vonDarius Hamidzadeh Hamudi 29.09.2025

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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März 1895. New York war eine andere Welt. Kutschen fuhren durch die nummerierten Straßen, das Hufgetrappel gehörte unverkennbar zum Sound der Metropole. Wie ein Magnet zog das Opera House in Chatham die Menschen an. Das Publikum war anders als im Süden. Hier saßen Familien, deren Väter gegen die Sklaverei in den Krieg gezogen waren. Das Programm des »Texas Medley Quartette« bestand aus südlichen Plantagenliedern sowie pathetischen und humorvollen Songs. Wenn sie ihre Stücke intonierten, ernteten sie weder Hohn noch Spott. Wie unterschiedlich die Leute auf dieselben Songs reagierten! Scott hatte die Melodiestimme, besonders seine selbst geschriebenen Lieder fanden Anklang. In »Please Say You Will« flehte er seine Liebste an, ihm einen Flirt mit einer anderen Lady zu verzeihen. »Ist dein Herz versiegelt? Vergibst du mir nicht? Muss ich niederknien?« Scott schob die Schuld auf »die andere Lady«, die ihm schöne Augen gemacht hatte. Das Publikum lachte, es sollte auch lustig sein. Aber das Gelächter war weich und freundlich, frei von Häme. Die Menschen ließen sich vom Gesang anrühren. – Es war bereits Scott Joplins zweites Gastspiel in New York. Bestimmt würde er hierher zurückkommen.

Pie Eating Contest

Der Cakewalk bildete den Abschluss des musikalischen Teils. Dann sollte die Show im Chatham Opera House mit einem Kuchenwettessen ihren Höhepunkt erreichen. Die verschiedenen Kuchen wurden auf niedrigen Hockern zu ihnen hinauf getragen. Es ging darum, sie so schnell wie möglich ohne Besteck und sogar ohne Hände zu essen. Eine Lady mit falschem Sheriffstern – halb Witzfigur, halb Dompteurin – trat auf. Sie legte Scott und den anderen Handschellen an, die klirrend zuschnappten. In New York war es üblich, dass auch würdevolle Gentlemen und schöne Ladys an solchen Wettbewerben teilnahmen. Dann gab sie das Kommando: »Ready – Set …«  Sie machte es spannend und zögerte den Start heraus. Obwohl es sich um eine reine Spaßveranstaltung handelte, lag eine gewisse Spannung im Saal, fast wie bei einem Boxkampf. Sobald sie »Go!« gerufen hatte, ging es los. Scott und die anderen fielen auf die Knie, beugten sich hinunter und stürzten sich auf die Kuchen. Sie fraßen, lachten und husteten. Sie hatten fünf Minuten Zeit. Pleasant war nicht zu stoppen. Wie machte er das bloß? Im Publikum hielt es niemanden mehr auf den Plätzen. Die Leute johlten, klatschten und feuerten sie an. Die Dramaturgie der Show zwang die Musiker, sich in maßlose Kreaturen zu verwandeln.  …

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Ritterschlag 

Vor einem halben Jahr war Scott zusammen mit Pleasant, Richard und Grant zum ersten Mal auf Tournee gegangen. Die Liste der Staaten, in denen sie aufgetreten waren, war immer länger geworden: Nebraska, Iowa, Minnesota, Wisconsin, Ohio, Massachusetts, New York. In Milwaukee/Wisconsin sangen sie in einer Kirche, in St.Paul/Minnesota in Hotellobbys und auf der Straße gegen Trinkgeld. Sie hatten einen Trick: Sobald sie in eine neue Stadt kamen, gingen sie schnurstracks zur örtlichen Zeitung und gaben eine Privatvorstellung. Die Strategie funktionierte. Die Zeitungen kündigten die Auftritte freundlich an und fanden oft ein paar lobende Worte für die jungen Sänger. Aber was in Syracuse/New York passierte, war unglaublich. Nach der Show stand auf einmal der Juwelier und Musikalienhändler Mantell vor ihm. Er wollte »Please Say You Will« drucken lassen – als Sheet Music. Bis zu diesem Zeitpunkt war Scott Joplin nur ein tingelnder Musikant, dessen Lieder im Augenblick verklangen. Doch jetzt würde sein Name groß auf einem Notenblatt erscheinen, und die Leute würden sogar Geld dafür bezahlen, seine Musik nachzuspielen. Er war …, ja, es stimmte wirklich … Scott Joplin war Komponist.

 

Anmerkungen

  • Edward A. Berlin: »King of Ragtime. Scott Joplin and His Era«, Oxford University Press, 2nd Edition, 2016, S.10-17.
  • Das Kuchenwettessen am 12.3.1895 in Chatham (NY) ist durch eine Zeitungsnotiz belegt; die Beschreibung des Ablaufs folgt vergleichbaren Veranstaltungen, die damals in Mode waren.

 

Musik

  • »Please Say You Will« ist der erste Song, den Scott Joplin als Notensatz auf einem Papierbogen veröffentlicht hat (»Sheet Music«). Bei dem Lied handelt es sich nicht um einen Ragtime, sondern um ein sentimentales Salonstück, ein Genre, das sich damals großer Beliebtheit erfreute. Der Sheet Music Singer hat den Song aufgenommen und vermittelt einen Eindruck, wie Scott Joplins Frühwerk ungefähr geklungen haben mag (YouTube-Link).

 

Über die Serie: Ragtime Stories – Variationen über Scott Joplin

Ragtime Stories erzählen kurze Episoden aus dem Leben von Scott Joplin. So entsteht nach und nach eine literarische Biografie über den us-amerikanischen Komponisten und seine Zeit. Die einzelnen Folgen tragen Titel von Scott Joplins Musikstücken und ergeben somit auch eine kleine Werkschau des bedeutenden Musikers.

 

 

 

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