der Repro­duktion behandeln.“ (ab Min. 25:35)

Diese Ausführungen zeugen leider mehr von gutem Willen als politischer Klarheit:

▪ Die Forderung nach „großzügigerer Elternzeit“ ist weder originär links noch originär feministisch; sie kann genauso gut auch aus pro-natalistischer, kon­servativer (bevölkerungs)politischer Motivation formuliert werden.
Feministisch ist sie nur, soweit zugleich gefordert wird, die Elternzeit so aus­zugestalten, daß sie von Vätern und Müttern zu gleichen Teilen genommen wird.
Links ist die Forderung nur, soweit sie mit einer Forderung nach Lohnfortzah­lung oder Lohnersatzleistung verbunden – und letztere nicht aus dem Steuer­aufkommen oder Sozialversicherungsbeiträgen der Lohnabhängigen (son­dern – ähnlich wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder der bezahlte Urlaub – von der kapitalistischen Klasse) finanziert wird.

▪ Die Forderung, „die Menschen über den Profit zu stellen“, ist eine idealisti­sche Phrase, die außer Acht läßt, daß „die Menschen“ in Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen ganz unterschiedlich positioniert sind – und die Profite in die Taschen einer (nicht ganz kleinen) Anzahl von Menschen fließt. Wir haben es also nicht mit einem Konflikt zwischen ‚den Menschen‘ und ‚dem Profit‘ zu tun, sondern mit Konflikten zwischen gesellschaftlichen Grup­pen, die bestimmte Positionen in der Gesellschaftsstruktur einnehmen – und die aus Menschen bestehen.

▪ Die Forderung, „daß die Gesellschaft diese Arbeit [reproduktive Arbeit] wert­schätzt und bereit ist, dafür zu zahlen“, krankt an der Abstraktheit der Formu­lierung „die Gesellschaft“ und der Weite des Ausdrucks „reproduktive Arbeit“. Welche Leute / Gruppen (oder vielmehr: der Staat?) soll(en) welche reproduktive Arbeit bezahlen?
Wenn ich mir die Zähne putze, ein Frühstücks-Ei koche oder die Haare färbe ist das auch reproduktive Arbeit. Aber wäre es eine sinnvolle Forderung, daß ich dafür bezahlt werde? Wäre nicht die viel angemessenere Forderung, die Erwerbsarbeitszeit so zu begrenzen, daß alle Menschen genug Zeit für solche self care-Arbeit haben bzw., daß – solange es Lohnarbeit, Waren, Geld usw. gibt – alle Leute bei der Erwerbsarbeit so viel verdienen, daß sie sich immer, wenn sie eine neue Haarfarbe haben wollen, einen Besuch in einem Frisier­salon leisten können?
Nicht ganz so absurd ist die Forderung nach Bezahlung reproduktiver Arbeit, wenn es um Arbeit geht, die insbesondere Frauen für andere Mitglieder ihres Haushalts oder für Verwandte leisten. Aber welche Person soll dann zahlen: Die Person, die die Arbeit bzw. das Produkt der Arbeit konsumiert? Der Staat? Das (bzw. die) Unternehmen, bei dem die vollzeit-erwerbstätige Person(en) des gleichen Haushalts tätig sind? Und was ist, wenn alle Haushaltsangehöri­gen bereits im Rentenalter sind? Was ist, wenn alle Haushalts-Angehörigen, die im Erwerbsalter sind, vollzeit-erwerbstätig sind? Ist dann die Forderung nach Bezahlung noch sinnvoll (falls überhaupt) oder verhält es sich dann ge­nauso wie in Bezug auf self care-Arbeit?

Und war die Forderung von einigen 70er Jahre-Feministinnen nach „Lohn für Hausarbeit“ eigentlich richtig? Oder war sie vielmehr falsch, von weil von de­ren Realisierung eher eine Verfestigung als Überwindung der geschlechtshi­erarchischen Arbeitsteilung zu erwarten war?
Insgesamt scheint mir, daß Fraser vier Dinge (Sachverhalte) nicht richtig klar sind (oder, daß sie sie jedenfalls bei ihrer Forderung nicht berücksichtigt):
▫ Jede Verausgabung von Arbeit hat bereits einen nützlichen Effekt (dieser Nutzen mag nur für einige Leute bestehen oder umstritten sein [z.B.: Atomwaffen] oder mag ziemlich unstrittig sein [Krankenbehandlung für Leute im Erwerbsalter oder das Putzen der eigenen Zähne]). Es ist dieser Nutzen / Effekt der Arbeit der konsumiert/genossen werden kann. – Eine Bezahlung von Arbeit fügt diesem Nutzen – auf der gesellschaftlichen Ebene – nichts hinzu: Sie ist nur eine gesellschaftlich Form, die Verteilung von Arbeit und Konsum zu regeln.
▫ Soll nicht nur Spielgeld verteilt werden, muß jeder Zahlung ein kaufbares Gut oder eine käufliche Dienstleistung gegenüberstehen. Nur Zahlungen (für die einen Leute) auszuweiten, ohne entweder die Produktion zu stei­gern oder aber anderen Leuten etwas wegzunehmen, kann nicht funktio­nieren – weder unter kapitalistischen Verhältnissen noch in einer sozialisti­schen Übergangsgesellschaft.
Und was die individuelle Ebene anbelangt, so besteht im Falle von self care-Arbeit kein Grund, etwas hinzuzufügen: Wenn ich saubere Zähne habe, bin ich schon ‚belohnt‘.
▫ In der kommunistischen Produktionsweise würde keinerlei Arbeit bezahlt; es würden auch keinerlei stofflichen Güter bezahlt; es gäbe nicht einmal Geld. Es würde vielmehr das Prinzip gelten: „Jeder nach seinen Fähigkei­ten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (MEW 19, 11 – 32 [21]) / „Jede nach ihren Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen.“ Das heißt: Die Verteilung von Arbeit und Konsum würde auf nicht-herrschaftliche und nicht-ausbeuterische Weise geregelt.

▫ Nach der Zeitverwendungs-Statistik des Statistischen Bundesamtes für 2012/2013 (S. 11 – 14) (in diesem Jahr wird eine neue Zeitverwendungs-Erhebung durchgeführt: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/10/PD21_468_63991.html) verwandten diejenigen, die im Erhebungszeitraum 10 Jahre oder älter waren, im Durchschnitt
▫▫ nur 2:43 Std.:Min. pro Tag für Erwerbsarbeit (die niedrige Zahl erklärt sich aus der Einbeziehung von Jugendlichen, RentnerInnen, ‚Nur-Hausfrau­en- und -männern‘ sowie Wochenenden) und weitere 0:32 Std.:Min. für Bildung und Qualifikation – also zusammen knapp 3 1/4 Stunden,
▫▫ aber 3:07 Std.:Min. für Haushaltsführung und Betreuung in der Familie und weitere für 14 Minuten für Ehrenamt und Unterstützung anderer Haushalte.
▫▫ Die Lohnquote betrug 2012/13 circa 70 %; im Moment liegt sie etwas höher; vor der Beginn der Covid-19-Pandemie war sie noch höher; auf dem Höhepunkt des Neoliberalismus betrug sie ca. 65 %.

▪ Daraus folgt: Würden die gut drei Stunden Hausarbeit pro Tag genauso bezahlt wie die 2 ¾ Stunden Erwerbsarbeit, würden die ca. 30 % Ein­kommen aus UnternehmerInnentätigkeit und Vermögen bei weitem nicht ausreichen; es müßte auch Einkommen zwischen der alten Er­werbsarbeit und zusätzlichen Erwerbs- (= bisher unentlohnten Hausar­beit) umverteilt werden. Das wiederum heißt: Auch lohnabhängige Männer müßten Federn lassen – das harmonisierende Modell, ‚Wir sorgen für Einkommensgleichheit zwischen den Geschlechtern, indem auch die Haus- und Erziehungsarbeit bezahlt und die bis­her schon entlohnte care-Arbeit besser bezahlt wird und halten uns dabei an der herrschenden Klasse schadlos‘, kann nie und nimmer aufgehen!
▪ Unklar bleibt auch, was Fraser mit ihrer Formulierung, „profit-basierte Arbeit als Stütze der Reproduktion [zu] behandeln“, genau meint.

Frage 4:

  • Wenn wir also diese ganze unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorge- oder care-Arbeit in unser kapitalistisches Lohnarbeitssystem integrieren würden, würde der Kapitalismus dann zusammenbrechen?“ (ab Min: 26:24)

Auf diese Frage antwortete Fraser vorsichtig:

„Zusammenbruch – ich weiß nicht. Ich denke: Die Privilegien des Kapitalismus ein­geschränkt.“ (ab Min. 25:24)

Auch die Formulierungen „Privilegien des Kapitalismus“ zeigt, daß Fraser keinen klaren – oder jedenfalls keinen marxistischen – Kapitalismus-Begriff hat, sondern mit „Kapitalismus“ etwas ähnliches wie „Neoliberalismus“ meint.

(Danach folgt dann die bereits in Teil I dieser Interview-Rezension besprochene Passage zu einem hypothetischen „öko-feministischen Kapitalismus“. Darauf muß hier nicht erneut eingegangen werden.)

Patriarchat und Rassismus – bloß ein „psychologischer Lohn“ für Männer und Weiße?

Frage 5:

  • Die sogenannten Arbeiterklasse, Frauen und rassistisch diskriminierte Leute haben sich ja bislang nicht unter dem Dach eines gemeinsamen Arbeits­kampfes versammelt, und sie tun es auch jetzt nicht. Aus einer historischen Perspektive nehmen sich diese drei Gruppen sogar oft als Gegner wahr – und gibt es dafür nicht öfter auch gute Gründe?“ (ab Min. 28:09)

Auf diese Frage antwortete Fraser unter anderem:

„Er [Du Bois] argumentierte, daß weiße Arbeiter mehr zu gewinnen als zu verlieren hatten, wenn sie sich mit schwarzen Arbeitern zusammentaten. […]. Das, was sie bekommen, sagte er, ist eine Art psychologischer Lohn, das heißt: eine Art standing, eine Anerkennung, daß sie weiß sind – nicht, wie ‚die da‘. Aber sie verlieren auch sehr viel: Einmal insgesamt gesehen auf der Lohnseite. Denn, wenn man eine stär­kere Arbeiterbewegung hätte, die alle zusammenbringt, wäre man auch stärker im Widerstand gegen das Kapital, im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Be­zahlungen. Aber noch entscheidender als das ist die Tatsache, daß sie die politische Macht verlieren, die Art demokratischer Gesellschaft aufzubauen, in der die Arbeit­nehmerInnen bestimmen. […]. Es geht nicht nur darum, daß ich vielleicht weniger Dinge haben werde, sondern darum, ob ich ein erfüllenderes, emotionaler reichhalti­ges, befriedigendes Leben haben werde. Das ist etwas, von dem ich mir sicher bin, daß es uns der Kapitalismus nicht geben kann. Alles, was der zu bieten hat, wird als Handelsware eingeebnet – also einfach zu einer Form von Konsum. Und was wird auf die Dauer ein wenig schal; uns wird etwas weggenommen vom qualitativen As­pekt des Lebens.“ (ab Min. 29:24)

Auch hier geht wieder einiges durcheinander – z.B.
▪ die Frage, ob auch weiße Lohnabhängige in einer kommunistischen oder an­archistischen Gesellschaft (also – per definitionem – einer Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung) einen Vorteil gegenüber dem status quo hätten;
▪ die – von Fraser ausgespart – Frage, ob denn die (weißen und schwarzen) Lohnabhängigen überhaupt eine kommunistische Gesellschaft wollen – und falls nicht, warum nicht?
▪ die Frage, ob Weiße (Lohnabhängige und KapitalistInnen) vom Rassismus (entsprechend: weiße und schwarze Männer vom Patriarchat) einen Vorteil haben
und
▪ die Frage, ob mehr Einheit wirklich immer Stärke (gegen den Kapitalismus) bedeutet. Das Problem ist doch jedenfalls weniger, daß sich schwarz rassifi­zierte bzw. migrantische Lohnabhängige weniger an Streiks oder Kämpfen gegen ‚den Kapitalismus‘ beteiligen würden als weiße – das ist vielleicht so­gar eher umgekehrt –, sondern, daß Weiße nicht gerade an erster Stelle ste­hen, wenn es darum geht, sich für Lohngleichheit und gleiche staatsbürgerli­che Rechte aller (dauerhaften / nicht nur touristischen) EinwohnerInnen eines jeden Landes und gegen das globale Machtgefälle zwischen dem Nordwes­ten und Südosten der Welt einerseits und dem großen Rest der Welt anderer­seits einzusetzen.

Frage 6:

  • Dann kommen wir jetzt also zur Schlüsselfrage zurück: Was sind die wich­tigsten Voraussetzungen, daß sich verschiedene soziale Gruppen als Verbün­dete mit gemeinsamen Interessen erkennen?“ (ab Min. 32:41)

Auf die letzte Frage antwortete Nancy Fraser unter anderem:

„[…] alles kommt darauf an, welche Narrative dominieren. Da bin ich wieder bei dem Begriff Hegemonie und Gegenhegemonie. Man muß einen Rahmen greifbar machen, der einem erlaubt, die eigene Situation zu interpretieren. Es hängt davon ab, wie ich mein Problem definiere, was ich als Ursache des Problems betrachte; wen ich als potentielle Verbündete für die Lösung des Problems wahrnehme. Das braucht man, um ein gegenhegemoniales Verständnis zu entwickeln – eine Art zu denken. Wenn man die einmal hat, werden viele Dinge möglich, die sonst nicht möglich wären.“ (ab Min. 35:43)

„[W]as ich als Ursache des Problems betrachte“, unter dem Gesichtspunkt „Hege­monie und Gegenhegemonie“ zu bestimmen, hört sich ziemlich politzistisch (unana­lytisch) an – verzichtet auf den Anspruch des (historischen) Materialismus auf Ob­jektivität auf – und biegt die Ursachenanalyse so zurecht, wie es (vermeintlich) poli­tisch nützlich ist, „um ein gegenhegemoniales Verständnis zu entwickeln“. Für „nütz­lich“ sieht es Fraser an, wenn ‚alle möglichst gemeinsam kämpfen‘ – und dies mag einfacher zu erreichen sein, wenn alle nur eineN GegnerIn haben – und so erscheint es dann als politisch opportun, den Gegner als ‚der Kapitalismus‘ bzw. „one and the same social system“ zu bestimmen, wohl Fraser weiß, daß es so einfach nicht ist („Ich biete keine […] kausale Erklärung“ – sowie: „ich weiß nicht“ als Antwort auf die Fra­ge: Wenn wir also diese ganze unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorge- oder care-Arbeit in unser kapitalistisches Lohnarbeitssystem integrieren würden, würde der Kapitalismus dann zusammenbrechen?“).

Die Einsicht, daß die Konstruktion von gender eine materiellen Grundlage hat, wird (dadurch, daß diese materielle Grundlage mit ‚dem Kapitalismus‘ identifiziert wird) beisei­te geschoben: Die Angehörigen der herrschenden Klasse erscheinen als diejenigen, die von unentlohnter Hausarbeit und Rassismus profitieren; für Männer und Wei­ße bleibt vom patriarchalen Geschlechterverhältnis und Rassismus nur ein „psycho­logischer Lohn, das heißt: eine Art standing, eine Anerkennung“ (ab Min 29:27) üb­rig, womit dann wieder bei Max Webers Ständen – bei einer „Privilegierung in der sozialen Schätzung“ (Weber) – sind. Gegenüber diesem „psychologische[n] Lohn“ erscheint als ausreichend, mit einem „erfüllendere[n], emotionaler reichhaltige[n], be­friedigende[n] Leben“ (ab Min. 31:19) zu locken.

Das ist keine materialistische Analyse, sondern ein moralischer Voluntarismus; rea­listischer wäre, „die auf der gesellschaftlichen Ebene bestehenden Widersprüche voll anzuerkennen“ (siehe dazu sogleich im Resümee).

Resümee:
Für einen feministisch revidierten, ‚orthodoxen‘ Marxismus – statt für einen we­berianisch revidierten Feminismus

1. Zurück bleibt ein zwiespältiger Eindruck:

▪ Einerseits sagt Nancy Fraser,
▫ „daß man keine offizielle Ökonomie im kapitalistischen System haben kann, wenn man nicht gleichzeitig eine große Menge Arbeit und andere Aktivität und andere Formen von Reichtum hat, die sich in Bereichen be­finden, die außerhalb der offiziellen Wirtschaft verortet werden“.
▫ Und: „Das System verlangt, daß irgendjemand feminisiert und rassifiziert wird – sonst würde es nicht funktionieren; sonst müßte man allen Men­schen die vollen Reproduktionskosten ihrer Arbeit zahlen.“

▪ Andererseits sagt sie:
▫ „Ich biete keine […] kausale Erklärung“.
▫ und (als Antwort auf die Frage: Wenn wir also diese ganze unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorge- oder care-Arbeit in unser kapitalistisches Lohnarbeitssystem integrieren würden, würde der Kapitalismus dann zu­sammenbrechen?“): „Zusammenbruch – ich weiß nicht.“

Die starken Thesen Frasers, die auf kritische Nachfragen der Interviewerin dann ebenso stark relativiert werden, beruhen also letztlich auf Frasers Sprach-Konventi­on alles, was in einer Gesellschaft stattfindet, in der es auch Kapitalismus gibt, ebenfalls kapitalistisch zu nennen.

2. Zwar ist Marxismus in der Regel klassenreduktionistisch, aber mir scheint zweier­lei:

▪ Der ‚orthodoxe‘ Marxismus – mit seinem engen Begriff von kapitalistischer Produktionsweise und dem daneben stehenden Begriff der Gesellschaftsfor­mation ist – wenn er um den Begriff der „häuslichen Produktionsweise“ (Christine Delphy) ergänzt und von seinem Klassen­reduktionismus befreit wird – besser geeignet, die Komplexität der gesell­schaftlichen Verhältnisse abzubilden und den politischen Kampf gegen diese anzuleiten als Frasers weberianisch inspirierter weiter/vager Kapitalismus-Begriff.

▪ Besser – als durch Begriffsakrobatik auf der Ebene der sozialen Bewegungen – zu versuchen, den Kampf gegen die verschiedenen Herrschafts- und Aus­beutungsverhältnisse zusammenzubinden, ist es
▫ die auf der gesellschaftlichen Ebene bestehenden Widersprüche voll an­zuerkennen (d.h.: Frasers verbalen Bekenntnisse zu Intersektionalität [ab Min. 3:48] und Autonomie der Bewegungen [ab Min. 4:09] ‚mit Leben zu füllen‘)
und
▫ das ‚Zusammenbinden‘ nur auf der Ebene politischen Organisierung – mit entsprechenden strengen Mitgliedschaftskriterien – zu versuchen.


Mit Fußnoten versehene Version dieses Artikels (Teil I und II als eine .pdf-Datei): http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2022/06/Fraser_Alles_Kapitalismus_Teil_I_u_II_komplett.pdf (31 Seiten)


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