Was bisher geschah: In der dreizehnten Folge habe ich Kommissar Wengath auf dem Fußboden seines Wohnzimmers sitzen lassen, neben sich eine frisch geöffnete Flasche Wein, vor ihm seine Kollegin Marcks, damit beschäftigt, einen Rokokoschrank ausgiebig zu bewundern. Wengath, zermürbt und von Rückenschmerzen geplagt, hat den Abend mit Lene Marcks im Theater verbracht, dort eine Protestaktion von der Polizei ruinierter Künstlerinnen mit ansehen dürfen und außerdem etwas Neues über den Verbleib von Affenkostümen erfahren. Diejenigen nämlich, in denen die von ihm gesuchten, sich S.A.F. nennenden Grabschänder die Wecker für die Zeitzünder ihrer Sprengsätze besorgt hatten. Am Vormittag war sein Versuch gescheitert, mit dem Gerichtsmediziner Dr. Siechner über ein Projektil zu sprechen, das Aufklärung über den Tathergang bei der mutmaßlichen Ermordung eines Berliner Polizisten bringen könnte. Zwei Wachmänner hatten die Kontaktaufnahme unterbunden. Alles schlimm. Aber noch schlimmer ist, was Lene Marcks jetzt zu ihm sagt:
Vielleicht gehen Sie besser ins Bett.
Tiefschlag, sie wollte doch nicht etwa fort! Das Nickikleidkissen mitsamt seiner weichen Füllung, das musste hier bleiben, sein Nasenheil, sein Magenheil, sein guter Schlaf, sie hingen davon ab. Er musste sich sehr zusammennehmen für die Frage:
Und Sie?
Breites Lachen, der Schrank verschwand dahinter:
Na, ich setz mich daneben, ganz Krankenschwester. Meinen Sie, ich lass mir den Wein entgehen?
Im Ernst?
Er benahm sich wahrhaftig ausweglos ganz dumm fünfzehnjährig: Im Ernst! So kindlich-niedlich hatte er bestimmt noch keine gefragt, ob sie wirklich und bittebitte bleiben wolle. Aber jetzt ging sie vor ihm in die Hocke – mein Lieber Guter, die war elastischer als er! Das knackte nicht mal – : Langes Anschauen. Der Kopffüßler mit den Ellbogenbeinen stand leicht schräg auf den durch die Strumpfhose schimmernden Knien:
Im Ernst.
Leider, er musste irgendwie weiter Konversation machen, trotz dieses wunderhübschen Augenblicks. Wo der doch ohnehin gleich wieder zerstört war, sobald er sich steif und ungeschickt auf alle Viere rollte. Und ab! Es half ja nichts:
Haben Sie eigentlich verstanden, was dieser Karl Ludwig Sand für einer war?
Sie rettete reaktionsschnell die Weinflasche: Gut, die Frau! Wusste, worauf es ankam.
Keine Ahnung. Da müssen Sie ins Lexikon gucken.
Also schön, würde er das nachgucken. Mit den Auskünften des Langbeins war nämlich nicht viel anzufangen gewesen. Pure poetische Exaltation: Einer der erfolgreichsten deutschen Dramatiker aller Zeiten habe ihm, dem Sand nämlich, schließlich mit blutendem Herzen zu Füßen gelegen. Als Kriminalist würde er aus dieser Beschreibung höchstens folgern, Sand habe jenen Dramatiker über den Haufen geschossen. Wieder ein Beispiel dafür, wie sehr literarische und kriminalistische Fantasie einander ausschlossen. Kriminalisten wie er nahmen das Meiste, was Literaten vorbrachten, immer eine Spur zu wörtlich. Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten – und statt an auftauchende Erinnerungen konnte Wengath an nichts Anderes denken als an ein entstehendes Sicherheitsproblem. Und dass die romantischen, stets brechenden, zerspringenden oder zerreißenden Herzen in der moderneren Literatur tendenziell durch berstende Schädel und verätztes Gedärm verdrängt worden waren, ließ ihn höchstens auf gewandelte Vergiftungsmethoden schließen. Es war aber auch Schuld der Autoren, wenn er sie nicht besser verstand: Sollten sie sich, anstatt nach alles und nichts sagenden Bildern für Gefühle zu suchen, bitteschön einmal um das kümmern, was einer vor Augen hatte. Hätte er bloß irgendwo einmal gelesen, dass so ein Rokokoschrank, allein von dem her wie er aussah, sich sofort und ohne jede Rücksicht auf die Frau stürzen musste, die einer gut fand: Verheizt hätte er das unverschämte Möbelstück schon längst.
Er hatte sich hochgezogen, stand zwischen Tisch und dem Stuhl, den Handrücken im schmerzenden Kreuz. Er presste die Lider aufeinander, was nur halb gegen sein Aufstöhnen half, hörte die Weinflasche auf dem Tisch aufsetzen, wankte, wurde gehalten:
-!-?:-!!!
Ihre Augen standen vor seinen, fein gefurchte Haut drumherum, das Blau im Schwarz der Pupillen verschwunden bis auf einen Schimmer wie bei Samt. Und gleichzeitig schob sich etwas seinen Leib hinauf, von unten, Beinfleisch drückte an sein Beinfleisch, Hüfte an seine Hüfte, ein Schoß presste an seinen, Bauch spürte er am Bauch, Brüste links und rechts auf seiner Brust – oder das kam ihm nur so vor, weil er wusste, wie eine Frau aussah – zwei weiche Arme schlossen fest um seinen Nacken und dann verschwand sein Gesicht in knisterndem Haar. Theatermuff hing da noch drin, Duft von Schampu und der Geruch der Haut. Seine eigene Gier erwachte ihm in der Nase, die Schlafnase, die ins Kissen wollte, und sie bohrte sich vor bis an den Frauenhals. Die große Müdigkeit, die er seit dem Besuch bei Dr. Siechner heute Vormittag mit sich schleppte, legte sich schwer auf seine steifbeinernen Glieder: Er hatte sie so gut wie im Bett (sie = die Müdigkeit? die Frau? – Nicht mehr denken jetzt.) Und sein Schwanz reckte sich und mischte die Schlaflust mit seinem nervösen Kitzel auf. Aber sollte Meister Iste machen, was ihm beliebte, solange es traumkompatibel blieb:
Legen wir uns bloß hin!
Sie entließ seinen Nacken aus ihren Armbeugen, stand vor ihm, ohne die Umarmung ganz zu lösen:
Und ich dachte, ich schaffe es schon vorher bis zum Kuss.
Offensichtlich gehörte neben den Dienstjahren auf dem Buckel auch der Bauchumfang zu den Qualifikationsmerkmalen eines Kontaktbereichsbeamten. Unter seiner grünen Jacke schaukelte Sigbert Dubbke jedenfalls den gleichen Medizinball auf den gleichen sandfarbenen dünnen Hosenbeinen, wie der tote Dellmann das getan hatte. Die Wache in der Danziger roch nach Männerstall, altem Angstschweiß, feuchten Kleidern und löslichem Kaffee: Wie jede Wache. Aber wenn Wengath die Augen schloss, sah er Sommersprossen, Leberflecke, Hautfalten. Dubbke war ihm einen Pulverkaffee holen gegangen. Und die Akte mit dem Vorgang, wie er das nannte. Zwei dunkle Kegel, noppig und fest, schwammen leicht eingesunken in der Haut wie auf flüssigem Pudding: Kannst sie links und rechts von mir aufsammeln: Du! Und Geküss: Na, du hast vielleicht Humor. Und beim Kichern näher aneinander kriechen: – – ! ! ! Schon schwangen sie über ihn hin, nippelstriffen ihn ab, schlanke Amphoren, schlauchdünn und weiß mit braunen Sprenkeln oben, bauchiger und mit einer roten narbigen Spitze am Boden.
Ja, ich erinnere mich, wenn ich das hier wieder lese.
Allmächtiger! Dellmann, Quatsch: Dubbke! Und der schob ihm einen Kaffee hin Wie kam der dazu? Achjarichtich.
Der schwarze Mann von der Dunckerstraße Nummer zwölf. Ersparen Sie mir den Namen, kann ich nicht, ist unaussprechbar.
Und wackelte lange mit seinem oberen Ball: Dass es Weltgegenden geben durfte, wo die Leute nicht so einfach und anständig Sigbert Dubbke heißen konnten wie er. Dann dickes Hackfingern auf dem Blatt vor ihm: Er pickte sich wohl wichtige Punkte heraus. Oder brauchte den Zeigefinger, um sich beim Lesen nicht zu verlieren.:
Viel kann ich Ihnen dazu nicht sagen, Herr Wengath, das ist nur begrenzt unsere Zuständigkeit. Wir gehen dem natürlich nach, wenn wir in einem unserer Häuser einen dieser Brüder verschwinden sehen. Aber mehr als Meldung machen, können wir nicht, das geht an die Ausländerpolizei, die müssen das dann kontrollieren. Höchstens mal im Rahmen der Amtshilfe, das kommt schon vor, dass die einen Überraschungsbesuch machen wollen und uns bitten, Bescheid zu geben, wann die Kerle zu Hause sind.
Na, das war vielleicht ein Hallo-wach. Und wie konnte man überhaupt so viel Sommersprossen auf der Innenseite seiner Lider haben. Aber das ging vermutlich vorbei, er musste sich den auf der anderen Seite des Tisches nur mal ansehen. Durch den Dampf des Pulverkaffees, dass er nicht gleich zu real wirkte. Und dann gib ihm Kante, aber geschliffen:
Und der besagte Herr, dessen Namen wir lieber nicht aussprechen wollen, besaß die Frechheit, schwarz wie er war, ausgerechnet in einem Ihrer Häuser zu verschwinden?
Na, meins isses nich, aber in meinem Zuständigkeitsbereich.
Und der obere Ball baumelte leicht abgeknickt über dem unteren, trotzig-beleidigt. Bingo. Also konnte er den Kaffee absetzen und den Notizblock herausholen. Dubbke würde später erzählen, wie arrogant und unkollegial die von der Kripo immer waren. Aber er würde nicht versuchen, mit seinem Gerede bei ihm anzukumpeln. Und er durfte die Augen nicht wieder zumachen. Gerade floss rötliches Haar hinter ihnen aus. Und er wollte es gleich absuchen, nach den rauen Mengen grauen und weißen. Also, jetzma: Disziplin:
Wann war das genau? Und was hat die Überprüfung ergeben?
Erfolglos. Der war da gemeldet. Die Wohnung hatte die sogenannte Verlobte angemietet, im Juni neunzehn dreiundneunzig. Einen Monat später, genau neunzehnter Juli, hab ich Mitteilung an die Ausländerpolizei gemacht. Er ging aber als Lebensgefährte durch. Später hat sie ihn auch noch geheiratet.
Durch was ging er, durch die Lappen?
Kein Kommentar, Dubbke mümmelte stoisch weiter seinen Bericht ab, ganz nach Aktenlage:
Ich bin dann nur noch ein paar mal aktiv geworden, wie gesagt im Rahmen der Amtshilfe, Verdacht auf Scheinehe, Routineangelegenheit bei so was.
Aktiv geworden? Wie?
An der Wohnungstür geklingelt, um zu sehen, wer zu Haus ist. Seit bestimmt zwei Jahren aber nicht mehr.
Und warum nicht mehr?
Ein resignierter Seufzer aus der Tiefe des Medizinballs:
Kam Mitteilung auf ausgeräumten Verdacht. Kind. Wenns so weit kommt, sind uns ja die Hände vorläufig so ziemlich gebunden.
Ein Schutzmann auf der Höhe seiner Zeit: Vorläufig so ziemlich! Aber war ja immer interessant, was die Ausländerbehörden gegen nichtdeutsche eheliche Väter deutscher Kinder in den vorläufig so ziemlich gebundenen Hinterhänden behielten:
Ab wie viel Kindern erlischt denn der Verdacht, nur eine Scheinfamilie zu haben?
Dubbke musterte ihn ab: Was weißt denn du schon von den wirklichen Problemen, die wir hier haben? Und klappte seinen Aktendeckel zu über dem Vorgang:
Um genau zu sein, die sind bei der letzten Überprüfung in die Hausgeburt reingeplatzt, danach haben sie sich wohl nicht mehr getraut.
Und hob gleich abwehrend die Hände:
An mir lag die Panne aber nicht. Ich hatte denen gesagt, dass die Frau schwanger aussah!
Aber eben nur aussah. Und wohin sollte der Vollzug einer Scheinehe schon führen, wenn nicht in eine Scheinschwangerschaft? Niemand konnte den überprüfenden Instanzen vorwerfen, dass sie ihre Aufgaben nicht ernst nahmen. Aber das musste man sich einmal vorstellen! – : Schummrige Beleuchtung, João kniet hinter Monika, weiß nicht, was er denken soll: Warum musste sie sich denn nackt ausziehen? Blutig werden können die Sachen doch nur untenherum und mit einem Tieschört obenrum würde er mit seinen Unterarmen weniger an ihrer Haut zerren. Aber die Hebamme hatte gesagt. Jetzt schreit Monika wieder, er hält sie fest, die Hebamme redet etwas wie: Du willst, dass dieses Baby rauskommt, press, press, press! Monika stöhnt auf und plötzlich klebt Joãos Hose ihm warm am Bein. Die Fruchtblase, sagt die Hebamme und ist froh. Nach Mensch riecht das, denkt João, Gottseidank nicht schlimm. Da klingelt es an der Tür. Jemand sticht wütend mit dem Finger auf den Klingelknopf ein, das Schrillen der Klingel tanzt ihnen um die Ohren. Aber die Hebamme bleibt gelassen, sagt: Nachbarn. Immer dasselbe. Weiß keiner mehr, wie sich eine Gebärende anhört. Und geht zur Tür. Ist Monika also eine Gebärende, denkt João. Grad jetzt atmet sie eigentlich wieder normaler. Klingt wie ein Nachname: Gebehrende. Sein Kind soll Elisa heißen, oder Peter, auf portugiesisch, sie will ein Mädchen, er einen Jungen, passt dann der Nachname überhaupt noch? Und er streichelt ihr schweißnasses Haar. Aber was machen die denn da an der Tür? Die Hebamme spricht gehetzt, fleht leise bittedaskönnensiedochnichttun!!! Ein paar hingeblaffte Brocken die Antwort: Solange wir hier sind, gibs wenigstens keine Klitorisbeschneidung. Aber ist doch auch wahr!, dann Schritte. Und sie stehen vor João: Mitte dreißig, Brille, Parka beide, Frau und Mann. Die Frau hält die wimmernde Hebamme im Klammergriff, der Mann schiebt seine schwarze Schuhspitze bis an die Pfütze Fruchtwasser heran, durchbohrt mit dem Kugelschreiber die Luft vor Monikas Bauch und fragt, Nasenruck nach oben: Das Kind da drin, von wem haben Sie das denn schon wieder?
Noch was?
Dubbke warf einen Blick in Wengaths Plastikbecher zwischen dessen Fingern, ob der leer war und mitsamt dem Besucher aus dem Büro zu schaffen. Wengath schob ihm den Becher hin:
Mutter und Kind haben den Besuch ohne Schaden überstanden?
Über so was werden wir nicht informiert.
Dubbke stand schon mit Akte und Mütze vor ihm, trat von einem Stöckelbein aufs andere. Der Medizinball drohte aus der Balance zu kommen, unten aus der Jacke hervorzurollen und zu Boden zu fallen, so voll Vorwärtsdrang schob es in seiner Mitte zur Tür hin. Stand Wengath also auch auf:
Dann sagen Sie mir noch schnell, wie ich von hier in die Lychener finde.
Lychener?
Jetzt fiel der Medizinball nach kurzem Wackeln hinten aus der Jacke, riss Dubbke zurück in den Stuhl, sein Kopf hing einen Moment ganz fassungslos in der Luft:
Wieso Lychener?
Lychener sieben, zu Familie Dellmann-Nwgabe, Vater, Mutter, Kind und hoffentlich alle gesund und munter.
Aber wir reden doch gar nicht über den in der Lychener, es ging doch um den in der Duncker!
Er schob ihm den Ordner über den Tisch: Mbale, Jean / Neubert, Christine, Dunckerstraße 12:
Haben Sie doch selbst gesagt: Dschang Mmmbaale!
Und als Wengath bedächtig bedauernd den Kopf schüttelte, zischte es aus ihm heraus (Die Bälle fielen nach innen ein, der oben und der unten):
Ach, die heißen doch alle gleich, die Affen! Was habt ihr euch so mit denen? Wenn ihr sie wollt, dann steckt sie doch alle rein in euer Westberlin. Bauen wir die Mauer wieder auf, zehn Meter höher und zuscheißen das Loch!