vongnu 01.10.2018

GNU – Literarische Grotesken

Damals wie Heute das zynische Lächeln über die menschliche Irrfahrt. | © Fabian Fox Fotografie

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Sie fuhr nachts auf dem Beifahrersitz neben mir, die Sonnenbrille verdeckte ihre Augen.  Sie war deswegen fast blind, doch weigerte sich vehement die schwarz-getönten Gläser auch nur ein einziges Mal von ihrem bebenden Nasenflügel zu hieven. Die Nacht war sternlos, dunkel, urzeitlich.
»Nur Schemen, Silhouetten und dunkle Geister.«
»Augen verraten zu viel«.
Wir fuhren lange so dahin. Wir sprachen nicht. Da war einfach nichts. Nur sie, Schemen,
Silhouetten, dunkle Geister und ihre Sonnenbrille. Dann war es vorbei.

»Was kannst du?«
»Ich kann Gitarre spielen, gut Gitarre spielen, ich sehe gut aus!«
»Was kannst du?«
»Ich kann Gitarre spielen, gut Gitarre spielen, ich sehe gut aus!«
Vorbei. Ich sah ein, dass mich das nicht auszeichnete, in einer Welt in der alle Gitarre, gut Gitarre spielen können, gut aussehen. Vielleicht sollte ich mich etwas sportlich betätigen.

Jeden Abend im Schwimmbad. Das Zentrum lag entlegen an auf einem freien Feld, umgeben von ein paar gekrümmten Bäumen. Irgendwie zog es mich immer nachts an. Die meisten Nächte waren zu dieser Zeit klar und mit freier Sicht auf die Himmelskörper. Schwimmen schien sich in dieser Zeit keiner besonders großen Popularität zu erfreuen. Der große Wasserbasal war beinahe leergefegt. Eine Handvoll Menschen zogen mechanisch ihre Bahnen. Das Wasser wirkte kalt und maritim, beleuchtet von matten Bullaugen, die im Beckenrand eingelassen waren. Gleichbleibend im 15 min. Takt legte ich eine Distanz von 600 m. zurück. Mit jeder fortschreitenden Viertelstundeneinheit verringerte sich die Zahl der Schwimmer. Um 22:30 Uhr waren meist nur noch zwei, drei im Wasser. Ich stieg aus dem Becken und bewegte mich auf die Wasserrutsche zu. Diese glich einer schwarzen Röhre. Dunkel wie die Nacht führte sie in einen schmalen Beckenstreifen im Keller des Schwimmbads. Ein kurzer gewundener Treppenaufsatz führte erneut in die Haupthalle der Badeanstalt. Ich rutschte, sooft rutschte ich.
Es wurde ein Ritus, der mit meinem Bahnenziehen in fester Symbiose einherging. Ich schlitterte durch die Wölbungen und Kanäle. Es war schwarz – nur Schemen, Silhouetten, dunkle Geister. Ich schloss die Augen und wünschte mir eine Sonnenbrille.
»Augen verraten zu viel.«
Es war ihre Stimme. Dann ein Lachen. Mit mulmigen Gefühl platschte ich in das ruhige Becken am Ende der Rutsche. Ich eilte die Treppe hinauf um wieder unter Leute zu kommen, doch das große Becken war leer. Obwohl mir die Rutschfahrt keine besondere Freude bereitet hatte, wiederholte ich das Prozedere viele Male. In den Duschen war ich alleine. Beim Verlassen des Schwimmbades begegnete ich auch keiner Menschenseele mehr, weder auf den Gängen noch am Eingangsportal. Da war nur der Kassenautomat.
»Auf Wiedersehen«, blinkte es auf dem grünlichen Display.

Ich wusste nicht, was ich den ganzen Tag tat. Besser gesagt, es war nichtig, ich konnte mich nicht daran erinnern. Auch wusste ich nicht, was vor einer Woche, vor zwei, vier, fünf, vor einem, vor zehn Jahren war. Ich schaute immer wieder auf meine Geburtsurkunde, konnte nicht glauben, was ich las – 22.02.2022. Mein Geburtsdatum. Es war ein anderer Mensch, aber da stand mein Name. Ich konnte mich nicht erinnern, an irgendwas von meiner Jugend; konnte mich nicht daran erinnern, dass ich damals schon Gitarre, gut Gitarre spielen konnte, gut aussah und wie seit neuestem mich sportlich betätigte.
Einzig und allein eine Autofahrt, durch eine sternlose Nacht, mit einer Frau mit Sonnenbrille, schien in irgendeiner Weise relevant und weckte bruchstückhafte Erinnerungen.

»Sie leiden weder an Alzheimer noch an Amnesie. Nehmen sie es nicht so schwer, suchen sie sich einen neuen Job aus, das Landesorchester sucht Gitarristen. Nicht, das heutzutage nicht jeder Gitarre spielen könnte, doch es ist auch einmal angenehm die Füße hochzulegen und den anderen beim Spielen zuzusehen.«

Wir hatten vorstellungsfrei und ich ging in das gigantische Einkaufszentrum meiner Heimatstadt und klaute eine Schachtel Zigaretten. Ich hätte sie mir auch kaufen können. Das Orchester bezahlte gut. Doch ich war sehr geschickt im Klauen und mir war nach etwas Abwechslung zumute, nachdem meine vorherige glorreiche Idee auf ganzer Linie versagte. Ich schnitt mir mit einer Klinge den großen Zeh ab. Es tat nicht einmal richtig weh, dabei dachte ich, Schmerz sei ein Indikator dafür, dass man lebe. Der behandelnde Arzt fragte mich nur, ob ich den Schwachsinn absichtlich getan hätte. Er war sehr diskret und legte mir ans Herz, dass man sich ab und zu etwas gönnen musste. Er verschrieb mir eine hohe Dosis Barbiturate. Ich gönnte mir einen adretten Sportwagen und kippte die Medikamente in das Abflussrohr. Wieso High werden, hält doch sowieso nur ein paar Stunden an.

Ich rauchte die geklaute Schachtel Zigaretten auf dem Dach einer alten Ziegelei. Sie war das Industriewahrzeichen, des vergangenen Jahrhunderts. Mit Zigarette für Zigarette torpedierte ich meine Lungenflügel. Nicht das mir das Rauchen schmeckte, ganz im Gegenteil, ich sah noch nie einen Sinn darin. Vor Augen sah ich schon meinen Arzt, wie er mir ein Lungenkarzinom attestierte.
»Das macht aber nichts, Monsieur. Nach der Strahlentherapie sind sie wieder fit, wie ein Sportschuh. Bewegen sie sich an der frischen Luft, der Sauerstoff wird ihre Lungen versorgen und bringt sie auf andere Gedanken. Vielleicht trainieren sie und gehen dann zur Olympiade, haben ja die Lungengröße eines breitmauligen Ackergauls. Nicht, dass das nicht alle hätten, doch man schaut durchaus gerne, den anderen hin und wieder bei der körperlichen Betätigung zu, während man selbst die Füße hochlegt.«

Die schrillen Alarmglocken der Behörden unterbrachen meine Überlegungen.
»Monsieur, Sie haben eine Verkaufseinheit Tabakwaren gestohlen, die Videoaufzeichnung belegt ihre Tat.
Die Anzeige der Justiz wird in den nächsten Tagen eintreffen. Weisen Sie sich aus?«
Ich tat wie geheißen und doch hatte ich große Sorge vor den Auswirkungen. Die neue Regierung ahndete auch nur das kleinste Vergehen mit der härtesten zur Verfügung stehenden Gewalt des Rechtsstaates. Im schlimmsten Falle schickten sie mich noch in eine der zahlreichen Anpassungsanstalten. Im Auto drehte ich den Zündschlüssel um.

»Sie sollten sich nicht versuchen umzubringen und es nach einem Unfall aussehen zu lassen. Es wird nicht gerne gesehen.«

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